Kurzbeschreibung

Die Zigarrenarbeiter gehörten zu den ersten Deutschen, die ein politisches Bewusstsein entwickelten und politisch aktiv wurden. Die Kindheitserinnerungen von Julius Bruhns (1860–1927) helfen uns zu verstehen, warum das so war. Bruhns war der älteste Sohn eines Zigarrenmachers und hatte bereits im Alter von fünf Jahren begonnen, seinem Vater zu helfen. 1877 wurde er zum Agitator für die Sozialdemokraten. 1880 wurde er aus Hamburg vertrieben und ließ sich ein Jahr später in Bremen nieder. Dort war er Herausgeber und Redakteur der Bremer Bürgerzeitung, der örtlichen SPD-Parteizeitung. Kurz nachdem er sich mit einem Tabakgeschäft selbstständig gemacht hatte, saß er auch kurzzeitig im Reichstag (1890–93). In diesem Auszug erfahren wir, dass das Vorlesen am Arbeitsplatz typisch war, was auch in vielen anderen Arbeiterbiografien aus den Anfangsjahren der deutschen Arbeiterbewegung zu finden ist.

Julius Bruhns, Kinderjahre eines Zigarrenarbeiters (1868–70)

Quelle

Daß ich vor mehr als einem halben Jahrhundert schon, ein zehnjähriger Knabe, begeisterter Sozialdemokrat wurde, wird manchem ein Lächeln entlocken über das sozialdemokratische „Wunderkind“. Und doch war gar kein Wunder dabei, es erklärte sich einfach aus den Lebensverhältnissen, unter denen ich aufwuchs und von welchen ich hier erzählen will. []

Mein Vater war Zigarrenmacher in Altona. Leider war er in seinem Gewerbe nicht tüchtig, aber auch nicht imstande, ein anderes zu ergreifen. Daran hinderte ihn sein schweres körperliches Leiden. Den schleswig-holsteinischen Befreiungskrieg 1848-49 hatte auch mein Vater als junger Mann von 25 Jahren mitgemacht. Die Kriegsstrapazen, besonders das Lagern auf nassem, kaltem Boden, hatten ihm eine schwere Krankheit und als Nachwirkung eine dauernde Lähmung der linken Körperseite gebracht. []

Mein Vater hatte noch mehrere Jahre petitionieren müssen, ehe er, der keine im Kriege erlittene Verwundungen und dadurch verursachte Invalidität nachweisen konnte, eine Pension erlangte, die dann die erstaunliche Höhe von zwei und einem halben preußischen Taler pro Monat erreichte. Immerhin bekam er diese Pension nun für fünf Jahre (statt für 20 Jahre!) nachbezahlt, hundertundfünfzig bare blanke Taler, ein Ereignis, das in unserem Hause große Freude hervorrief und mir heute noch – ich war damals neun Jahre alt – lebhaft in der Erinnerung ist.

War doch Schmalhans immer Küchenmeister in unserer ärmlichen Behausung. Vater und Mutter, die beide erst in reiferen Jahren in den Ehestand getreten waren, hatten schwer zu kämpfen, um sich und ihre drei Kleinen durchzubringen, von welchen ich, der Älteste, am 15. August 1860, zwei Schwestern 1862 und 1865 geboren waren. Mein Vater war „Hausarbeiter“, d.h. er holte sich von einem Fabrikanten den Rohtabak und machte daraus zu Hause Zigarren. Da er selbst infolge seiner Lähmung sehr langsam war, brachte er täglich nur wenig Zigarren fertig. Er nahm daher mehrere Gehilfen an, die ihm die Zigarren machten, während er sich darauf beschränkte, das Rohmaterial zuzurichten. Das brachte allerdings etwas mehr, aber immer noch so wenig, daß meine Mutter gezwungen war, ebenfalls auf Erwerb auszugehen. Sie wusch und plättete für die Bekannten und Kollegen meines Vaters und stand, wenn ihre Arbeitskraft nicht vom Hausstand und der Pflege ihrer drei Kinder in Anspruch genommen war, vom ersten bis zum letzten Tag der Woche, von früh bis spät am Waschfaß oder am Bügelbrett. Trotzdem gelang es nur schwer, das zum Leben Notwendigste zu erringen, und oft mußten wir Kinder trockenes Brot essen, wenn es nicht möglich geworden war, noch ein paar Pfennige für Schweineschmalz oder Syrup aufzuwenden.

