Kurzbeschreibung

In seiner ersten Regierungserklärung bilanziert der neu gewählte Bundeskanzler Helmut Schmidt die bisherigen Leistungen der sozialliberalen Koalition und hebt insbesondere den Ausbau der Sozialpolitik hervor, der von den Renten über Fragen der Mitbestimmung bis zum Bildungsbereich und der Gesundheitspolitik alle Bereiche umfasse und zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Bürger geführt habe.

Resümee der Sozialpolitik der Bundesregierung (17. Mai 1974)

  • Helmut Schmidt

Quelle

Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung

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Meine Damen und Herren, die sozialliberale Koalition ist seit 1969 der Motor des Fortschritts in der Bundesrepublik. Sie war das auch in den vergangenen 18 Monaten. Der Tätigkeitsbericht der Bundesregierung vom Dezember 1973 ist dafür ein eindrucksvoller Beleg. Lassen Sie mich bei der Zwischenbilanz zunächst auf die Schwerpunkte der bisherigen Arbeit dieser Legislaturperiode zu sprechen kommen.

Ich nenne als erstes die Steuer- und Kindergeldreform. Unser Steuerreformprogramm liegt dem Bundestag für diesen Teil der Lohn- und Einkommensteuer und des Kindergeldes seit Beginn dieses Jahres als ein Paket vor. Verabschiedet wurde vorher das neue Außensteuerrecht, das die Möglichkeit zur Steuerflucht eingeschränkt hat. Verabschiedet ist die Reform der Vermögensteuer und der Erbschaftsteuer. Die kleineren Vermögen haben wir dabei spürbar entlastet. Die Freibeträge der Gewerbesteuer werden zum 1. Januar des kommenden Jahres angehoben, und jeder zweite Gewerbetreibende wird dann keine Gewerbeertragsteuer mehr zu zahlen haben. []

Ich nenne an zweiter Stelle Mitbestimmung. Am 20. Februar hat die Bundesregierung den Entwurf des neuen Mitbestimmungsgesetzes beschlossen. Wir sehen in dieser Koalition in einer Mitbestimmung, die vom Grundsatz der Gleichberechtigung und der Gleichgewichtigkeit von Arbeitnehmern und Anteilseignern ausgeht, einen der wesentlichen gesellschaftspolitischen Aktivposten der sozialliberalen Koalition. Eine Gesellschaft, die sich wirtschaftlich und sozial nach vorne bewegen will, ist ohne Mitbestimmung und ohne die dazugehörige Mitverantwortung nicht zu denken. []

Ich nenne drittens das Bodenrecht. Zur Reform des Bodenrechts ist mit der Verabschiedung der Novelle zum Bundesbaugesetz durch die Bundesregierung ein weiterer wichtiger Schritt getan worden. Die Novelle wird einen Teil der Wertsteigerungen, die von der Gemeinschaft bewirkt worden sind, für die Gemeinschaft in Anspruch nehmen. Sie soll den Bodenpreisanstieg dämpfen, der Spekulation Einhalt gebieten und breiten Schichten unseres Volkes den Eigentumserwerb erleichtern.

Ich nenne viertens den Umweltschutz. Die Bundesregierung hat Vorsorge getroffen zum besseren Schutz der Lebens- und Umweltbedingungen. Das Bundesimmissionsschutzgesetz schafft die Voraussetzungen, gegen die Verursacher von Luftverschmutzung und Lärmbelästigung vorzugehen. []

Fünftens nenne ich die berufliche Bildung. Die Bundesregierung wird sich anstrengen, um unseren jungen Mitbürgern eine qualifizierte berufliche Bildung zu sichern. Sie hat Grundsätze für die Neufassung des Berufsbildungsgesetzes vorgelegt. Bei der Gestaltung dieses Gesetzes wird die Bundesregierung nicht an dem Rat und den Erfahrungen der Betroffenen aus der Praxis der beruflichen Bildung vorbeigehen. Wir wollen Gleichwertigkeit für die berufliche Bildung. []

Meine Damen und Herren, ich kann heute gewiß nicht alles aufzählen, was die sozialliberale Koalition seit der Bundestagswahl 1972 in den übrigen gesellschaftspolitisch bedeutsamen Bereichen verwirklicht oder auf den Weg gebracht hat. Ich nenne hier nur noch einige Beispiele.

