Kurzbeschreibung

Im ersten Teil (A) dieses Dokuments erläutert Christoph von Tiedemann (1836–1907), Chef der Reichskanzlei in den späten 1870er Jahren, die Ereignisse des 11. Mai 1878. An diesem Tag feuerte Max Hödel mehrere Schüsse auf Kaiser Wilhelm I. ab, die diesen jedoch verfehlten, während er in seiner Kutsche auf der Straße Unter den Linden in Berlin unterwegs war. Tiedemann erwähnt nicht, dass Bismarck später am Tag des Attentats von seinem Gut Friedrichsruh aus folgendes knappe Telegramm an den Reichsstaatssekretär des Auswärtigen, Bernhard von Bülow, schickte: „Sollte man nicht von dem Attentat Anlaß zu sofortiger Vorlage gegen Sozialisten und Presse nehmen. Bitte Graf [Botho] zu Eulenburg zu fragen.“ Im zweiten Teil (B) erklärt Tiedemann, dass es Bismarck nicht in erster Linie um die erfolgreiche Verabschiedung eines Antisozialistengesetzes im Reichstag geht, sondern darum zu zeigen, dass die Regierung bereit ist, gegen die wahrgenommene Bedrohung durch die Sozialdemokratie vorzugehen.

Reaktionen auf das erste Attentat auf Kaiser Wilhelm I. (Rückblick, 1910)

Quelle

A. Christoph von Tiedemann über die Attentate auf Kaiser Wilhelm I. (Rückblick 1910)

Die Attentate des Jahres 1878 und das Sozialistengesetz.

I.

In der ersten Hälfte des Jahres 1878 stand die Sozialistenfrage im Vordergrunde des politischen Interesses. Bei den Wahlen des vorigen Jahres hatte die sozialdemokratische Partei fast eine halbe Million Stimmen erhalten. Sie hatte nicht weniger als 175 Kandidaten aufgestellt, von denen freilich nur zwölf tatsächlich gewählt worden waren. Aber ihre wohlorganisierte, ungemein rührige Wahlagitation hatte doch gezeigt, über welche Machtmittel sie gebot, und es gab zu denken, das die sozialdemokratische Fraktion des Reichstags nunmehr zum ersten Male in der Lage war, mit Hilfe einiger weniger Unterschriften von Mitgliedern der Fortschrittspartei oder des Zentrums (und nach beiden Seiten hin liefen offene oder verschleierte Beziehungen) Initiativanträge zu stellen. Hand in Hand mit diesem Anwachsen der Stimmen war der Aufschwung der sozialdemokratischen Presse gegangen, die einen Abonnentenstand von weit über 100 000 aufwies. Und diese Presse schien es sich gerade damals zur besonderen Aufgabe gemacht zu haben, die Massen auf die extremsten revolutionären Exzesse vorzubereiten. Nach dem bekannten Rezept, des sogenannten „Genter Manifestes“, dem Liebknecht namens der sozialdemokratischen Partei Deutschlands auf dem Genter internationalen Kommunistenkongreß (9. Bis 15. September 1877) ausdrücklich zugestimmt hatte, sollten sich die vaterlandslosen Revolutionsparteien brüderlich die Hand reichen, um „jedes politische Mittel zu ergreifen, welches zur Befreiung aller Glieder des Proletariats führen kann“. Das konnte nur dahin verstanden werden, daß jetzt ein Kampf auf Leben und Tod gegen die Grundlagen des monarchischen Staates und der bürgerlichen Gesellschaft beginnen sollte. Von den anonymen sozialdemokratischen Flugschriften, die wie Pilze aus der Erde schossen und in denen sich Stellen fanden, wie folgende: „daß die Sozialdemokratie durch Blut und Trümmer auf ihr Ziel losgehe und selbst den Mord nicht scheue, wo’s vonnöten“— will ich hier absehen.

