Kurzbeschreibung

Helmut Kohl, Bundeskanzler von 1982 bis 1998, galt in seiner Amtszeit als überzeugter Europäer und ein der Heimat eng verbundener Pfälzer. Das war für ihn kein Gegensatz, sondern im Gegenteil untrennbar miteinander verwoben, da die Geschichte Deutschlands – so Kohl – immer auch ein Teil der Geschichte Europas gewesen sei.

Europa als Heimat (Rückblick, 2004)

  • Helmut Kohl

Quelle

Heimat Europa

Welche Winde im Lauf der Zeit doch an einem Menschen vorbeirauschen, besonders in einer Übergangsperiode, wie ich sie erlebt habe. Als ich am 3. April 1930, einem Donnerstag, im Städtischen Krankenhaus von Ludwigshafen zur Welt kam, amtierten der alte Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg als Reichspräsident und Heinrich Brüning als Reichskanzler der Weimarer Republik. Meine Heimat, die Pfalz, war seit Ende des Ersten Weltkriegs von den Franzosen besetzt. Erst in jenem Sommer 1930 zog die Besatzungsmacht aus dem linksrheinischen Gebiet ab.

Die Pfälzer sind ein besonderer Menschenschlag. Das hängt mit ihrer Geschichte zusammen. Sie wissen zu feiern und Freude zu haben. Wein und Sonne hat der liebe Gott der Pfalz in reichem Maße geschenkt. Wie der Weinstock, der sich in die Erde eingräbt, sind die Menschen tief verwurzelt in ihrer Heimat und vertraut mit deren Geschichte und Geschichten um die Römer, die den Weinbau brachten, um den Dom zu Speyer, in dem deutsche Könige und Kaiser des Mittelalters zur ewigen Ruhe gebettet wurden, um die Reichstage zu Speyer und Worms.

Geographisch und vor allem geopolitisch ist meine Heimat ein europäisches Kernland. Davon künden das Heidelberger Schloss oder der Trifels über Annweiler, jene Burg, auf der die Salier die Reichskleinodien, die Insignien der kaiserlichen Macht, aufbewahren ließen. Besonders der Dom zu Speyer, im elften Jahrhundert als größte Kirche des Abendlands erbaut, ist für mich ein Symbol der Einheit der deutschen und europäischen Geschichte. Während meiner Kanzlerschaft habe ich viele Staatsgäste aus der ganzen Welt in den Dom geführt und erlebt, wie er wirkt in seiner Einfachheit, in seiner Klarheit, wenn die Sonne durch die Fenster dringt und die warmen Farben des Pfälzer Buntsandsteins zum Leben erweckt, so dass er förmlich zu uns spricht.

Die römisch-deutschen Kaiser herrschten nicht über einen Nationalstaat, sondern über ein frühes Haus Europa, das von Sizilien bis zur Nordsee reichte. Sie trugen das Bewusstsein der abendländischen Welt in sich, dieses antik und christlich geprägten Kulturkreises. Die Pfalz galt in ihrer Glanzzeit als Mittelpunkt des Heiligen Römischen Reichs, wurde aber später Spielball der Mächteinteressen. Der Dreißigjährige Krieg und der Pfälzische Erbfolgekrieg ließen ein geschundenes, entvölkertes Land zurück. Vor allem im neunzehnten Jahrhundert zwangen Missernten, materielle Not und der Kampf für die Freiheit viele Menschen zur Auswanderung.

Zwischen den historischen Daten muss man die Gesichter der Menschen sehen, die in diesen Zeiten bitteren Elends gelebt haben. Wir hatten unter der Grenzlage und Frankreichs Zug zum Rhein zu leiden. Jede Generation errichtete neue Kriegerdenkmale und Soldatenfriedhöfe. Die Menschen haben daraus ein besonderes Lebensgefühl entwickelt. Sie sind den Freuden des Daseins nicht ab- und dogmatischem Denken nicht zugeneigt. Wir Pfälzer haben unseren Freiheitssinn, haben ein gesundes Misstrauen gegen Ideologen und Ideologien – der Mensch ist wichtiger als alle Ideologie. Leben und leben lassen, lautet das pfälzische Toleranzprinzip, und Offenheit und Lebensart der Pfalz hängen sicher auch zusammen mit dem mediterranen Klima und französischen Einflüssen.

Das Hambacher Fest vom Mai 1832 steht bis heute für den Aufbruch der deutschen Demokraten. Damals kamen auf der Maxburg oberhalb von Hambach bei Neustadt in der Pfalz rund dreißigtausend Menschen zusammen, darunter auch Polen und Franzosen, und forderten ein freies, geeintes Deutschland und einen Bund der europäischen Nationen. Die Redner ließen das gemeinsame und freiheitliche Europa begeistert hochleben. Die wenigsten Deutschen wissen heute, dass damals auf dem Hambacher Schloss unsere schwarzrotgoldene Nationalfahne zum ersten Mal als Symbol für Demokratie und Vaterland flatterte. Während meiner Zeit als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz habe ich später eine Originalfahne von 1832 über dem Plenarsaal des Landtags in Mainz aufhängen lassen.

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Wichtig war für mich vor allem, geistig auf dem Boden der Heimat zu stehen. In Ludwigshafen bin ich aufgewachsen, in der Pfalz habe ich meine ersten Schritte getan und meine elementaren Erfahrungen gesammelt; dort wird immer mein Zuhause sein, dort werde ich begraben liegen. Aus dieser Liebe zur Heimat habe ich viel von meiner Kraft geschöpft. Die Verbundenheit mit den Wurzeln, beispielsweise auch bei Konrad Adenauer mit dem Rheinischen oder bei Theodor Heuss mit dem Schwäbischen, wirkt elementar. Regionales Bewusstsein ist nicht provinziell. Johann Wolfgang von Goethe wurde wegen seines Frankfurter Dialekts in Weimar kaum verstanden. Heimat und Vaterland gehören zusammen. Darum sagte ich später oft: Die Pfalz ist meine Heimat, Deutschland ist mein Vaterland, und Europa ist unsere Zukunft.

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Quelle: Helmut Kohl, „Heimat Europa“, in Erinnerungen, 1930–1982. München, 2004, S. 25–29. © 2004/2005 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.