Solche Entbehrungen trägt ein harmlos fröhliches Kindergemüt gar leicht. Viel schlimmer war es, daß ich gar bald all die bitteren Leiden kennenlernen mußte, die die fluchwürdige „Heimarbeit“ den davon betroffenen Proletarierkindern zu bescheren pflegt. Wohl gibt es auch heute noch Leute genug, die aus „sittlichen und pädagogischen Gründen“ eine möglichst frühzeitige gewerbliche Beschäftigung der Kinder – natürlich nur der Arbeiterkinder! – wünschen. Manche Leute schwärmen gar beim Anblick einer Familie, die, alt und jung, in einem engen Stübchen „traulich“ vereint, fleißig bei der Arbeit ist und die Früchte vereinter Anstrengung in Gestalt hübscher Waren werden und wachsen sieht. Es sieht freilich anders aus, wenn man in diesem reizenden Familienbilde selbst eine Rolle mitspielt. Das habe ich gar bitter erfahren. Ich war noch nicht fünf Jahre alt, da mußte ich schon in der Arbeitsstube meines Vaters fleißig mit zugreifen. Tag für Tag mußte ich Tabak zurichten, d.h. mit den kleinen Fingern die feuchten zusammengefalteten Tabakblätter auseinanderbreiten, die dickeren Stengel entfernen und Blatt auf Blatt legen. Und das mußte bald rasch gehen, denn die Zigarrenmacher warteten auf den so hergerichteten Tabak und spornten mich durch Zurufe oft auch durch Scheltworte zu größerer Eile an. Der Mutter blutete wohl das Herz, wenn sie ihren Liebling so gequält sah, aber was wollte sie tun? So habe ich den größten Teil der „goldenen Jugendzeit“ in den staubigen, dunstigen Räumen der Zigarrenfabrik verbringen müssen, immer zwischen Erwachsenen lebend und schaffend, während meine glücklicheren Jugendgenossen sich draußen im hellen Sonnenschein auf Straßen und Plätzen tummelten.

Als ich zur Schule kam – ich war schon sieben Jahre alt –, wurden die wenigen freien Stunden, an welchen ich Kind sein, spielen durfte, noch knapper bemessen, denn nun nahm ja die Schule schon einen ganzen Teil meiner Arbeitszeit weg. Aber noch ein anderer Gegner meiner Tätigkeit in der Zigarrenmacherstube hatte sich, schon lange bevor ich Abc-Schütze wurde, eingestellt und nahm mich oft und immer öfter, sowohl zum Tabaktisch wie dann auch von der Schulbank fort: Krankheit! Ungenügende Nahrung, feuchte, ungesunde Wohnung und mangelnde Bewegung in frischer Luft hatten mich skrofulös gemacht. Eine – nicht die einzige, aber doch die häßlichste – Wirkung dieser jammervollen Proletarierkrankheit war eine immer wiederkehrende heftige Augenentzündung. []

Die Heimarbeit wie die häufige Augenkrankheit hielten mich von dem Verkehr mit Altersgenossen ganz fern. Ich kam nur selten zum Spielen mit andern Kindern, und wenn es geschah, dann war ich ihnen kein recht brauchbarer Genosse. Ich war schüchtern, fast scheu im Verkehr mit anderen Kindern. Ich lebte für mich, hatte mir in der Arbeitsstube, wo ich immer zwischen Erwachsenen saß, die sich mit mir nicht abgaben und meist Dinge redeten, deren Verständnis mir kleinem Knirps noch nicht voll aufging, und in meiner Krankheit eine eigene Welt geschaffen. Ja, eine ganze Welt für mich, zu der ich niemandem, auch der geliebten Mutter nicht, den Einlaß gestattete; eine Welt, die ich mit tausend phantastischen Gestalten bevölkerte, in der ich die wunderbarsten Dinge erlebte. []

Meine Gewandtheit im Lesen verschaffte mir aber bald eine andere, für meine frühzeitige Entwicklung bedeutsame Arbeit: ich mußte in der Arbeitsstube den Zigarrenmachern vorlesen. Und was? Sozialistische Schriften und Zeitungen! Damals, es war im Jahre 1868, war die sozialistische Bewegung noch in ihren Anfängen. In Hamburg-Altona allerdings hatte sie unter den Arbeitern schon viele Anhänger. Am stärksten verbreitet aber war die Bewegung unter den Zigarrenmachern, die lange Jahre hindurch in meiner Heimat die treibende Kraft und die Leitung der sozialdemokratischen Partei bildeten. Das hatte seine Ursache in den besonderen Arbeits- und Lebensverhältnissen der Zigarrenmacher.

