Kurzbeschreibung

Bernhard Christian Faust, Hofmediziner im Fürstentum Schaumburg-Lippe, bediente sich in seinem viel gelesenen Ratgeber zu medizinischen und pädagogischen Prinzipien der Aufklärung der wohlbekannten literarischen Form des christlichen Katechismus. Im katholischen Hochstift Würzburg wurde seine Schrift an alle Lehrer verteilt. Bemerkenswert an dieser selbstbewussten „Modernisierungsschrift“ ist deren Betonung des „Rationalen“ und des „Natürlichen“, deren Verständnis der Kindheit als gesondertem Lebensabschnitt, in dem das kindliche Potenzial für Güte und Glück verwirklicht werden sollte, sowie die Vermeidung religiöser Aspekte (insbesondere der Doktrin der angeborenen Sündhaftigkeit) – abgesehen von der aufklärerischen Berufung auf einen rationalen Gott.

„Ärztlicher Rat für die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder“ (1794)

  • Bernhard Christoph Faust

Quelle

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IV. Von der Wartung und Pflege kleiner Kinder.

45. Was ist dem kleinen, hülflosen Kinde das größte Bedürfniß?

Die Liebe und Sorgfalt der Mutter.

46. Kann diese Liebe und Sorgfalt der Mutter durch andere Menschen ersetzt werden?

Nein, nichts kommt der mütterlichen Liebe gleich.

47. Warum bedarf es mütterlicher Liebe und Sorgfalt?

Weil das Kind einer so mühsamen Wartung und Pflege, und einer so liebreichen Behandlung bedarf, daß nur die Mutter sie willig und gern erfüllt.

48. Wie müssen kleine Kinder gewartet und gepflegt werden?

Sie müssen immer frische, reine Luft haben, beständig trocken und rein gehalten, und alle Tage über dem ganzen Körper, auch auf dem Kopfe, mit kaltem, reinen Wasser gewaschen werden.

49. Warum muß dieß geschehen?

Weil Kinder dann viel ruhiger sind, nicht leicht wund werden, und viel besser wachsen und gedeihen.

50. Ist es gut, daß man kleine Kinder wickelt?

Nein, das Wickeln ist nicht gut; es verursacht den Kindern Angst und große, anhaltende Schmerzen; man kann sie nicht rein und trocken halten; und es schadet sehr dem Wachsthume des Körpers.

51. Ist das Wiegen der kleinen Kinder gut?

Nein; das Wiegen macht die Kinder unruhig, betäubt, trunken, schwindlich und dumm; und schadet daher gar sehr dem Körper und der Seele.

52. Ruhen und schlafen die Kinder, ohne daß man sie wiegt?

Ja, wenn die Kinder immer frische, reine Luft haben, trocken und rein gehalten, und in ihrer Ruhe nicht gestört werden, so ruhen und schlafen sie sanft; und das Wiegen, wie auch das Herumtragen der Kinder, ist ganz unnöthig.

(Anm. Daß die Seele des Menschen, von seiner frühesten Kindheit an, durch Wiegen, Herumtragen und Tändeln in Unruhe gesetzt wird; ist sehr unrecht und schädlich. Die Mutter muß liebreich und auf eine ruhige Art mit ihrem Kinde scherzen und spielen, sie muß das Kind und seine zarten Glieder sanft und viel bewegen, und sie muß es ruhig mit Gegenständen bekannt machen.)

53. Muß man überhaupt ruhig mit Kindern verfahren?

Ja; das muß man thun.

54. Was ist daher sehr schlimm?

Wenn man vielen Lärmen um kleine Kinder macht; und noch viel schlimmer ist es, wenn man sie erschreckt.

55. Darf man also Kinder nicht durch Furcht und Schrecken zur Ruhe zu bringen suchen?

Nein, das darf man ja nicht thun; denn sie können dadurch in Zuckungen und Krämpfe verfallen.

56. Darf man den Kindern beruhigende, schlafmachende Arzneyen eingeben?

Nein, sie machen einen ungesunden Schlaf, und sind sehr schädlich und gefährlich.

57. Wie lange muß die Mutter ihr Kind säugen?

Neun, bis zwölf Monathe.

(Anm. Eigentlich bis das Kind in jeder Kinnlade zwey Zähne hat. – Daß manche Mütter ihre Kinder 2 oder 3 Jahre lang säugen, ist unrecht und schädlich für Mutter und Kind.)

58. Welche Speisen sind den kleinen Kindern schädlich?

Mehlbreye, Pfann- und Eyerkuchen, und zähe, schwere, fette Speisen sind ihnen schädlich.

59. Was schaden diese Speisen, besonders die Mehlbreye?

Sie verstopfen die Eingeweide, und die Kinder bekommen durch diese unverdaulichen Speisen dicke, harte Bäuche, und zehren aus.

60. Welche Speisen sind den kleinen Kindern zuträglich?

Reine, unvermischte und ungekochte Milch, und dünne, nicht fette, Breye von Gries, zerriebenen Brodrinden, oder Zwieback, mit Wasser, oder einem Theil Milch gekocht, und oft frisch zubereitet, sind ihnen zuträglich.

