Kurzbeschreibung

Die katholische Zentrumspartei entwickelte sich nach der Reichsgründung zur stabilsten politischen Kraft im Reichstag. Sie gewann in jeder Reichstagswahl von 1874 bis 1912 zwischen 90 und 105 Sitze sowie 23–26% der Stimmen. Obwohl ihre Wähler fast ausnahmslos aus dem katholischen Milieu stammten, gelang es der Partei, die starke Abhängigkeit anderer Parteien von bestimmten Klassen, Regionen und Grundsätzen zu vermeiden. Das Parteiprogramm von 1871, mit seinem Eintreten für die Autonomie der Bundesstaaten, Verfassungstreue sowie bürgerliche und religiöse Freiheiten, betonte Gerechtigkeit vor konfessioneller Zugehörigkeit als „Regierungsgrundlage“. Nach bitteren Konflikten mit Bismarck während des Kulturkampfs in den 1870er Jahren trat Mitte der 1880er Jahre eine Normalisierung in den Beziehungen zur Regierung ein. Bereits zuvor allerdings hatte sich das Zentrum, je nach eigenen Prioritäten, geschickt entweder mit der Rechten oder der Linken, mit Bismarck oder der Opposition verbündet.

Programm der katholischen Zentrumsfraktion im Reichstag (Ende März 1871)

Quelle

„Iustitia fundamentum regnorum“

Die Zentrumsfraktion des Deutschen Reichstages hat folgende Grundsätze für ihre Tätigkeit aufgestellt:

1. Der Grundcharakter des Reiches als eines Bundesstaates soll gewahrt, demgemäß den Bestrebungen, welche auf eine Änderung des föderativen Charakters der Reichsverfassung abzielen, entgegengewirkt, und von der Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit der einzelnen Staaten und allen inneren Angelegenheiten nicht mehr geopfert werden, als die Interessen des Ganzen es unabweislich fordern.

2. Das moralische und materielle Wohl aller Volksklassen ist nach Kräften zu fördern; für die bürgerliche und religiöse Freiheit aller Angehörigen des Reiches ist die verfassungsmäßige Feststellung von Garantien zu erstreben und insbesondere das Recht der Religionsgesellschaften gegen Eingriffe der Gesetzgebung zu schützen.

3. Die Fraktion verhandelt und beschließt nach diesen Grundsätzen über alle in dem Reichstag zur Beratung kommenden Gegenstände, ohne daß übrigens den einzelnen Mitgliedern der Fraktion verwehrt wäre, im Reichstage ihre Stimme abweichend von dem Fraktionsbeschlusse abzugeben.

Quelle: Karl Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei,

9 Bde., Bd. 3. Köln: Bachem, 1927, S. 137–38; abgedruckt in Felix Salomon, Hrsg., Die deutschen Parteiprogramme, Heft 1, Vom Erwachen des politischen Lebens in Deutschland bis zur Reichsgründung 1871, Hrsg. Wilhelm Mommsen und Günther Franz, 4. Aufl. Leipzig und Berlin: B. G. Teubner, 1932, S. 166–67.