Quelle
Chemnitz und der Krieg. 1866
[…]
Es war Ende August 1865 morgens in der Früh, als wir vor den Toren der großen Fabrikstadt Chemnitz anlangten. Von der Stadt selbst konnten wir in einer Entfernung von einer Viertelstunde nichts entdecken, sie war vollständig in einen dichten Schleier von Rauch und Ruß gehüllt. So etwas war uns allen noch nicht vorgekommen, wie schwarzer Schnee rieselten die Flocken des Rußes der zahlreichen Fabrikschornsteine auf uns nieder. Bei stiller schwüler Luft sammeln sich diese schwarzen Schlotauswürfe zu einer dichten Wolke und rieseln dann zur Erde hernieder.
Von August bis nach Weihnachten war früher in unserm Beruf das stärkste Angebot von Arbeit vorhanden. So erhielten wir in der Lampenfabrik von R. Wagner in Chemnitz sofort Arbeit und wurden zugleich mit noch 25 anderen Klempnern eingestellt. In dieser Lampenfabrik gedachte ich mich besonders in der Lampenfabrikation auszubilden, um späterhin vielleicht, wenn ich Glück hätte, entweder selber in der Heimat ein solches Geschäft etablieren zu können, oder um einmal in einer ähnlichen Metallwaren-Fabrik als tüchtiger Werkmeister fungieren zu können. Leider waren der [sic] Luftschlösser.
Mein Bestreben, meine Kenntnisse in meinem Berufe zu erweitern und zu vervollkommnen, haben nur den Zweck gehabt, sie im Dienst anderer zu verwerten, ohne daß ich selber je Anerkennung gefunden hätte.
In dieser Lampenfabrik wurden nahezu hundert Klempner und Metallarbeiter beschäftigt.
Die ersten 14 Tage wurde in Lohn gearbeitet, der Mindestlohn bei 12-stündiger Arbeitszeit betrug 5 Taler die Woche; wer diesen Lohn nicht wirklich verdient hatte, wurde nach Ablauf der 14 Tage sofort wieder entlassen; so waren die Einstellungsbedingungen. Als wir nach Ablauf dieser Frist mit etwa 30 Klempnern zum Lohnempfang erschienen, war außer dem Werkführer auch unser Chef, Herr Wagner, selber zugegen. Er hatte die Arbeitsbücher eingesehen, in denen unser Arbeitspensum verzeichnet war, und traf danach seine Auswahl. Etwa 8-10 Kollegen wurden als nicht qualifiziert entlassen, ich zählte also zu den „Auserwählten“; wir erhielten außer den 5 Talern noch 15 Neugroschen extra für jede Woche als Anerkennung unseres Fleißes. Von Stund an hieß es nun alles in Akkord machen; wir haben uns tapfer gehalten, ein gutes Stück Geld verdient und erspart, so daß ich mich zunächst einmal ordentlich in „Kluft“ setzen konnte, mir noch ein paar Taler Reisegeld zurücklegen und zu Weihnachten meinen Eltern, die es bedürftig waren, noch 5 Taler nach Hause schicken konnte. So hatte ich mir vorgenommen in dieser Fabrik länger zu arbeiten, um ein schönes Stück Geld für die Zukunft zu ersparen; aber „Der Mensch denkt, Gott lenkt.“ Es kam der Krieg 1866. Da Sachsen nicht mit Preußen gegen Österreich kämpfen wollte, sondern sich mit Bayern und Österreich gegen Preußen verband, kam Sachsen bald in Feindeshand. In Dresden wurde das preußische Hauptquartier aufgeschlagen.