In der Zigarrenindustrie blühte die Heimarbeit. Die Fabrikanten gaben das Rohmaterial den einzelnen Zigarrenmachern, Hausarbeiter genannt, mit nach Hause, sparten so eigene Arbeitsräume und deren Beleuchtung und Heizung, auch die Werkmeister usw., und konnten auch auf die Löhne viel besser drücken, als wenn sie selbst in großen Fabrikräumen hätten arbeiten lassen. Die „Hausarbeiter“ suchten sich selbst wieder Gehilfen, deren Zahl abhing von der Masse des Rohmaterials, das der Fabrikant hergegeben hatte, auch von der Größe der zur Verfügung stehenden Arbeitsräume usw. Im größten Stil betrieben die Hausarbeit naturgemäß nur wenige: die meisten hausten mit einem, höchstens zwei oder drei Gehilfen in den elendesten Löchern, in Dachstuben, auf Böden, in Kellerräumen oder, wie mein Vater, in alten, verfallenen, feuchten Buden. Wöchentlich einmal wurde gewöhnlich abgeliefert, auf einer zweirädrigen, schottischen Karre die fertige Ware zum Fabrikanten gefahren und neues Rohmaterial zurückgebracht. Der Fabrikant, der es nicht mit einer größeren Zahl bei ihm selbst beschäftigten Arbeiter zu tun hatte, die infolge des Zusammenarbeitens in enger Verbindung miteinander standen und geschlossen jeder Lohnkürzung oder Drangsalierung Widerstand leisten konnten, sondern mit lauter kleinen, voneinander abgesonderten, oft einander nicht einmal bekannten Hausgewerbetreibenden, spielte geschickt immer einen gegen den andern aus und verstand so, von jedem möglichst gute Ware für möglichst schlechten Lohn und aus möglichst schlecht zu verarbeitendem Rohmaterial zu erlangen.

Diese Zustände in der Zigarrenindustrie brachten für die Angehörigen derselben natürlich die denkbar schlechtesten Arbeitsverhältnisse, völlig unsichere, unkontrollierbare, immer mehr weichende Lohnsätze, bei ganz ungeregelter Arbeitszeit in denkbar schlechtesten und ungesundesten Arbeitsräumen. Von irgendeinem gesetzlichen Arbeitsschutz, wenn auch nur für Frauen und Kinder, war damals gar nicht die Rede. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend arbeiteten in den mit Staub und Rauch und Dunst erfüllten Räumen, die meist nicht nur zum Arbeiten, sondern auch zum Wohnen, Schlafen, Kochen usw. benutzt wurden, im bunten Durcheinander jung und alt, Männer, Frauen und Kinder. Daß sich gegen solche entwürdigenden Zustände besonders die besseren, die denkenden Elemente zu wehren suchten, ist selbstverständlich. Und so fielen denn Lassalles Lehren, niedergelegt in seinen herrlichen Agitationsschriften „Offenes Antwortschreiben“, „Arbeiterprogramm“, „Arbeiterlesebuch“ usw., bei vielen Hamburg-Altonaer Zigarrenmachern auf denkbar fruchtbarsten Boden. Von Mitte der sechziger Jahre ab wurden viele hunderte Zigarrenmacher Lassalleaner, sie wurden die Kerntruppe der später so starken und stolzen sozialdemokratischen Partei in Hamburg-Altona.

Die eigenartigen Arbeitsverhältnisse der Zigarrenmacher boten noch nach einer anderen Richtung hin besondere Gelegenheit zur Ausbreitung und Festigung der sozialdemokratischen Anschauungen. Hier zeigte sich gewissermaßen eine gute Seite jener sonst so bedauernswerten Verhältnisse. Hatten nämlich die Zigarrenmacher keine großen Fabriken mit hellen, gesunden Arbeitsräumen, geregelter Arbeitszeit und sicheren Löhnen, so hatten sie aber auch keine strengen Arbeitsordnungen, keine Aufpasser. Sie waren in gewissem Sinne frei, konnten in ihren Arbeitsstuben tun und reden, was sie wollten. Und von dieser Freiheit machten damals die Zigarrenmacher in meiner Heimatstadt ausgiebigen Gebrauch, begünstigt noch durch den Umstand, daß das Mechanische ihrer Hantierung ihrem Geist gewisse Bewegungsmöglichkeiten gab, die manch anderer Beruf seinen Angehörigen nicht bietet. Da wurde den ganzen Tag über debattiert und politisiert, gewiß viel Unsinn geredet, aber auch manch guter, gesunder Gedanke ausgesprochen. Und mancher tüchtige Führer der Sozialdemokratie hat den Grund zu seinem späteren Können gelegt in diesem eifrigen Disputieren über sozialistische Bestrebungen und Theorien mit seinen Kollegen in den Zigarrenmacherstuben.

