Kurzbeschreibung

August Ludwig von Rochau (1810–1873), der als junger Student radikale nationalistische Standpunkte vertrat, lebte jahrelang im Exil und war ein aktiver Unterstützer der Revolution von 1848. Desillusioniert vom endgültigen Scheitern der Revolution, formulierte Rochau 1853 in seinen Grundsätzen der Realpolitik eine veränderte politische Philosophie (und prägte bei dieser Gelegenheit den Begriff „Realpolitik“). Das Werk wurde zum Inbegriff für die Selbstaufgabe des liberalen Idealismus durch Anpassung an die konservative Machtpolitik, mit der in den Jahren 1864 bis 1871 unter Bismarck die Einigung Deutschlands mit kriegerischen Mitteln herbeigeführt wurde. Diese Einschätzung hat sich in der Forschung seither tendenziell durchgesetzt. Wer Rochau so interpretiert, begibt sich allerdings in eine gewisse Anachronismusgefahr. Ein genauerer Blick auf Rochaus Ansichten offenbart, dass seine liberale Gesellschaftsvorstellung und seine liberalen politischen Ziele weiterhin nachhallen. Zum einen enthalten Rochaus Aussagen eine Kritik daran, dass man ohne Machtbasis Verfassungen nach idealistischen Wertmaßstäben beurteilt, aber sie enthalten auch die fortschrittliche Forderung, dass alle gesellschaftlichen Gruppen und Kräfte in die Politik einbezogen werden müssen – die bereits entfalteten Kräfte schon in der Gegenwart und die noch nicht so weit entwickelten Kräfte in der Zukunft. Zu diesen gesellschaftlichen Kräften zählen auch freiheitliche Ideen und Rechte. Die ursprünglichen Bedeutungen von Realpolitik auszuloten, kann helfen, die heutigen Bedeutungen und Implikationen des Begriffs gedanklich neu zu fassen.

August Ludwig von Rochau, Grundzüge der Realpolitik (1853)

Quelle

I. Das dynamische Grundgesetz des Staatswesens

Der politische Organismus der menschlichen Gesellschaft, der Staat, entsteht und besteht vermöge eines Naturgesetzes welches der Mensch mit oder ohne Bewußtsein freiwillig oder unwillkürlich erfüllt. In diesem Sinne ist jenes alte Wort gesprochen: der Mensch ist ein politisches Thier; in diesem Sinne darf eine bekannte Lehre der Neuzeit sagen: der Staat ist von Gott – beide Sätze sind, richtig verstanden, durchaus gleichbedeutend.

Die Naturnothwendigkeit auf welcher das Dasein des Staates beruht wird in dem geschichtlich gegebenen Staate durch die Wechselwirkung mannigfaltiger Kräfte erfüllt, deren Beschaffenheit, Maß und Ergebnisse nach Raum und Zeit unendlich verschieden sind. Das Studium der Kräfte welche den Staat gestalten, tragen, umwandeln, ist der Ausgangspunkt aller politischen Erkenntniß, deren erster Schritt zu der Einsicht führt: daß das Gesetz der Stärke über das Staatsleben eine ähnliche Herrschaft ausübt wie das Gesetz der Schwere über die Körperwelt.

Die ältere Staatswissenschaft hatte diese Wahrheit vollkommen inne, aber sie zog eine falsche und verderbliche Folgerung aus derselben – das Recht des Stärkeren. Die Neuzeit hat diesen unsittlichen Fehlschluß berichtigt, aber indem sie sich von dem angeblichen Rechte des Stärkeren lossagte war sie nur allzu geneigt auch wirkliche Macht des Stärkern und die Nothwendigkeit ihrer staatlichen Geltung zu verkennen. Dieser Irrthum ist die Ursache der gröbsten Mißgriffe und der schwersten Niederlagen geworden, welche die Verfassungspolitik in der Mehrzahl der europäischen Staaten seit einigen Menschenaltern begangen und erlitten.