Es war im Juni, der Krieg hatte schon seine Opfer gefordert. Überall spürte man seine traurige Wirkung, besonders aber in Sachsen und Bayern. Handel und Industrie lagen brach, Tausende von Menschen wurden brotlos; Hunderte von ehrlichen Handwerksgesellen wanderten nach der freien Schweiz, um hier Arbeit zu finden, aber auch diese war bald mit Fremden überfüllt; zahlreich kehrten dieselben zurück oder wurden über die Grenze gebracht. So konnte es nicht fehlen, daß die Landstraße von Handwerksburschen jeglichen Berufs wimmelte, die in der Tat zur Landplage wurden. Chemnitz, eine der großen Fabrikstädte Deutschlands, mochte zu meiner Zeit etwa 80.000 Einwohner zählen. Hiervon waren mindestens 6.000 Fabrikarbeiter; denn allein die vielen Spinnereien, Webereien und Tuchfabriken beschäftigten über 3.000 Personen. Dann die verschiedenen Maschinenfabriken mit mindestens ebensoviel Personal, allein die R. Hartmann’sche Maschinenfabrik beschäftigte nahezu 2.000 Personen. Diese großen Industrien fanden ihr Absatzgebiet meist in Österreich und den östlichen Provinzen Preußens, nach Posen, bis an die russische Grenze, nach Ungarn und Galizien. Diese Absatzgebiete waren nun überallhin verschlossen. So entstand in Sachsen, besonders auch in Chemnitz, ein Wirrwarr, der nahezu an Revolution grenzte. Zu Hunderten wurden die Arbeiter entlassen. Wäre dieser Krieg im Winter ausgebrochen, dann hätte ich mir die Not und das Elend im Deutschen Vaterlande nicht denken mögen. Zudem war der Haß der Sachsen und Bayern auf Preußen und alles, was mit diesem verbündet war, aufs höchste gestiegen, so daß man als Fremder (Mußpreuße) stets den Anfeindungen gedankenloser Fanatiker ausgesetzt war.
Eines Tages kam vom Magistrat der Befehl: „Alle Fremden, die nicht verheiratet sind und das Bürgertum nicht besitzen, müssen innerhalb 48 Stunden Chemnitz verlassen, widrigenfalls sie über die Grenze spediert werden.“ In unserer Lampenfabrik waren gleich bei Beginn des Krieges eine Anzahl Leute, die sich nicht genügend eingearbeitet hatten, entlassen. Einen Stamm der jüngeren Gesellen jedoch, die gut prosperierten, wollte sich Herr Wagner gerne erhalten. Zu diesen zählte auch ich. Die verheirateten Gesellen wurden vorläufig noch voll beschäftigt, während wir Jüngeren bis auf weiteres nur halbe Tage arbeiten konnten; denn man hoffte zuversichtlich, daß der Krieg sich bald entscheiden mußte, und dann gab es wieder Arbeit vollauf. So gab es für uns eine bummelige Zeit, die halben Tage verbrachten wir im Tumult und Wirrwarr der Arbeitslosen; unsere Ersparnisse schmolzen merklich zusammen. Dies dauerte etwa 14 Tage, bis der Befehl kam: „Alle Fremden müssen Chemnitz verlassen.“ In diesen 14 Tagen habe ich viele interessante Abenteuer erlebt. Ich war jung, kräftig und für alles interessiert, was der Krieg und seine Folgen zeitigte. So machte ich den Rummel mit. Wie gesagt, ganz Sachsen war im Kriegszustand. Täglich hieß es in Chemnitz: „Die Preußen kommen, sie wollen unsere Stadt beschießen“. Den halben Tag bis tief in die Nacht hinein wogte die Masse der Arbeiter zu den Toren der Stadt hinaus, diese höchstaufgeregte Menge war mit Knütteln und Steinen bewaffnet; damit wollten sie die Preußen empfangen, sobald sie es wagen sollten in die Stadt einzurücken. So ging es täglich, so hatte sich die Wut der Massen bis zum Wahnsinn gesteigert. Sachsen war von allem Militär entblößt. Preußen aber mußte seine Kriegsmacht an vier oder fünf Punkten konzentrieren und hätte einen eventuellen Aufruhr in Sachsen kaum zu dämpfen vermocht. […]
Allabendlich war auf dem geräumigen Marktplatze großes Sammeln der aufrührerischen Menge. Hier wurden flammende Reden gehalten, oft kam es zu tumultuarischen Szenen. Da auch nicht ein einziger sächsischer Soldat im Lande verblieben und das Aufgebot von Gendarmen und Schutzleuten der aufgeregten Menge gegenüber machtlos war, so mußte durch eindringliche Reden und freundliche Ermahnungen seitens des Bürgermeisters und der reichen Fabrikherren die erregte Volksmenge beruhigt werden, was auch zum Teil gelang.
Quelle: Christian Mengers, Aus den letzten Tagen der Zunft. Erinnerungen eines alten Handwerkers aus seinen Wanderjahren. Leipzig: Otto Wigand Verlag, 1910, S. 59–64; abgedruckt in Wolfgang Emmerich, Hrsg., Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland, 2 Bde., Bd. 1, Anfänge bis 1914. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1974, S. 115–17.