Kurzbeschreibung

Der hier wiedergegebene Textauszug stammt aus der Theologia Deutsch, einem anonymen, in umgangssprachlichem Deutsch verfassten Traktat aus dem 14. Jahrhundert. Der Verfasser war vermutlich ein in Frankfurt am Main ansässiger Priester des Deutschordens. Sein Text propagiert eine spiritualisierte, mystische Frömmigkeit, wie sie ihre Fortsetzung durch Meister Eckhart und Johann Tauler bis hin zu Martin Luther und dessen Nachfolgern fand. Luther, der diesen Text in zwei kommentierten Ausgaben 1516 und 1518 herausgab, bemerkte, dass es nach der Bibel und den Confessiones des Hl. Augustinus dieses Werk gewesen sei, welches ihn am meisten über Gott, Christus, den Menschen und die Welt gelehrt habe. Der Traktat über katholische Frömmigkeit wurde im 16. Jahrhundert ein zentraler Text für die Wiedertäufer und später für lutherische Pietisten. Seine Lehre eines vergeistigten, prozessualen Christentums, welches Hilflosigkeit und passiven Gehorsam als angemessene Haltung gegenüber göttlicher Gerechtigkeit ansieht, fand weiten Anklang. John Calvin bezeichnete das Buch als „Gift des Teufels“ und Papst Paul V. setzte es auf den römischen Index verbotener Bücher. Bis heute wurden über 190 Ausgaben der Theologia Deutsch auf Deutsch, Englisch, Niederländisch, Latein, Schwedisch, Dänisch, Russisch, Italienisch, Chinesisch und Japanisch veröffentlicht.

Die Lehre einer mystischen Theologie—Theologia Deutsch (14. Jahrhundert, veröffentlicht 1516 und 1518)

Quelle

Capitulum 11

[Wie der gerechte mensche yn der czeit yn die helle wirt gesatzt vnd magk dar ynne nicht getrost werden, vnd wie er auß der helle wirt genomen vnde wirt yn das hymmelrich gesatzt vnde magk dar ynne nicht betrubt werden.]

Cristus sele musset yn die helle, ee dan sie czu hymmel qwam. Also muß auch des menschen sele. Aber wie das geschee, das mercket: Wanne sich der mensche selber bekennet vnd an syhet vnd findet sich selber also boße vnd vnwirdig alles des gutes vnnd trostes, das ym von got ader von den creaturen gescheen mag, sundern nicht anders danne eyn ewig vordammen vnd vorloren seyn vnd düncket sich auch des selben vnwirdigk seyn. Ja er dunckt sich vnwirdick alles leidens, das ym yn der czeit gescheen kan, vnnd das eß willich vnd recht sey, das alle creatur wider yn seyn vnd thun ym leyden vnnd pyne an, vnd ist des alles vnwirdigk. Auch dunckt yn recht, das er ewiclichen vordampt sal seyn vnd ioch eyn fußschemel sold seyn aller teufele yn der helle, vnd diß alles noch vnwirdig, vnd wil ader mag keynes trostes ader erloßunge begern wider von gote noch von creaturen, sundern er wil gerne vngetrost vnd vnerlost seyn, vnd ym ist nicht leit seyn vordampniß vnd leiden, wan eß billich vnde recht ist vnd ist nicht wider got, sundern eß ist der wille gotis, vnd das ist ym lieb vnd ist ym wol do mit. Ym ist alleine leit seyne schult vnd boßheit, wanne das ist vnrecht vnnd wider got, vnd do mit ist ym we vnd vbil czu mute. Vnd diß ist vnd heißet ware ruwe vmmb die sunde. Vnde wer also yn der czite yn die helle kumpt, der kumpt noch der czite yn das hymmelrich vnd gewynnet seyn yn der czeit eynen vorsmack, der vbirtrifft allen lusten vnnd freude, die yn der czite von czitlichen dingen ye gewart ader gewerden magk. Vnde die weile der mensche also yn der helle ist, so mag yn nymant getrosten, wider got noch creatur, als geschriben stet: In der helle ist keyn erlosunge. Da von sprach eyn mensch. „Vorderben, sterben, ich lebe an trost, vßen vnd ynnen vordampt, nymant bite, das ich werde erloßt“.

Nu lesset got den menschen nicht yn disßer helle, sunder er nympt yn an sich, also das der mensche nichts enrucht danne allein des ewigenn gutis vnd bekennet, das dem ewigenn gute als vberwol ist, vnde seyne wunne, fride vnd freude, rue vnnd genuge. Vnd wanne den der mensche nicht anders enrucht noch begert dann das ewige gut vnd ym selbes nicht, ßo wirt des ewigen gutis frede vnd freude vnd wunne vnde luste, vnd was des ist, alles des menschen, vnd so ist der mensche ym hymmelrich. Disse helle vnd diß hymmelrich seyn czwen gut, sicher wege dem menschen yn der czite, vnd wol ym, der sie recht vnd wol findet, wanne diße helle vorgehet, das hymmelrich bestet.

