Kurzbeschreibung

Generell waren die Liberalen eine treibende Kraft hinter Bismarcks Bestrebungen, den katholischen Einfluss auf Staatsangelegenheiten zu beschränken. Doch verdeutlicht der folgende Brief Karl Biedermanns (1812–1901), eines früheren 1848ers und nationalliberalen Parteiführers im Königreich Sachsen, unmissverständlich, dass einige Liberale sich in einer Zwickmühle befanden. Im Prinzip lehnten sie repressive Gesetze gegen eine „bestimmte Klasse von Personen“—auch als „Notstands- oder Ausnahmegesetze“ bekannt—ab. Zu solchen Gesetzen zählte das Jesuitengesetz (1872) und das 1878 verabschiedete Sozialistengesetz. Allerdings macht Biedermann seinem Parteikollegen Eduard Lasker (1829–1884) klar, dass er das Ziel der Einführung von Maßregeln gegen die Jesuiten befürwortet und sich der komplizierten parlamentarischen Taktiken bewusst ist, die zu diesem Zweck erforderlich sind. Biedermann führt zudem an, dass nach dem Dafürhalten seiner Wähler in Leipzig „gegen die Jesuiten das Ärgste nicht arg genug ist“. Er hatte Recht. Bis weit ins 20. Jahrhundert hegte die überwiegend lutherische Bevölkerung Sachsens tiefes Misstrauen gegenüber jesuitischen Intrigen am Hof der katholischen Wettiner Dynastie, die ihr Königreich regierte.

Karl Biedermann an Eduard Lasker, Klagen über die Haltung des Liberalismus zu den Ausnahmegesetzen (12. Juni 1872)

  • Karl Biedermann

Quelle

Leipzig, 12. Juni 1872

[] Das Jesuitengesetz, wie es nun vorliegt, zwingt mich dazu. Ich mag es ansehen und überdenken, wie ich will, ich finde es eine so unselige Maßregel als nur möglich. Es ist ein Ausnahmegesetz im allerschlimmsten Sinne, denn es verstößt direkt gegen § 1, § 12 des Freizügigkeitsgesetzes, § 38, § 39 des Strafgesetzbuchs, es ist ein Ausnahmegesetz mit dem ganzen Odium, direkt gegen eine bestimmte Klasse von Personen gerichtet zu sein (als wenn man z. B. seiner Zeit versucht hätte, jedes Mitglied des Nationalvereins aus jedem Teil Deutschlands gewiesen werde [sic!]), endlich wird es in seiner Ausführung der partikularistischen Handhabung durch die Einzelregierungen preisgegeben – vorbehaltlich einer Zentralpolizeitätigkeit des Bundesrats (§ 2). Von der Wirkung gerade eines so gehässigen Ausnahmegesetzes auf eine ganze große konfessionelle große Gruppe der Nation, von den peinlichen Inquisitionen, wer Jesuit sei, endlich von der dennoch wahrscheinlichen Erfolglosigkeit im großen und ganzen gar nicht zu reden.

Sie haben meines Wissens sogar gegen den Notstrafgesetzparagraphen (wegen der Predigten) im vorigen Jahre gestimmt, für die ich auch und mit schwerem Herzen stimmte. Ich kann mir kaum denken, daß Sie diesem Gesetz sollten zustimmen können. Ich kann es unbedingt nicht; ja meine Überzeugung von der – ich sage nicht rechtlichen oder liberalen Bedenklichkeit des Gesetzes aber von der verhängnisvollen schiefen Ebene, auf welche damit die Reichsgewalt und der Reichstag sich begibt, steht so fest und ist eine für mich so überwältigende, daß ich, wofern ich nicht noch eines anderen belehrt werde, was schwerlich geschehen wird – mich nicht einmal damit begnügen zu dürfen meine, nicht für das Gesetz zu stimmen, sondern es für meine Pflicht halte, gegen das Gesetz zu stimmen, freilich auf die Gefahr hin mit der Nationalliberalen Fraktion, wenn diese dafür ist, wie ich annehme, auch in direkten Zwiespalt zu kommen, wie ich denn auch glaube, daß meine Wähler (denen gegen die Jesuiten das Ärgste nicht arg genug ist) mir es schwerlich danken werden und möglicherweise ich mich veranlaßt sehen kann, mein Mandat niederzulegen. Es ist hart, wegen einer Sache, in der man ja natürlich au fonds ganz einig ist, wegen der Mittel und Wege in einen solchen Konflikt zu geraten. Aber was wäre Überzeugungstreue, wenn man Fragen von so ungeheurer Konsequenz wie die der Ausnahmegesetze anders oder leichter behandeln wollte, weil es gerade gegen Jesuiten, nicht gegen Liberale oder Nationale geht.

Allerdings bin auch ich der Meinung, daß, nachdem einmal Reichsregierung und Bundesrat die Initiative zu einer direkten Aktion gegen die Jesuiten ergriffen haben (ich hätte andere Maßregeln für richtiger und wirksamer gehalten), der Reichstag durch eine bloße Ablehnung des Gesetzentwurfes deren Autorität schädigen und den Gegnern erwünschten Vorschub leisten würde. Ich glaube daher, der Reichstag sollte durch eine Amendierung, die freilich die ganze Tendenz des Gesetzes ändern müßte, diesem eine Wendung geben, welche das Gehässige und in der Tat Gewalttätige daran (als Ausnahmegesetz der schlimmsten Art) beseitigte, gleichwohl den Zweck selbst einen Schlag gegen die Jesuiten auf andere Weise unbedenklich machte. (Ich denke z. B. an einen Zusatz zu § 128 des Strafgesetzbuches, welcher die Mitgliedschaft an einer geheimen Verbindung mit auswärtigen Obern neben der dort schon vorgesehenen Freiheitsstrafe mit dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte (§ 32 ff.), auch wohl mit der Stellung unter Polizeiaufsicht (§ 38) bedrohen könnte. Das schlösse vom Wahlrecht, von Ämtern usw. aus!) Wäre zu hoffen, daß in unserer Fraktion, die ja wie die Macht, so auch den Beruf dazu vor allen hätte, ein solcher Gedanke Platz greift (und wenn jemand so könnten Sie ihm dort Geltung verschaffen), so würde ich (wie sehr auch hier festgehalten teils durch Berufsgeschäfte, teils durch Familiennot, die noch immer nicht ganz beseitigt ist) den Beratungen in der Fraktion über den Gesetzentwurf gern beiwohnen. Wäre dies nicht und würde es sich einfach um ein Ja oder Nein zum Gesetzentwurf im Plenum handeln, so würde ich mit mir zu Rate gehen, ob ich zur Abstimmung nach Berlin gehen sollte, führe aber nur um mit Nein zu stimmen.

[]

Die ganze Angelegenheit hat mich so ergriffen, daß ich mich ordentlich unwohl fühle. Selten habe ich so entschieden das Gefühl gehabt, daß etwas nicht geschehen sollte, und daß es leider dennoch geschehen werde.

Quelle: Julius Heyderhoff und Paul Wentzcke, Hrsg., Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks. Eine politische Briefsammlung, Bd. 2, Im neuen Reich 1871–1890. Politische Briefe aus dem Nachlaß liberaler Parteiführer, herausgegeben von Paul Wentzcke. Bonn: Kurt Schroeder Verlag, 1926, S. 53–54.