Auf wie fruchtbaren Boden solche aufreizenden Ausstreuungen gefallen waren, bewies das Hödelsche Attentat. Am 11. Mai, nachmittags 3 ½ Uhr, fuhr Kaiser Wilhelm mit seiner Tochter, der Großherzogin von Baden, von einer Spazierfahrt zurückkehrend, Unter den Linden entlang. In der Nähe des Palais der russischen Botschaft sprang plötzlich ein junger Mensch auf den offenen Wagen zu und feuerte aus einem Revolver auf den Kaiser. Der Schuß ging fehl. Noch einmal schoß der Mensch, indem er hinter dem Wagen herumlief und dann die mittlere Lindenpromenade zu erreichen suchte. Von vielen Personen verfolgt, rannte er dem Brandenburger Tor zu, in dessen Nähe er ergriffen wurde.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von diesem Attentate durch die Stadt, überall die größte Erregung und Empörung hervorrufend. Ich war nach den Linden geeilt, um nähere Erkundigungen über die Tat und den Täter einzuziehen, und hatte soeben ein längeres Telegramm an den Fürsten Bismarck nach Friedrichsruh gesandt, als sich kurz nach meiner Rückkehr nach meinem Bureau ein damals vielgenannter sozialdemokratischer Agitator melden ließ, der in alle Geheimnisse seiner Partei eingeweiht war und wohl mit zu ihren eigentlichen Führern zählen durfte. Er hatte schon vor längerer Zeit meine Bekanntschaft gesucht und mir wiederholt wertvolle Berichte aus dem sozialdemokratischen Lager geliefert. Die Mitteilungen, die er mir an jenem Abend machte, waren so umfassender Art und gewährten einen solchen Einblick in die weitaussehenden Pläne der sozialdemokratischen Parteileitung, daß ich mich, obwohl mein Besuch dies in Abrede stellte, des Eindrucks nicht entziehen konnte, das Hödelsche Attentat sei nur ein Vorläufer weiterer direkt gegen den Bestand der Monarchie gerichteter Angriffe. Daß Hödel der sozialdemokratischen Partei angehörte, bestätigte mir der Agitator übrigens ausdrücklich. Ich stand im Begriff, diese Mitteilungen schriftlich zu fixieren, um sie dem Fürsten Bismarck zu übermitteln, als ich spät abends einen Brief des Grafen Herbert Bismarck erhielt, der mich nach Friedrichsruh berief. Diesem Brief folgte am nächsten Morgen ein zweiter, durch den ich beauftragt wurde, den Ministern mitzuteilen, Fürst Bismarck wünsche die Ausarbeitung eines gegen die Sozialdemokratie gerichteten Ausnahmegesetzes und zwar auf das schleunigste. Die Grundzüge eines solchen Gesetzes waren in nuce skizziert. Ich konnte den meisten Ministern den Inhalt dieses Briefes mitteilen, bevor sie sich ins Palais begaben, um dem Kaiser ihre Glückwünsche zu seiner Errettung aus Mörderhand darzubringen. Als sie von dort zurückgekehrt waren, sprach ich den Minister v. Bülow, der, ganz erfüllt von dem Eindruck, den die ruhige, würdevolle Haltung des Kaisers auf ihn gemacht hatte, dessen Äußerungen zu rekapitulieren versuchte. Ich schrieb sie sofort nieder und habe sie nachher in die Presse lanciert. Sie hatten folgendermaßen gelautet:

„Es sei das dritte Mal, daß auf ihn geschossen worden; in der Teilnahme der Bevölkerung finde er Trost; man dürfe solche Dinge in keiner Weise zu leicht nehmen; er habe in der Zeit, als er Mitglied des Staatsministeriums gewesen, stets auf die Gefahren hingewiesen, welche sich aus der Geltendmachung der damaligen staatsfeindlichen Richtungen ergeben müßten. Seine Befürchtungen seien durch das Jahr 1848 leider bestätigt worden. Jetzt wiederum und in erhöhtem Maße sei es Aufgabe der Regierung, dahin zu wirken, daß revolutionäre Elemente nicht die Oberhand gewinnen. Jeder Minister müsse dazu das Seinige tun. Insbesondere komme es darauf an, daß dem Volke die Religion nicht verloren gehe. Das zu verhüten, sei die hauptsächliche Aufgabe.“

Die Minister standen noch ganz unter dem Eindruck dieser schlichten, aber den Kern der Frage treffenden Worte, als sie sich abends zu einer vertraulichen Besprechung versammelten, zu der auch ich eine Einladung erhalten hatte. Alle waren darüber einig, daß etwas geschehen müsse. Nicht allen Ministern war aber der Vorschlag des Fürsten Bismarck sympathisch; namentlich Friedenthal und Leonhardt hatten Bedenken gegen ein „Ausnahmegesetz“. Nach längerer Debatte erklärte sich Friedenthal bereit, die dissentierenden Ansichten der Minorität dem Fürsten Bismarck persönlich vorzutragen und zu diesem Zwecke nach Friedrichsruh zu reisen.

