Quelle
Rede des Bundesministers des
Auswärtigen, Genscher, vor dem Europäischen Parlament über die
Fortentwicklung der EG am 19. November 1981
[…]
Die Bundesregierung hat Ihre Initiative in Abstimmung mit der Regierung Italiens entwickelt. Der Entwurf für eine Europäische Akte ist als gemeinsamer deutsch-italienischer Vorschlag den Regierungen der anderen Mitgliedstaaten, der Präsidentin dieses Hohen Hauses und dem Präsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zugegangen.
Wir hoffen, daß diese Initiative die aktive Unterstützung des Europäischen Parlaments findet, dem nach der Überzeugung der Bundesregierung bei der Entwicklung zur Europäischen Union eine zentrale Rolle zukommt. Ich bitte Sie deshalb um Ihre Unterstützung.
Die Europäische Gemeinschaft befindet sich heute in der wirtschaftlich schwierigsten Lage seit ihrer Gründung: Das reale Sozialprodukt sinkt in diesem Jahr um etwa 0,5 Prozent, die Inflation steigt auf etwa 11,5 Prozent, die Zahl der Arbeitslosen erreichte schon im Juli die 9-Millionen-Grenze und wächst weiter. Von den 9 Millionen Arbeitslosen sind 4 Millionen Jugendliche unter 25 Jahren. Im Außenhandel hatte die Gemeinschaft 1980 ein Defizit von fast 120 Milliarden DM. Gegenüber den industriellen Hauptkonkurrenten USA und Japan betrug das Defizit dabei 45 beziehungsweise 20 Milliarden DM. Unsere Länder – darüber kann kein Zweifel bestehen – können diese schwere wirtschaftliche Herausforderung nur gemeinsam bestehen.
Frau Präsidentin, bei den wirtschaftlichen Problemen, vor denen wir stehen, geht es um die wirtschaftlichen Fundamente unserer Demokratien ebenso wie der Europäischen Gemeinschaft.
Dennoch dürfen wir unsere Anstrengungen nicht allein auf die Wirtschaftsfragen konzentrieren. Wir müssen vielmehr den Blick auf das große Ziel der politischen Einigung Europas richten. Denn gerade aus diesem Ziel werden wir Kraft zu solidarischem Handeln schöpfen, werden wir die Kraft schöpfen zu Entscheidungen auch in Wirtschaftsfragen, die nicht Flickwerk bedeuten, sondern wirkliche vorwärtsweisende Lösungen, zu Entscheidungen also, die nicht im nationalen Egoismus steckenbleiben, von dem niemand frei ist, auch mein Land nicht, sondern dynamisch aus der Krise heraus und über sie hinweg führen.
[…]
Bei unserer Initiative geht es im Grundsatz um dreierlei:
Erstens:
Sie soll weithin
sichtbar das umfassende politische Ziel der Einigung Europas vor unser
aller Augen stellen. Europäisches Handeln findet statt in fünf großen
Bereichen:
der Wirtschaftsgemeinschaft in Brüssel, der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, dem Europäischen Rat, dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Gerichtshof.
Einmal vollendet, wird die Europäische Union ein Gemeinwesen eigener Art sein, das sich mit den traditionellen Begriffen des Bundesstaates und des Staatenbundes nicht fassen läßt.
Die Europäische Akte, die wir jetzt vorschlagen, hat deshalb die Aufgabe, für diesen vielverzweigten Prozeß der europäischen Einigung und des europäischen Handelns das Ziel der Europäischen Union festzulegen. In einer Deklaration von hohem politischen Rang sollen sich die Mitgliedstaaten auf dieses Ziel verpflichten.
Zweitens:
Die Europäische
Akte soll für die fünf großen institutionellen Bereiche der
Zusammenarbeit einen Gesamtrahmen schaffen.
Wir wollen damit das Erreichte festigen, ungeschriebene Praktiken der Zusammenarbeit formalisieren und sichern, Anstöße geben für eine Weiterentwicklung des Bestehenden, und wir wollen vor allem ein kohärentes Zusammenwirken der beteiligten Institutionen miteinander vorantreiben. Die Akte enthält deshalb Vorschläge zum Beispiel für den Ausbau der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, und sie fordert, die Entscheidungsstrukturen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Politischen Zusammenarbeit unter der Verantwortung des Europäischen Rats zusammenzuführen.