Auch sal der mensch mercken, wanne er yn dißer helle ist, so mag yn nichts getrosten vnd er kan nicht glouben, das er ymmer erlost ader getrost werde. Aber wan er yn dem hymmelrich ist, so mag yn nichts betruben ader vngetrosten vnd gloubet nicht, das er betrubt ader vngetrost magk werden, wie wol er noch der helle mag getrost vnd erloßt werden, vnd noch dem hymmelrich betrubt vnd vngetrost.

Auch kumpt dem menschen diße helle vnd diß hymmelrich, das er nicht weiß, wo von eß her kompt, vnnd der mensche kan wider gethun noch gelaßen ader nicht von dem seynen, da von eß kume ader fare. Vnnd der mensche kan ym selber disser keynes gegeben oder genemen, gemachen ader entmachen, sundern als geschriben ist [10 3, 8.]. „Der geist geistet, wo er wil, vnd du horest seyne stymme“, das meynet man yn der geynwertikeit, „aber du weist nicht, wo von er kommet ader wo hin er ghet“. Vnd wanne der mensche yn disser czvier eynem ist, so ist ym recht vnnd er mag yn der helle also sicher seyn also yn dem hymmelrich. Vnd alle die wile der mensche yn der czeit ist, ßo magk er gar dicke auß eynem yn das ander fallen, ja vnder tage vnd nacht etwen dicke vnd alles an sich selber. Wanne abir der mensche yn disser keynem ist, so gehet er mit den creaturen vmmb vnnd wackelt her vnnd dar vnd weiß nicht, wo er dar an ist. Doch solde er disser beider nymmer vorgesßen yn seynem hertzen.

Capitulum 12

[Was rechter, warer, ynnerlicher frede sey, den Cristus seynen jungern zcu letzt gelaßen hat.]

Eß sprechen vil leute, sie haben nicht frede ader ruwe, sie haben vil widerwirtikeit vnd anfechtunge vnd druckes vnde lyden. Der nu diß yn der warheit wil an ßen vnd mercken: so hette der teufel auch fryde, wenne eß ym ginge nach seynem willenn vnd wolgefallen. Vnd dar vmmb so sullen wir mercken vnd war nemen des frides, den Cristus seynen jungern czu letze ließ, do er sprach [10 14, 27.]. „Meynen fride den laß ich uch, meynen fride den geb ich uch, nicht als yn die werlt gibt“, wanne die werlt betruget yn yren gaben.

Was frides meynet Cristus? Er meynet den jnnerlichen fride, der da durch brech vnd durch drunge durch alle anfechtunge vnd widirwertikeit, druckes, lidens, elendes ader smacheit, ader was des ist, das man dar ynne frolich vnd geduldig were, also seynen liben jungern gewest synt vnd nicht sie allein, sundern alle vßerwelten frunde gotis vnd ware nachvolger Cristi. Sich vnd nym ware, wer nu libe, fleiß vnd ernst hir czu hette, der mocht wol bekennen werden den waren, ewigen fride, der do got ist, noch mugelikeyt der creature.

Capitulum 13

[Wie der mensch den bilden etwan czu frue vrlaub gibt.]

Eß spricht der Tauler: „Eß synt menschen yn der czite, die den bilden czu frue orlaup geben“, ee sie die warheit do von gelößen, vnnd dar vmmb das sie sich selber lößen, so mugen sie kume ader nicht czu der warheit gereichen. Vnnd dar vmmb solde man alle czeit mit fleiße war nemen der werck gotis vnnd seyner heischunge, tribunge vnnd vormanunge des menschen.

Capitulum 14

[Von dreyen graden, die den menschen furen czu volkommenheit.]

Nv sal man wissen, das nymant erlucht mag werden, er sey denne vor gereyniget, geluttert vnnd gelediget. Auch mag nymant mit got voreyniget werden, er sey danne vor erluchte. Vnd dar vmmb seynt drey wege: zum ersten die reynigunge, czum andern die erluchtunge, czum drittin die voreynunge.

Capitulum 15

[Wie alle menschen yn Adam synt gestorben vnnd yn Cristo widder lebendigk worden, vnd von waren gehorsam vnd vngehorsam.]

Alles, das yn Adam vnder ging vnd starb, das stunt yn Cristo wider auff vnnd wart lebendig. Alles, das yn Adam auff stunt vnd lebendig wart, das ging yn Cristo vnder vnd starp. Was was vnd ist aber daß? Ich sprech: war gehorsam vnd vngehorsam.