Am nächsten Morgen trafen Friedenthal und ich uns im Eisenbahncoupé. In Friedrichsruh angelangt, frühstückten wir mit dem Fürsten und bei dieser Gelegenheit wurde die Frage eines besonderen Sozialistengesetzes gründlich erörtert. Friedenthal behauptete, das die Zustimmung des Reichstags zu einem Ausnahmegesetz nicht zu erlangen sein werde, und daß es deshalb richtiger sei, die nothwendigen Strafbestimmungen gegen Ausschreitungen der Sozialdemokratie (wie der übliche Ausdruck lautete) „in den Rahmen des gemeinen Rechts einzufügen“. Der Fürst indessen beharrte auf seiner Ansicht, daß man die Sozialdemokratie nur wirksam ins Herz treffen könne, wenn man berechtigt sei, über die Barrieren hinwegzusetzen, die die Verfassung in übergroßer doktrinärer Fürsorge zum Schutze des einzelnen und der Parteien in den sogenannten Grundrechten errichtet habe. Der Sozialdemokratie gegenüber befinde sich der Staat im Zustande der Notwehr. In der Notwehr aber dürfe man nicht zimperlich in der Anwendung der Mittel sein. A corsaire corsaire et demi!

Wie gewöhnlich bei einem Disput mit dem Fürsten zog Friedenthal schließlich den kürzeren. Er ließ seinen Widerspruch fallen und versprach bei seiner Abreise abends, nach Möglichkeit auf eine Beschleunigung der Angelegenheit hinwirken zu wollen.

Die Gesetzgebungsmaschine arbeitete nun mit Dampf. Am 15. Mai abends gegen neuen Uhr traf der neue Minister des Innern, Graf Botho Eulenburg in Friedrichsruh ein, den fertigen Entwurf des Sozialistengesetzes in der Tasche, und reiste, sobald er die Zustimmung des Fürsten zu den einzelnen Paragraphen erhalten hatte, nach kaum dreistündigem Aufenthalt mit dem Nachtzug wieder nach Berlin zurück. Der Bundesrat genehmigte den Entwurf zwei Tage darauf, der Reichstag erhielt ihn bereits am 20. Mai.

Das Schicksal dieses ersten Sozialistengesetzes ist bekannt. Es wurde ebenso prompt beseitigt, wie es entstanden war, und man kann eigentlich nicht sagen, daß ihm Unrecht geschah. Die einzelnen Bestimmungen trugen zu sehr den Stempel der Flüchtigkeit an sich, mit der hatte gearbeitet werden müssen, und namentlich der § 1 mit seinen dehnbaren Bestimmungen („Druckschriften und Vereine, welche die Ziele der Sozialdemokratie verfolgen, können vom Bundesrat verboten werden“) forderte geradezu die Kritik heraus. Diese wurde denn auch namentlich von Bennigsen in schonungsloser Weise geübt. Zu den „Zielen“ der Sozialdemokratie, so führte er aus, gehörten zum Teil ganz berechtigte Bestrebungen, wie Arbeiterschutz und die Wünsche betreffs der Sozialpolitik des Staates, der Gemeinde usw. Sogar auf die ernstesten wissenschaftlichen Erörterungen könne der § 1 Anwendung finden. Der Bundesrat sei eine durchaus ungeeignete Behörde für die ihm vom Entwurfe zugedachte verbietende Stelle und Tätigkeit, da er nur während eines Teils des Jahres versammelt und an die Instruktionen der Einzelregierungen gebunden sei und ebensowenig eigne sich der Reichstag zu einer Kontroll- und Revisionsinstanz.

So sehr man die Berechtigung dieser gegen die Einzelheiten der Vorlage gerichteten Einwendungen anerkennen konnte, so lebhaft mußte man bedauern, daß Bennigsen aus doktrinären Gründen der Reichsregierung jede außerordentliche Vollmacht im Kampfe gegen die Sozialdemokratie verweigern wollte, und daß er das Gespenst der Diktatur an die Wand malte. Nachdem sich die nationalliberale Fraktion zwei Tage vorher einstimmig gegen ein Ausnahmegesetz erklärt hatte, konnte es nicht wundernehmen, daß der Reichstag mit erdrückender Majorität (241 gegen 57 Stimmen) die Vorlage glattweg ablehnte. Unmittelbar darauf wurde der Reichstag geschlossen.