Vor diesem Auditorium nun hatte ich vorzulesen: Lassallesche Schriften, den „Volksstaat“, den „Sozialdemokrat“, die Hasencleverschen „Sozialpolitischen Blätter“, die Reden der wenigen, noch dazu in zwei Fraktiönchen gespaltenen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten u.a.m. Und nachher, wenn ich wieder beim Tabakzurichten saß, hörte ich den Debatten zu, die sich an das Vorgelesene knüpften und oft sehr heftig waren. Die Sozialdemokratie trug damals noch den Charakter der Sekte, mit deren Vorzügen wie Nachteilen. Unsere Gegner, die an der Sozialdemokratie heute noch das lediglich „Negierende“ tadeln, hätten nur die sozialdemokratischen Zigarrenmacher Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre hören sollen. An allen Übeln der Welt war nur der Kapitalismus und sein verruchter Träger, die verrottete Bourgeoisie, schuld, mochte es sein, was es wollte, Arbeiterelend, Überschwemmung, Krieg, Seuchen, Unwetter oder irgendeine andere Kalamität, die irgendwo auf dem Erdenrund entstanden war. Die furchtbaren Zustände, die wirklich dem Kapitalismus auf das Schuldkonto zu schreiben waren, und der Eifer, diese schwere Schuld nachzuweisen, sie denjenigen sowohl, die Teil hatten an der Schuld, wie jenen, die unter dieser Schuld zu leiden hatten, überhaupt erst zum Bewußtsein zu bringen, mögen die Übertreibung und starre Einseitigkeit, mit der damals die Sozialdemokratie ihre rücksichtslose Kritik an den herrschenden Zuständen übte, wohl erklärlich, ja notwendig erscheinen lassen. Und der Hohn und Spott der Gegner, besonders der in den Städten dominierenden Liberalen, die zunächst gar nicht daran dachten, uns ernst zu nehmen, goß Oel ins Feuer, ließ die sozialdemokratische Kritik werden, wie sie war.

Oft spielten in den Debatten der Zigarrenmacher auch die häßlichen, tiefgehenden Feindseligkeiten zwischen den beiden sozialdemokratischen Gruppen, den Mitgliedern des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins oder Lassalleanern und den Eisenachern oder „Ehrlichen“, wie sie spottweise von den feindlichen Brüdern genannt wurden, eine erhebliche Rolle. In Hamburg-Altona waren die Lassalleaner überwiegend, und ein auftauchender „Ehrlicher“ hatte es gerade nicht leicht unter seinen Gesinnungsgenossen von der anderen Fraktion. Mich berührten diese Streitigkeiten gar nicht, die Lektüre der sozialdemokratischen Schriften und Zeitungen aber hatte mich bald zu einem begeisterten Anhänger der sozialdemokratischen Ideen gemacht. Mit dem ganzen Überschwang des phantasievollen schwärmerischen Knaben faßte ich die herrlichen Gedanken von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit auf, ergriff mich die Lust am großen heiligen Kampf gegen Unterdrückung, Ausbeutung, Lüge und Heuchelei. Bald warf ich die Ungeheuer und Riesen, die Indianer und anderen Feinde über Bord und die Ritter und Helden der Faust ihnen nach und träumte nur noch davon, ein Führer des Volkes zu werden, in packenden Artikeln und flammenden Reden für die Sache des Volkes gegen seine Feinde zu kämpfen. Sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter und nach einer siegreichen Revolution Leiter, Minister, ja Präsident einer sozialdemokratischen Republik zu werden, das schien mir der Inbegriff alles Großen, das einzig würdige Ziel meines Strebens zu sein.

Quelle: Julius Bruhns, “Es klingt im Sturm ein altes Lied!” Aus der Jugendzeit der Sozialdemokratie. Stuttgart, Berlin: Dietz Verlag, 1921, S. 7–15; abgedruckt in Wolfgang Emmerich, Hrsg., Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland, 2 Bände, Band 1, Anfänge bis 1914. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1974, S. 105–09.