Was ist aber war gehorsam? Ich sprech: Der mensch solde also gar an sich selber steen vnd seyn, das ist, an selbheit vnd icheit, das er sich vnd das seyne also wenig suchte vnd meynete yn allen dingen, also ab er nicht were, noch seyne selbs als wenig entpfinden vnd von ym selbir vnd dem seynen also cleyne halden, also er nicht were, vnd als wenig von ym selber alß wenig von allen creaturen. Was ist danne das, daz do ist vnd da von zu halden ist? Ich sprich: alleyne eynes, das man got nennet. Sich, das ist war gehorsam yn der warheit vnd also ist eß yn der seligen ewikeit. Danne wirt nicht gesucht noch gemeynet ader gelibt danne das eyne, so wirt auch von nichte gehalden denne von dem eynen.

Hie bie magk man mercken, was vngehorsam sey. Das ist, das der mensche von ym selber etwas heldet vnd wenet, er sey vnd wisße vnd vormuge etwas, vnd sich selbir vnnd das seyne suchte yn den dingen vnde sich selbir lip hat vnd disßen glich.

Czu dem waren gehorsam was vnd ist der mensch geschaffen vnd ist den got schuldig. Vnde der gehorsam ist yn Adam vnder gegangen vnd gestorben vnnd ist yn Cristo auff gestanden vnd lebendig worden, vnnd vngehorsam ist yn Adam auff erstanden vnnd hat gelebet vnd yn Cristo gestorben. Ja die menscheit Cristi was vnd stunt also gar an sich selber vnd an all also ye kein creatur, vnd waz nicht anders dan eyn huß ader eyn wonung gotis. Vnd alles, das da got czu gehoret vnd das die selbe menscheit waz vnd lebte vnd eyn wonunge was der gotheit, des nam sie sich alles nicht an. Sie nam sich auch der selben gotheit nicht an, der wonunge sie was, noch alles deß, das die selbige gotheit yn yr wulde, thet ader liß, noch alles deß, das yn der selben menscheit ye geschach ader geliden wart; sundern yn der menscheit was wider annemen noch gesuch ader begirde, sundern alleyne eyn gesuche vnnd begirde, wie der gotheit genug geschee, vnd des selben nam sie sich nicht an. Von dissem synne kan man hie nu nicht mere geschriben ader gesprechen. Er ist vnaußsprechlich, er wart noch nye czu grunde gar auß gesprochen noch nymmer wirt, wan er wil sich wider sprechen noch schriben lan weder von dem, der es ist vnd weyß.

Capitulum 16

[Was do sey der alde mensche vnnd auch was do sey der newe mensche.]

Auch sal man mercken, wan man spricht von eynem menschen, das do ist alt, vnde von eynem nuwen menschen. Sich, der alt ist Adam vnd vngehorsam vnd selbheit vnd icheit vnd des gleich. Aber der nuwe mensch ist Cristus vnd gehorsam. Wanne man auch spricht von sterben vnd von vorterbenn vnd des gleich, so meynet man, das der alde mensch solde czu nicht werde, vnnd wan vnd wo das geschiet yn eynem waren, gotlichen lichte, ßo wirt der nuwe mensch wider geborn.

Man spricht auch, der mensch solde an ym selbir sterben, das ist, des menschen *icheit und selbheit soll sterben. Hie von spricht sanctus Paulus [Eph 4, 22. 24.]: „Leget abe den alden menschen mit seynen wercken vnd czihet an eyn nuwen menschen, der nach got geschaffen vnd gebildet ist“. Wer yn seyner selbheit vnd nach dem alden menschen lebet, der heißet vnde ist Adams kint. Er mag also ferre vnd also weßenlich dar jnne leben, er ist auch des teufels kint vnd bruder. Wer aber yn dem gehorsam vnd yn dem nuwen menschen lebet, der ist Cristus bruder vnd gotis kint.

Sich, wo der ald mensch stirbet vnd der nuwe geborn wirt, do geschiet die ander geburt. Da von Cristus sprach [10 3, 3.]: „Ir werdet dann anderwert geborn, so kumpt yr yn das reich gotis nicht“. Auch spricht sanctus Paulus [I Cor 15, 22.]: „Als alle menschen yn Adam ersterben, also werden sie yn Cristo alle wider lebendigk“. Das spricht also vil: alle, die Adam noch volgen yn dem vngehorsam, die seyn tod vnd werden nymmer lebendig den yn Cristo. Das ist dar vmmb, wanne alle die wil das der mensche Adam ist ader seyn kint, so ist er an got. Cristus spricht [Mt 12, 30.]: „Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich“. Wer nu wider got ist, der ist tod vor got. Hie nach volget, das alle Adams kint tod synt vor got. Aber wer mit Cristo yn dem gehorsam ist, der ist mit got vnd lebet.