Wir haben das System der sozialen Sicherung ausgebaut und die Sozialleistungen verbessert. Allein in den drei Jahren 1972, 1973 und 1974 sind die Renten um 44% gestiegen. Sicher, ein Teil davon ist durch Preissteigerung aufgezehrt worden. Tatsache bleibt, daß die reale Kaufkraft – nach Abzug der Preissteigerungen – für die Rentner binnen drei Jahren um 19% gestiegen ist.

Wirksame Verbesserungen gab es nicht nur bei den Sozialrenten, sondern auch in der Kriegsopferversorgung. Zusätzlich zu den Erhöhungen und den Strukturverbesserungen der letzten Jahre wurden die Termine für die Erhöhung der Kriegsopferrenten stufenweise vorgezogen.

Auch der Ausbau der Agrarsozialpolitik geht weiter. Im Zuge dieser Entwicklung wird das landwirtschaftliche Altersgeld ab 1. Januar 1975 dynamisiert.

Die betriebliche Altersversorgung wird in Zukunft – z.B. im Falle des Betriebswechsels oder im Fall des Konkurses – unverfallbar sein, und dies wird 12 Millionen Arbeitnehmern zusätzliche Sicherheit geben.

Bedeutende Verbesserungen für ältere Menschen, für Pflegebedürftige und Behinderte bringt das Dritte Gesetz zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes, das vor wenigen Wochen, am 1. April 1974, in Kraft getreten ist.

Der Humanisierung des Arbeitslebens dienen das neue Arbeitssicherheitsgesetz, das die Betriebe verpflichtet, Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit zu beschäftigen, und der Entwurf eines neuen Jugendarbeitschutzgesetzes.

Daß das neue Betriebsverfassungsgesetz und demnächst die Mitbestimmung wichtige Instrumente, auch zur Humanisierung des Arbeitslebens sind, muß ich hier nicht noch einmal betonen.

Der Kernpunkt des Aktionsprogramms für Rehabilitation, das neue Schwerbehindertengesetz, ist am 1. Mai in Kraft getreten, und ein Gesetz zur Angleichung der Leistungen der Rehabilitation liegt dem Parlament vor.

Der Gesundheitsschutz wird konsequent verbessert. Alle Krankenversicherten haben seit Beginn dieses Jahres einen Rechtsanspruch auf zeitlich unbegrenzte Krankenhauspflege. Einer besseren Krankenhausversorgung dient neben dem Krankenhausfinanzierungsgesetz auch die neue Bundespflegesatzverordnung.

Die Bundesregierung wird auch die medizinische Grundlagenforschung und die Forschung zur Krankheitsbekämpfung vornehmlich bei den weit verbreiteten Krankheiten, insbesondere was den Krebs angeht, systematisch fortsetzen.

Zugleich haben wir eine moderne Familienpolitik eingeleitet. Die Reform des Ehe- und Familienrechts steht im Bundestag zur abschließenden Beratung an. Das Gesetz über die elterliche Sorge erweitert den Schutz und die Rechte der Kinder.

Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang auch noch ein Wort zur Reform des § 218 des Strafgesetzbuches, zu einer Reform, um die in den Beratungen des Deutschen Bundestages in den letzten Wochen von allen Seiten mit großem Ernst gerungen worden ist. Ich wünsche mir, daß wir uns auch weiterhin in diesem Geist und in dieser gegenseitigen Achtung vor der Meinung des anderen begegnen. Alle unter uns hier sind durch die hinter uns liegende Entscheidung vor schwerwiegende Gewissensfragen gestellt worden. Beratung und Hilfe – getragen vom Verständnis der Gesellschaft für die in solchen Konfliktsituationen stehenden Frauen und Familien – sowie die Achtung vor der Würde der Frau und ihrem Verantwortungsbewußtsein gehören zum wirksamen Schutz des werdenden Lebens.

Wie ernst wir das nehmen – und nehmen müssen –, zeigen die neuen Angebote der Krankenversicherung für Beratung und Familienplanung, die Leistungen für berufstätige Mütter bei Erkrankung ihrer Kinder, das Angebot von Hauspflege in schwierigen familiären Situationen und damit die Gesamttendenz des Ausbaus unserer sozialen Sicherung, nicht nur den einzelnen, sondern auch den Familien mehr Lebenssicherheit zu geben.

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Quelle: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung von Helmut Schmidt, Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 100. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Mai 1974, S. 6593C—6605D. Online verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btp/07/07100.pdf