Kurzbeschreibung

In seiner Antrittsrede hebt der neu gewählte Bundespräsident Gustav Heinemann Frieden als oberste Priorität der Politik hervor und wendet sich insbesondere an die junge Generation, um positive Änderungen in der Gesellschaft schrittweise hervorzurufen, warnt aber auch davor, Freiheiten, wie zum Beispiel die Wehrdienstverweigerung, leichtfertig auszunutzen.

Dem Frieden dienen (1. Juli 1969)

  • Gustav Heinemann

Quelle

Der Frieden ist der Ernstfall

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Als Bundespräsident habe ich keine Regierungserklärung abzugeben. Ich bin aus der Bundesregierung und aus dem Deutschen Bundestag ausgeschieden; ich habe alle Funktionen in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands niedergelegt. Nach dem Willen des Grundgesetzes stehe ich fortan denen zur Seite, die die politischen Entscheidungen zu vollziehen und zu verantworten haben. Wohl aber steht dem Bundespräsidenten gerade in dieser Stunde ein persönliches Wort zu.

Meine Damen und Herren, ich trete das Amt in einer Zeit an, in der die Welt in höchsten Widersprüchlichkeiten lebt. Der Mensch ist im Begriff, den Mond zu betreten, und hat doch immer noch diese Erde aus Krieg und Hunger und Unrecht nicht herausgeführt. Der Mensch will mündiger sein als je zuvor und weiß doch auf eine Fülle von Fragen keine Antwort. Unsicherheit und Resignation mischen sich mit der Hoffnung auf bessere Ordnungen. Wird solche Hoffnung endlich erfüllt werden? Das ist eine Frage an uns alle, zumal an uns hier, die wir kraft der uns erteilten Mandate Verantwortung für unsere Mitbürger tragen.

Ich sehe als erstes die Verpflichtung, dem Frieden zu dienen. Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken lernte, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir alle uns zu bewähren haben. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr.

24 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg stehen wir immer noch vor der Aufgabe, uns auch mit den östlichen Nachbarn zu verständigen. Das allseitige Gespräch über einen gesicherten Frieden in ganz Europa ist fällig und muß kommen. Mit dem deutschen Volk, dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung weiß ich mich einig in dem Willen zum Frieden. Ich appelliere an die Verantwortung in den Blöcken und an die Mächte, ihre Zuversicht auf Sicherheit nicht im Wettlauf der Rüstungen, sondern in der Begegnung zu gemeinsamer Abrüstung und Rüstungsbegrenzung zu suchen. [Beifall] Abrüstung erfordert Vertrauen. Vertrauen kann nicht befohlen werden; und doch ist auch richtig, daß Vertrauen nur der erwirbt, der Vertrauen zu schenken bereit ist.

Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben unserer Politik, Vertrauen aufzuschließen. Dieser Aufgabe sind alle Machtmittel unterzuordnen – die zivilen und die militärischen. []

Meine Damen und Herren, wir stehen erst am Anfang der ersten wirklich freiheitlichen Periode unserer Geschichte. Freiheitliche Demokratie muß endlich das Lebenselement unserer Gesellschaft werden. Nur wenn das gelingt, begegnen wir der Widersprüchlichkeit unserer Zeit, die ich darin sehe, daß der Bereich dessen, was der einzelne gestalten kann, enger wird, zugleich aber die Selbstbestimmung des einzelnen Raum gewinnt. Was ich meine, ist dieses: In einem zuvor nie erlebten Tempo macht sich die Menschheit die Schöpfung bis in den Weltraum hinein untertan. Der einzelne aber wird immer ohnmächtiger. Die Konzentration der Wirtschaft schreitet fort. Die ohnehin großen Bürokratien wachsen weiter. Was wird – so frage ich – aus dem freien Existenzraum der einzelnen? Ihr Anteil am Getriebe von Erzeugung und Verbrauch wird immer spurenloser, immer unpersönlicher, immer fremdbestimmter.

Ist es aber zugleich nicht auch so, daß wir eine neue Welle von Umbruch einer jahrhundertelangen Fremdbestimmung des Menschen in eine verantwortliche Eigenbestimmung erleben? Solcher Umbruch hat sich seit dem Ausgang des Mittelalters in verschiedenen Bereichen längst angebahnt. Er kommt aber jetzt in besonderer Breite und Intensität zu neuem Austrag.

Überall müssen Autorität und Tradition sich die Frage nach ihrer Rechtfertigung gefallen lassen. Weder die christlichen Kirchen mit ihren Glaubensaussagen und ihren Ordnungen noch der Staat mit seinen verfassungsmäßigen Organen wie etwa den Parlamenten, noch Sitte und Moral als solche oder in ihrem Verhältnis etwa zum Strafrecht oder zum Familienrecht, noch die Sozialordnungen – zumal in den Bereichen von Ehe und Familie, des Eigentums oder der Arbeit – sind heute von bohrenden kritischen Fragen ausgenommen. []

Wir bleiben in diesem unserem Leben an die relative Utopie einer verbesserten Welt gewiesen, die vernünftigerweise allein das Leitbild unseres Handelns sein kann. [Beifall] Das Geheimnis auch der großen und umwälzenden Aktionen besteht darin, den kleinen Schritt herauszufinden, der zugleich ein strategischer Schritt ist, indem er weitere Schritte in Richtung einer besseren Wirklichkeit nach sich zieht. Darum hilft es nicht, das Unvollkommene heutiger Wirklichkeit zu höhnen oder das Absolute als Tagesprogramm zu predigen. Laßt uns statt dessen durch Kritik und Mitarbeit die Verhältnisse Schritt für Schritt ändern!