Auch ist geschriben: Sunde ist, das sich die creatur ab kert von dem schepfer. Das ist abir dissem gleich vnd ist das selb, wan wer yn vngehorsam ist, der ist yn sunden, vnde die sunde wirt nymmer gebusset noch gebessert danne mit eyme widerkeren yn den gehorsam. Vnnd alle die wile der mensche yn deme vngehorsam ist, ßo wirt die sunde nymmer gebessert, er thu, was er thu. Das merck man, wan der vngehorsam ist selber die sunde. Vnnd kumpt er wider yn den waren gehorsam, so ist eß alles gebessert vnd gebußet vnd vorgeben vnd anders nicht. Diß ist mercklich. Vnd mochte der teufel czu dem waren gehorsam kommen, er wurde eyn engel vnd alle syne sunde vnd boßheit were gebessert vnd gebusset vnd were czu mal vorgeben. Vnd mochte eyn engel czu dem vngehorsam kommen, er were als balde eyn teufel, vnd ab er anders nicht meher thete.

Were eß moglich, das eyn mensch also gar vnd luterlich an sich selbir vnd an alle yn dem waren gehorsam were, als Cristus menscheit was, der mensche were an sunde vnd ioch eyns mit Cristo, vnd das selbe von gnaden, das Cristus was von natur. Aber man spricht, eß muge nicht seyn. Dar vmmb spricht man auch, nymant sey ane sunde. Aber wie daz sey, also sey eß. Doch ist das ware, so man dissem gehorsam nehir ist, so ye mynner sunde, so man ye verrer ist, ßo ye meher sunde. Kurtzlich ab der mensch gut, besser ader aller beßt sey, boß, boßer ader aller bòßt, sundig ader selig vor gote, das liet alczumal an dißem gehorsam vnd vngehorsam. Dar vmmb ist auch geschriben: So ye meher selbheit vnd icheit, ßo ye mer sunde vnd boßheit, ßo diß mynder, ßo auch des mynder. Auch ist geschriben: So meyn ich, das ist icheit vnd selbheit, mer ab nympt, ßo gotis ich, das ist got selber, mer zu nympt yn mir.

Sich, weren alle menschen yn dem waren gehorsam, ßo were kein leyd noch leiden, sundern lichte, synneliche leiden; das were aber nicht czu clagen. Das merck man: Wanne were ym also, ßo wern alle menschen eyns vnd nymant thet dem andern leid noch leiden an. So lebete vnd thete auch nymant wider got. Wo von sold danne leid vnd leiden komme? Abir nu leider synt alle menschen vnd alle die werlt yn vngehorsam. Wer nu eyn mensch luterlich vnd gentzlich yn dem gehorsam, also wir gleuben, das Cristus were vnd ioch was, er were anders nit Christus geweßen, ym were aller menschen vngehorsam eyn jemmerlich, bittirlich leiden, wanne alle menschen weren wider yn. Das merck man: Wanne der mensch yn dißem gehorsam wer eyns mit got, vnd got were selber ioch do der mensch.

Sich, nu ist alle vngehorsam wider got vnd anders nichts. In der warheit got ist nicht wider noch keyne creatur ader creaturen werck ader alles, das man genennen ader erdencken kan, ist nicht wider got ader got vnbeheglich danne alleyne der vngehorsam vnd der vngehorsam mensche. Kurtzlich alles, das do ist, behaget vnd gefellet got wol an alleyne der vngehorsam. Vnnd der vngehorsam mensche behaget ym also vbel vnd ist ym also gar wider vnd claget also ßere do von, das an der stat, do der mensche vnlidenlich vnd des befintlich vnd fullich ist, das ym wider ist, gerner hundert tode wulde leiden, uff das er den vngehorsam yn eyme menschen ertodet vnd seynen gehorsam da wider geberen mochte. Sich, alleyn nu lichte keyn mensche also gar vnnd luterlich yn dißem gehorsam ist, also Cristus was, nu ist doch moglich eynem menschen, also nahe dar czu vnd bey czu kommen, das er gotlich vnd vorgotet heißet vnnd ist. Vnnd so der mensche dissem ye nehir kumpt vnnd gotlich vnd vorgotet wirt, ßo ym alle vngehorsam, sunde vnd vngerechtikeit leit ist vnnd wirßer thut vnd groß, bitter liden ist. Vngehorsam vnd sunde ist eyns. Eß ist keyn sunde den vngehorsam vnnd was auß vngehorsam geschiet.

Quelle: Wolfgang von Hinten, Hrsg., Der Frankforter („Theologia Deutsch“). Kritische Textausgabe. München und Zürich: Artemis, 1982, S. 85–93.