Die Erörterung der Frage: wer da herrschen soll, ob das Recht, die Weisheit, die Tugend, ob ein Einzelner, ob Wenige oder Viele, diese Frage gehört in den Bereich der philosophischen Speculation; die praktische Politik hat es zunächst nur mit der einfachen Thatsache zu thun, daß die Macht allein es ist welche herrschen kann. Herrschen heißt Macht üben, und Macht üben kann nur Der welcher Macht besitzt. Dieser unmittelbare Zusammenhang von Macht und Herrschaft bildet die Grundwahrheit aller Politik und den Schlüssel der ganzen Geschichte. Es ist ein irregeleiteter Stolz des menschlichen Geistes welcher jenem Verhältnisse die Anerkennung verweigert, oder welcher dasselbe wenigstens als ein mißbräuchliches betrachtet, dem da abgeholfen werden könne und müsse. Der Gedanke einer solchen Abhülfe ist ein logischer Widerspruch, und jeder Versuch seiner Verwirklichung bezweckt nicht Minderes als eine Umkehrung der ewigen Natur der Dinge.

Das Dasein des Staats ist unabhängig vom staatlichen Bewußtsein seiner Angehörigen; dagegen ist dieses Bewußtsein die wesentliche Voraussetzung des öffentlichen Rechts. So läßt sich denn sagen: der Staat geht dem Rechte voraus. Aber das Recht ist keinesweges an die Fersen des Staates gebannt, es mag denselben überholen, es mag sich seine eigenen Wege suchen – mit andern Worten, das Recht verhält sich zu der Macht wie die Idee zur Thatsache. Dieses rein begriffliche Verhältniß wird zum realen nur wann und in so fern die Rechtsidee sich zur öffentlichen Macht verkörpert, oder aber die Macht sich zur Rechtsidee verklärt. Darum ist denn das Recht allerdings seinem Verstande nach vollkommen unabhängig von der Macht, in seiner Geltung aber wesentlich bedingt und scharf umgränzt durch das Maß der Macht welche ihm selber zu Gebote steht. Und zwar nicht etwa zufällig und vorübergehend, sondern mit Naturnothwendigkeit, und wie gestern und heute so bis an’s Ende der Tage. Nur als Macht ist das Recht zur Herrschaft berufen, das heißt der Herrschaft fähig. So ist es also eine durchaus unstatthafte, man könnte sagen eine geradezu unvernünftige Forderung, daß die Macht dem Rechte unterthan sei. Die Macht gehorcht nur der größern Macht, und der Starke kann sich nicht von dem Schwachen beherrschen lassen, selbst wenn er es wollte, oder vielmehr wollen könnte.

Die Verkennung des dynamischen Grundgesetzes der Staatsordnung hat, wie schon bemerkt, die größten Irrthümer und Fehlgriffe verursacht welche man den staatlichen Theorien und der Experimentalpolitik des Jahrhunderts mit gutem Grunde zum Vorwurf macht. Der staatliche Gedanke wollte den staatlichen Stoff beherrschen ehe er denselben durchdrungen hatte; die formale Anerkennung des Rechts sollte die selbstständige Kraft desselben ersetzen; man nahm an daß sich die politische Macht durch Vertrag abtreten und erwerben, durch Uebereinkunft ausdehnen oder beschränken lasse. Diese Täuschungen haben sich empfindlich gerächt. Die bisherige politische Systematik, der die Geister beinahe blindlings huldigten, ist an den Dingen zu oft und zu kläglich gescheitert als daß sie nicht endlich der Gegenstand des tiefen Mißtrauens der Einen und der gründlichen Verachtung der Andern hätte werden sollen. Die Luftschlösser, welche sie gebaut, sind in blauen Dunst zerflossen; das wehrlose Recht, dessen theoretische Anerkennung sie erwirkt, ist höchstens zu einer Scheinübung gelangt, welche von der Macht so lange geduldet wurde als es ihr gerade genehm war; die Vereinbarungen der Ohnmacht mit der Gewalt haben bei der ersten Probe gezeigt daß sie wirkungslos, nichtig von Grund aus, unmöglich waren.