Ich verstehe den Unwillen über die Trägheit in der menschlichen Gesellschaft bis in die Kirchen hinein. Zeitlebens bin ich selber ein ungeduldiger Mensch gewesen. Ich bin es immer noch. Das mag übrigens der Grund dafür sein, daß ich zur Unpünktlichkeit neige und zu Verabredungen gerne zu früh komme. [Heiterkeit] In dieser meiner eigenen Ungeduld verstehe ich sogar die radikalen Gruppen der unruhigen Jugend. Aber gerade sie kann ich aus meiner eigenen Ungeduld nur zur Verstärkung derer rufen, die den langen Marsch der Reformen bereits vor ihnen angetreten haben und fortzusetzen entschlossen sind. [Beifall]

Als ein besonderes Mittel des Umsturzes haben sich z. B. einige Gruppen der Jugend die Verunsicherung der Bundeswehr durch Dienstverweigerungen ausgedacht. Jedermann weiß, daß ich mich in den vergangenen Jahren bis in meine Zeit als Bundesjustizminister im kirchlichen Bereich sowohl als auch hier im Bundestag für eine faire praktische Ausgestaltung des Grundrechtes der Kriegsdienstverweigerung aus religiösen oder Gewissensgründen eingesetzt habe. Deshalb beklage ich es sehr, wenn dieses Recht mißbraucht wird. [Beifall] Jeden leichtfertigen Umgang mit den elementaren Freiheiten unserer Ordnung sollten sich gerade die oppositionellen Gruppen versagen, die ja selber des Schutzes dieser Freiheiten teilhaftig sein wollen und sein sollen. [Beifall] []

Meine Damen und Herren, anläßlich meiner Wahl sind mir aus allen Schichten und Berufen, zumal aus der jungen Generation, in großer Fülle Briefe zugegangen, die mit meinem Amtsantritt hohe, viel zu hohe Erwartungen verbinden. Ich nehme die Erwartungen ernst. Soweit sie sich auf persönliche Anliegen beziehen, sind es Hilferufe aus vielfältigen Bedrängnissen des täglichen Lebens, aus Not und Krankheit, Wohnungssorge, Strafhaft, aus Einsamkeit und Unrechtserleben. Solche Nöte sind offensichtlich größer, als unsere Wohlstandsgesellschaft gemeinhin annimmt. Aus vielen Zuschriften spricht aber auch eine Angst vor der Zukunft, Sorge um den Arbeitsplatz, die Furcht vor dem Altwerden.

In den letzten 24 Jahren ist vieles erreicht und geleistet worden; doch die Leistungen von gestern werden morgen schon nicht mehr zählen. Sie haben auch gestern nicht allem Genüge getan und werden es morgen vollends nicht tun, wenn wir sie nicht steigern. Der soziale Wandel schreitet fort. Deshalb sind wir alle gerufen, die Forderungen des Grundgesetzes nach dem Ausbau der sozialen Demokratie in steigender Bemühung zu verwirklichen. Wir werden erkennen müssen, daß die Freiheit des einzelnen nicht nur vor der Gewalt des Staates, sondern ebensosehr vor ökonomischer und gesellschaftlicher Macht geschützt werden muß. Der Einfluß der Verbände und ihrer Lobbyisten steht oft genug im Gegensatz zu unserer Ordnung, in der Privilegien von Rechts wegen abgeschafft sind, aber in der sozialen Wirklichkeit noch weiter bestehen.

Wir müssen uns in einer Leistungs-, Aufstiegs- und Bildungsgesellschaft entwickeln, in der die Vision der Freiheit für alle dadurch verwirklicht wird, daß jeder seine konkrete und persönliche Chance erhält. Nicht weniger, sondern mehr Demokratie – das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben.

Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland. Hier leben und arbeiten wir. Darum wollen wir unseren Beitrag für die eine Menschheit mit diesem und durch dieses unser Land leisten. In solchem Sinne grüße ich auch von dieser Stelle alle deutschen Bürger. [Lebhafter Beifall].

Quelle: Gustav Heinemann, „Der Frieden ist der Ernstfall“, Deutscher Bundestag—5. Wahlperiode—245. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 1. Juli 1969, S. 13664–13667. Online verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btp/05/05245.pdf. Der Rede ist abgedruckt in Christoph Kleßmann, Hrsg., Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970. Göttingen, 1988, S. 548–50.

Der Frieden ist der Ernstfall: Bundespräsident Gustav Heinemann während seiner Rede im Bundestag anlässlich seiner Amtseinführung (1. Juli 1969)

Quelle: Bundespräsident Gustav Heinemann während seiner Rede im Bundestag anlässlich seiner Amtseinführung, 1. Juli 1969. Foto: Kurt Rohwedder.
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Dem Frieden dienen (1. Juli 1969), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-169> [29.10.2024].