Ich war erstaunt über den Gleichmut, mit dem Fürst Bismarck diese parlamentarische Niederlage hinnahm. Während er sonst, wenn die Reichstagsmajorität seine Zirkel störte, faustische Redewendungen nicht zu sparen pflegte, um seinem Unmute Lust zu machen, beschränkte er sich diesmal auf einige humoristische Bemerkungen über die unglücklichen Minister, die die verfehlte Vorlage hatten verteidigen müssen. Ob er so gleichmütig geblieben wäre, wenn er während des Kampfes selbst in der Bresche gestanden hätte, will ich dahin gestellt sein lassen. Offenbar glaubte er, daß die Frucht noch nicht reif genug sei, um gewaltsam vom Baume geschüttelt zu werden und daß man der öffentlichen Meinung Zeit lassen müsse, sich auf weitere durchgreifendere Maßregeln vorzubereiten. Von einer Auflösung des Reichstags als Antwort auf die schroffe Ablehnung der Vorlage war jedenfalls mit keiner Silbe die Rede.

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Quelle: Christoph von Tiedemann, Sechs Jahre Chef der Reichskanzlei unter dem Fürsten Bismarck. 2. Aufl. Leipzig: S. Hirzel, 1910, S. 259–65.

B. Christoph von Tiedemann an den preußischen Staatsminister Karl von Hofmann (19. Mai 1878)

Friedrichsruh, den 19. Mai 1878

Ew. pp. würde der Herr Reichskanzler sehr dankbar sein, wenn Sie bei der Vertretung der Gesetz-Vorlage, die Abwehr socialdemokratischer Ausschreitungen betr. Folgende Gesichtspunkte im Auge behalten wollten:

1. Nicht das Hödel’sche Attentat hat das Bedürfniß der Vorlage geschaffen. Schon bei Berathung des Strafgesetzbuches, namentlich bei Einbringung des sogenannten Kautschuk-Paragraphen ist seitens der Reichsregierung auf die Folgen hingewiesen worden, welche unter unserer gegenwärtigen Gesetzgebung für die Sicherheit des Staates und der Gesellschaft entstehen, wenn Bestrebungen, wie diejenige der Social-Demokratie im Leben unseres Volkes Wurzel fassen. Das Bedürfniß hat seitdem in den Augen der Reichsregierung jederzeit bestanden. Das Hödel’sche Attentat kann nur als ein neuer Beleg für die Richtigkeit jener Auffassung dienen, es hat dieselbe nur bestärkt, nicht hervorgerufen, bietet Anlass zur Erneuerung des Versuchs ohne ihn an sich zu begründen.

2. Nicht darauf kommt es an, daß ein Gesetz vorgelegt werde, auf dessen Annahme im Reichstage mit Sicherheit zu rechnen, sondern darauf, dass die Regierung ihre Schuldigkeit thue und sich von der Verantwortung für Mangel der Abhülfe frei mache. Dem Vorwurfe, dass der Bundesrath den Ausschreitungen der social-demokratischen Partei thatlos gegenüber stehe, muss vorgebeugt werden. Verwirft der Reichstag die gegenwärtige Vorlage, so entlastet er die verbündeten Regierungen von der Verantwortlichkeit für weitere Ausschreitungen der Social-Demokratie; er übernimmt dieselbe dann selbst. Unterlässt die Regierung jede Vorlage, so könnte ihr später Vorwurf gemacht werden, dass sie es hier an der Initiative zur Bekämpfung politischer Gefahr habe fehlen lassen.

3. Die Vorlage ist daher nicht unter dem Gesichtspunkte eines Vertrauens-Votums für die Reichsregierung oder einer Cabinettsfrage zu betrachten. Sie bezweckt nur die Verantwortlichkeit der Regierung für zukünftige Ereignisse zu decken, den Reichstag zu einer Stellungnahme zu veranlassen.

Quelle: Otto von Bismarck, Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe. Abteilung III, Band 3: Schriften 1877–1879. Bearb. Michael Epkenhans und Erik Lommatzsch. Paderborn: Ferdinand Schöning, 2008, S. 475.