Die Verfassung des Staats wird bedingt durch das Wechselverhältniß der innerhalb desselben theils thätigen, theils ruhenden Kräfte. Jede gesellschaftliche Kraft hat Anspruch auf eine ihrem Umfange entsprechende staatliche Geltung, und die Staatskraft selbst besteht lediglich aus der Summe der gesellschaftlichen Kräfte welche der Staat sich einverleibt hat. Damit also der Staat stark sei muß er vor allen Dingen die Einzelkräfte seiner Angehörigen zu pflegen und zu fördern, demnächst aber auch sich dieselben anzueignen wissen. Jene Pflege und Förderung wird in der Regel vorzugsweise durch Gewährung möglichst freien Spielraums gegeben werden können, wogegen diese Aneignung nur durch organische Verbindung zu Stande kommt. Die Ergänzung, Berichtigung und Erhaltung des aus solcher Verbindung entstehenden Verhältnisses der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte zum Staatsganzen bildet die Aufgabe der Verfassungspolitik. Der Stoff der Verfassungspolitik ist also nicht bloß ein gegebener, sondern auch ein lebendiger, der als solcher mit gewissenhafter Schonung seiner Naturbeschaffenheit behandelt sein will. Daß demselben die abstrakt-wissenschaftliche oder principielle Behandlung nichts weniger als förderlich sei, steht erfahrungsmäßig fest und erklärt sich aus der jeder Berechnung spottenden Mannigfaltigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse, oder des staatlichen Stoffs. Die Verfassungspolitik hat es auf diesem Wege in der Praxis nicht über verunglückte Versuche, und in der Theorie nicht über Phantasiebilder hinaus gebracht, fratzenhaft wie die Platonische Republik oder idyllisch wie der Rousseau’sche Gesellschaftsvertrag, in jedem Falle aber historisch unwahr, staatlich unbrauchbar und selbst philosophisch unhaltbar.

Wenn sich die Frage nach der unbedingt „guten“ oder der „besten“ Verfassung nicht gänzlich abweisen läßt, so ist sie doch jedenfalls die allerletzte welche die Politik aufzuwerfen hat. Die beziehungsweise gute oder die richtige Verfassung ist diejenige welche alle gesellschaftlichen Kräfte nach ihrem vollen Werthe zur staatlichen Geltung kommen läßt. Je inniger der gesellschaftliche Stoff die staatliche Form durchdringt und je vollständiger er sie ausfüllt, desto gesunder ist der politische Körper, auch wenn die äußere Bildung desselben Unregelmäßigkeiten darbietet. Eine falsche Verfassung ist hingegen diejenige welche den gesellschaftlichen Kräften die politischen Organe versagt, und dadurch die wirksame Verwendung derselben erschwert oder unmöglich macht. Diesen Mißstand pflegt ein zweiter zu begleiten, der nämlich, daß solche staatliche Glieder aus denen sich die natürliche Lebenskraft zurückzieht von der Verfassung künstlich gefristet werden. Den umgekehrten Fehler hat die neuere Verfassungspolitik häufig dadurch begangen daß sie dem Staate im Namen irgend eines Princips oder einer Theorie willkürlich Organe angeschaffen denen kein gesellschaftlicher Krafttrieb entsprach, und die demnach, statt der Lebensthätigkeit des Staats zu dienen, nur wie eine todte Last auf denselben drücken konnten.