Die Handlungsfähigkeit Europas auch nach außen macht es notwendig, die Außenpolitik der Europäischen Politischen Zusammenarbeit und die Außenwirtschaftspolitik der Europäischen Gemeinschaft zu einer kohärenten und umfassenden europäischen Politik zu integrieren.
Ein besonderes Anliegen ist es, Zusammenarbeit und Dialog zwischen Europäischem Parlament und Gemeinschaft, Europäischer Politischer Zusammenarbeit sowie Europäischem Rat kräftig weiterzuentwickeln und die Mitwirkungs- und die Kontrollfunktionen des Parlaments zu stärken. Wir greifen deshalb eine Reihe von Forderungen des Parlaments auf und versuchen ihnen, soweit es ohne Änderungen der Verträge möglich ist, zu entsprechen. Hier geht es um die demokratische Legitimation der Gemeinschaft. Ein starkes Parlament ist ein Motor für die europäische Einigung und ein Zentrum europäischen Bewußtseins. Ich möchte für die Bundesregierung hinzufügen, daß wir uns erhoffen, daß aus den Beratungen des Europäischen Parlaments gerade für diesen Bereich zusätzliche Anregungen kommen, die wir bei der Meinungsbildung im Ministerrat gern berücksichtigen wollen.
Ein weiteres wichtiges Ziel ist es, die europäischen Entscheidungsprozesse zu verbessern. Wir plädieren insbesondere dafür, in den Ministerräten die von den Verträgen vorgesehene Mehrheitsentscheidung auch in der Praxis wieder zur Regel, und die Berufung auf „vitale Interessen" zur Ausnahme zu machen.
Drittens:
Das bisher
Beschriebene zielt darauf, das in der europäischen Einigung bisher
Erreichte zusammenzufassen und die in ihm angelegten Möglichkeiten zur
Weiterentwicklung auszuschöpfen.
Es sollen darüber hinaus Anstöße für die Einbeziehung wesentlicher neuer Bereiche in die europäische Zusammenarbeit gegeben werden: In die außenpolitische Zusammenarbeit sollten auch Fragen der Sicherheitspolitik aufgenommen werden. Die Stimme Europas muß gerade in diesen Tagen deutlicher zu hören sein.
Wir sind uns bewußt, daß wir gerade hierbei mit Umsicht
vorgehen müssen. Aber die Einbeziehung der politischen und
wirtschaftlichen Dimensionen europäischer Sicherheit in die werdende
gemeinsame Außenpolitik halten wir für unverzichtbar. Dazu gehören:
– die gemeinsame Analyse weltweiter und regionaler Gefahren für die
Sicherheit der Gemeinschaft,
– die Entwicklung aktiver globaler
Politiken der Zehn, die solchen Gefahren entgegenwirken und dabei auch
die wirtschaftliche Sicherheit der Gemeinschaft und ihre Versorgung mit
Energie und Rohstoffen gewährleisten helfen,
– die Verbesserung der
Fähigkeit der Zehn, in Abstimmung mit anderen auf Krisen in der Welt dem
gemeinsamen Interesse entsprechend zu reagieren,
– und schließlich
und vor allem: die Entwicklung einer initiativen gesamteuropäischen
Politik der Zehn, die trotz der Teilung unseres Kontinents durch Dialog
und Kooperation, durch Vertrauensbildung, durch Rüstungskontrolle und
Abrüstung zu vereinbarter Stabilität auf der Grundlage eines
Kräfteausgleichsgewichts und schließlich zu einer europäischen
Friedensordnung hinführt, für die sie die politischen und
wirtschaftlichen Dimensionen zu entwickeln hat.
[…]
Quelle: „Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Genscher, vor dem Europäischen Parlament über die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft am 19. November 1981“, in Bulletin (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung), 23. November 1981, Nr. 110, S. 945-47; abgedruckt in Auswärtiges Amt, Hg., Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949 bis 1994. Köln, 1995, S. 481-483.