Zu den gesellschaftlichen Kräften gehören aber auch die schlummernden Anlagen und die unentwickelten Fähigkeiten. So lange sie bloß im Keime vorhanden sind haben sie selbstverständlicher Weise keinen Anspruch auf staatliche Geltung, aber es ist die unabweisliche Aufgabe der Politik sie zu beleben und ihre Entwicklung zu fördern, um sie demnächst zu verwerthen. Diese Aufgabe indessen, so gebieterisch sie sich auch aufdrängt, und so allgemein man sie dem Grundsatze nach anerkennt, wird gewöhnlich nur sehr mangelhaft erfüllt. Die jeweils herrschenden gesellschaftlichen Kräfte, vermöge der Selbstsucht die allem Lebendigen innewohnt, fürchten jeden neuen Mitbewerber der sich einen Wirkungskreis im Staate schaffen will, und so geschieht es denn daß die junge Kraft selten oder nie ohne schweren Kampf zur politischen Anerkennung gelangt. Je starrer und spröder die staatliche Form, desto höher steigert sich die Anstrengung der neuen Kraft, welche sich innerhalb derselben Raum schaffen will, und desto heftiger ist die Wirkung des endlichen Durchbruchs. Allerdings kommt nicht jede Kraft zum schließlichen Durchbruch. Sie kann in den Windeln erstickt, sie kann im ehrlichen oder unehrlichen Kampfe überwältigt werden, sie kann in Folge übermäßiger Anstrengung noch im Augenblicke des Sieges erlahmen. Solche Erscheinungen indessen beeinträchtigen das Naturgesetz des gesellschaftlichen Lebens eben so wenig wie das Naturgesetz der Pflanzenwelt Eintrag dadurch leidet daß nicht jede Blüthe eine Frucht, und nicht jede Frucht reif wird.

Das Verhalten der Politik gegenüber den gesellschaftlichen Kräften welche ihren Platz im staatlichen Organismus noch nicht inne haben steht unter dem wesentlichen Einflusse des Urtheils über deren Umfang und Nachhaltigkeit. Für die selbstsüchtigste wie für die uneigennützigste Politik ist es von dringendem Interesse über diesen Punkt ins Klare zu kommen, und demnach die Kräfte welche Anerkennung verlangen sorgfältig zu messen und zu wägen. Je nach dem Ergebnisse hat der Staat auf dem rein politischen Standpunkte keine andre Wahl als die Kräfte um welche es sich handelt entweder sich anzueignen, oder sie zu erdrücken. Der Mittelweg ist unpolitisch, und der Staat wenn er ihn einschlägt geht dem Kampfe und der Gefahr entgegen. Denn die Kraft welche der Staat sich nicht einverleibt wird nothwendiger Weise seine Gegnerin. Mancher Staat ist von einer Gegnerin dieser Art überwältigt worden die er entweder verachtet, oder mit ungenügenden Mitteln zu vernichten versucht hatte. Die gewaltsame Vernichtung irgend einer gesellschaftlichen Kraft welche sich nicht etwa bereits innerlich ausgelebt hat, ist in der That eine der schwierigsten Unternehmungen der Politik, daß sie aber keineswegs unausführbar sei wird durch große geschichtliche Beispiele bewiesen.

Mit dem Verlaufe der Zeiten sind diese Beispiele indessen immer seltener geworden, sei es daß dem Staate die Wahl der Waffen mit denen ein solcher Vernichtungskampf geführt sein will nicht mehr in dem frühern Maße freisteht, sei es daß ihm die größere Beweglichkeit der neuern Jahrhunderte die erforderliche Ausdauer unmöglich macht. Dagegen werden dem Staate in der Regel hinlängliche Mittel zu Gebote stehen um die jungen Kräfte welche in sein Gebiet einzudringen suchen eine Zeit lang abzuwehren, zu fesseln, oder auch sie zu verstümmeln. Eine Politik welche die Sicherung des jeweiligen Verfassungsbestandes zum leitenden Grundsatze hat, mag durch feste unerschrockene Handhabung jener Mittel mit großem Erfolge geübt werden, die Nachwirkungen derselben aber werden sich nothwendiger Weise gegen den Staat selbst kehren, dessen organische Verbindung mit der Gesellschaft auf diese Weise gelockert wird, und der dem Siechthum und der Altersschwäche um desto sicherer und um desto frühzeitiger verfällt, je vollständiger man das Einströmen der frischen gesellschaftlichen Säfte verhindert.

Die umgekehrte Richtung wird demnach eine Politik einschlagen welche auf die Lebenskraft des Staats einen höhern Werth legt als auf dessen Verfassungsform. Eine solche Politik wird sich angelegen sein lassen jeder gesellschaftlichen Kraft den ihrer Natur entsprechenden Spielraum zu schaffen, und sie dadurch der Staatskraft selbst einzuverleiben, unbekümmert um die Veränderungen welche die überlieferte Gestalt oder das scheinbare Ebenmaß der Verfassung durch die neu zu schaffenden Organe erleiden mag. Der rasche Wechsel im Maße und in der Natur der das gesellschaftliche Leben bewegenden Kräfte ist für den Staat ohne Zweifel ein bedenklicher Uebelstand, die Elasticität der staatlichen Formen aber, welche sich diesen Veränderungen willig anschließt, wird immerhin mehr dazu beitragen die Wirkungen des Uebels zu mindern als sie zu steigern.

Die politische Größe des Staats ist wesentlich mitbedingt durch eine gewisse Stätigkeit, nicht der staatlichen Formen, sondern der realen gesellschaftlichen Kräfte die einheitliche und unveränderliche Richtung auf einen bestimmten staatlichen Zweck zu geben; nur vermöge dieser Stätigkeit läßt sich die Zeit gewinnen die unter allen Umständen erforderlich ist um große und dauernde politische Erfolge zu erringen. Durch krampfhafte Anstrengung mag allerdings riesige Kraft entfaltet werden, aber die augenblicklichen staatlichen Wirkungen derselben werden eine so flüchtige vorübergehende Ursache schwerlich lange überdauern, es ist vielmehr sehr wahrscheinlich daß im unausbleiblichen Momente der Erschlaffung mehr verloren werde als im Parorismus gewonnen worden ist. Hingegen, wie in der Körperwelt ein langsames Wachsthum ein langes Leben verbürgt, so in der Politik ein mühsamer Erwerb einen dauernden Besitz.

II. Verhältnißwerth der gesellschaftlichen Kräfte

Die gesellschaftlichen Kräfte kommen für die Politik zunächst lediglich nach ihrem dynamischen Werthe in Betracht, die ruhenden nicht minder als die thätigen, die welche dem staatlichen Organismus nicht angehören eben so wie die welche demselben einverleibt sind, die Kräfte des Bestandes und der Bewegung nicht nur, sondern auch die Kräfte der Zerstörung. Wenn die Regierungsgewalt, das Beamtenthum und das Heer für die Politik in erster Reihe der staatlich organisirten Kräfte stehen, so wollen die staatlich mehr oder weniger formlosen Geistes- und Geldkräfte der Gesellschaft deßhalb nicht überstehen oder unterschätzt werden. Die Politik welche die thätige Kraft des gesellschaftlichen Neuerungstriebes nach ihrem wahren Werthe würdigen will, muß auf der andern Seite die ruhenden Kräfte der Gewohnheit, der Ueberlieferung und der Trägheit in vollen Anschlag bringen. Gegenüber dem Reichthum ist die Armuth, gegenüber der Intelligenz ist die Unwissenheit, das Vorurtheil, und ganz besonders die Dummheit als gesellschaftliche Kraft für die Berechnungen der Politik von der größten Wichtigkeit. Auch die Lüge oder jede andere Unsittlichkeit, ja sogar das Verbrechen kann zu einer Kraft werden die, ungeachtet ihrer gesellschafts- und staatsfeindlichen Natur, eine gewisse Anerkennung von der Politik nicht bloß fordert, sondern auch erzwingt. Damit ist keineswegs gesagt daß die Politik der sittlichen Pflicht entbunden sei, sondern nur, daß es eine Gränze giebt an welcher die thatsächliche Möglichkeit der Erfüllung dieser Pflicht aufhört.[1])

Manche derjenigen Kräfte welche dem heutigen Staate seine Form gegeben, haben einen Theil ihrer frühern Bedeutung verloren, sei es daß sie gealtert sind, sei es daß ihr Verhältnißwerth sich vermindert hat. In dem letztern Falle ist zum Beispiel das Grundeigenthum, welches von der täglich wachsenden Masse des beweglichen Reichthums mehr und mehr überwogen wird. Mit der Bedeutung des Grundeigenthums ist auch die Kraft des im Boden wurzelnden aristokratischen Staatselementes gefallen, das überdies in mancherlei geistigen Strebungen der Zeit ein mächtiges Gegengewicht gefunden hat. Die Macht der Autorität vollends, der sich ehemals die wildesten Kräfte blindlings fügten, ist durch die Kritik dermaßen zernagt und untergraben, daß sich nur noch einige kümmerliche Trümmer derselben mühsam aufrecht erhalten.

Dagegen ist ein reicher Nachwuchs junger gesellschaftlicher Kräfte aufgeschossen, welche selbstständig oder in mannigfachen Verbindungen ihre Geltung im staatlichen Leben verlangen. Das bürgerliche Bewußtsein, der Freiheitsgedanke, der Nationalsinn, die Idee der menschlichen Gleichberechtigung, der politische Partheigeist, die Presse, sind für viele der heutigen Staaten ganz neue Faktoren des gesellschaftlichen Lebens. Daß denselben die staatliche Anerkennung nur insoweit gebührt als die ihnen innewohnende Kraft reicht, bedarf keiner Bemerkung mehr, und eben so versteht es sich von selbst daß eine richtige Politik ihnen die Anerkennung bis zur Gränze ihrer Kraft nicht versagen darf.

Damit ist denn namentlich auch das Maß der politischen Geltung gegeben welches jenem Inbegriffe sittlich-geistiger Stimmungen und Strebungen zukommt welchen man die öffentliche Meinung nennt.

[]

Anmerkungen

[1] Einige Beispiele zur Erläuterung dieses Gedankens werden hier am Platze sein. Wenn der Staat in einer Geldverlegenheit mit der habgierigen Finanz ein wucherliches Geschäft abschließt, so macht die Politik damit der Unsittlichkeit ein Zugeständniß, nicht weil sie will, sondern weil sie muß. Dem Aufruhre, der Soldatenmeuterei gegenüber kann der Staat in den Fall kommen mit dem offnen Verbrechen einen Vertrag abschließen zu müssen. Es mag selbst geschehen daß die Politik eines großen Staates (und noch das heute lebende Geschlecht hat mehr als einen Fall dieser Art gesehen) nicht umhin kann, sich mit einem gewöhnlichen Räuberhauptmann zu vertragen. Angenommen daß die Regierung Ferdinands VII. wirklich nicht die Mittel besaß den bekannten Jose Maria zu vernichten, war es eine vollkommen richtige Politik mit demselben förmlich zu unterhandeln und Frieden zu schließen – freilich nur die richtige Politik einer erbärmlichen Regierung und eines tief heruntergekommenen Staats. Uebrigens ist es nicht etwa bloß die schwache Seite der Politik sich hie und da mit der Unsittlichkeit abfinden zu müssen. Auch die Religion, von der Kirche gar nicht zu reden, kann in denselben Fall kommen, wie wenn sie zum Beispiel die vorgefundene Sklaverei duldet und sogar anerkennt. Die Moral mag über solche Zugeständnisse ihr eignes Urtheil haben, jeden Falls aber darf sie mit der Politik nicht in ein strengeres Gericht gehen als mit der Religion.

Quelle: August Ludwig von Rochau, Grundzüge der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands. Stuttgart, Karl Göpel, 1853, S. 1–11. Online verfügbar unter: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10561071-0