61. Darf man den Kindern die Speisen vorkauen?

Nein, das ist eckelhaft und schädlich.

(Anm. Die kleinen Kinder an einem Sauglappen, (Zucker-Tis, Lutscher, Zulp, Schnuller) saugen zu lassen, oder an einem Nutsch- oder Zutschkännchen zu tränken, sind sehr schlimme, eckelhafte Gewohnheiten, die den Kindern Bauchgrimmen verursachen und viel schaden.)

62. Was ist überhaupt bey dem Ernähren der Kinder vorzüglich zu beobachten?

Daß sie ordentlich und mäßig genährt, und weder durch Milch, noch durch Speisen überfüttert werden: es darf daher Niemand den Kindern Speisen zustopfen, oder außer der Zeit geben; sondern die Aeltern allein müssen die Nahrung ihres Kindes besorgen.

63. Thun liebreiche, sorgfältige Mütter wohl, wenn sie ihre kleinen Kinder zu sich ins Bett nehmen?

Nein; es ist gefährlich und schädlich; die Kinder müssen daher allein in ihrem Bette liegen. []

64. Muß man kleine Kinder überhaupt sehr warm halten?

Nein, man muß sie nicht zu warm halten.

65. Ist es gut, daß man den kleinen Kindern den Kopf bedeckt?

Nein, es ist nicht gut; sie bekommen dadurch eine schmierige Borke und Grind auf den Kopf; und das Zahnen wird ihnen schwer und gefährlich.

(Anm. Von der Geburt an muß der Kopf der Kinder bloß und unbedeckt seyn. Die Mütter werden finden, wenn sie, wäre es auch in einer kalten Winternacht, die Hand auf den Kopf der kleinsten Kinder legen, daß derselbe immer warm, nie kalt, ist.)

66. Kinder sehen nach allen Gegenständen und vorzüglich nach dem Lichte, was muß man dabey beobachten?

Man muß sie gerade vor sich hin, nie von der Seite, sehen lassen, sonst lernen sie schielen.

67. Wodurch wird den Kindern das Zahnen schwer und gefährlich?

Durch Mützen und warme Kopfbedeckungen, durch Unreinlichkeit und durch schlechte Nahrungsmittel.

(Anm. Selbst die Natur verursacht beym Ausbruche der Zähne Schmerz, und das Kind zieht sich nachher noch manchen Schmerz selbst zu. Es wird gut seyn, hier zu bemerken: 1. Daß der Schmerz der erste Lehrer des Menschen sey; er lehrt ihn, Übel und Schmerz zu fliehn, und er macht ihn vorsichtig, mitleidig, menschlich und beherzt. 2. Reiner Körper-Schmerz thut in sehr vielen Fällen, und vorzüglich in den Jahren der Kindheit, dem Menschen und seiner Glückseligkeit weniger Schaden, als Seelen-Schmerz, wenn man einem Kinde unrecht thut, es erzürnt, böse macht und verächtlich behandelt; und eben so schlimm ist es Kindern Furcht und Schrecken einzujagen.)

68. Wenn Kinder anfangen gehen zu lernen, was muß man da beobachten?

Man muß sie weder durch Gängelbänder und Laufstühle, noch durch Halten an den Armen gehen lehren; sondern man muß die Kinder kriechen und das Gehen selbst lernen lassen.

69. Wenn Kinder anfangen zu sprechen, was muß man thun?

Man muß ihnen einzelne Töne, und nachher leichte Wörter, langsam und deutlich vorsprechen.

(Anm. Es ist von der größten Wichtigkeit, daß der Mensch, von der frühsten Kindheit an, zu einer deutlichen Sprache angehalten werde.)

70. Welches sind die vorzüglichsten Ursachen, daß der vierte Theil der Kinder in den ersten zwey Jahren stirbt?

Mangel an frischer, reiner Luft, Unreinlichkeit, schlechte, unverdauliche Speisen, besonders Mehlbreye, und Kummer und Elend sind die Ursachen, daß viele Kinder so früh sterben.

V. Von der körperlichen Erziehung der Kinder []

(Anm. vom dritten, bis zum neunten oder zwölften Jahre. – Vom dritten, bis zum siebenten Jahre hat das Kind zwanzig Milch-Zähne; und während dieser Zeit ist der Körper schwach. Die schwachen Milch-Zähne werden vom siebenten, bis zum zwölften Jahre mit starken Bleibenden-Zähnen verwechselt. Im neunten Jahre hat das Kind zehn Milch- und zwölf Bleibende-Zähne. Im zwölften Jahre hat der Knabe und das Mädchen vier und zwanzig große, starke Bleibende-Zähne, und erst von dieser Zeit an wird der Körper eigentlich stark.)

71. Wenn der Mensch gesund und stark werden soll, was muß dann vorzüglich geschehen?

Er muß in seiner Kindheit und Jugend verständig erzogen werden.

72. Ist dieß sehr wichtig?

Ja, davon hängt die Gesundheit, die Stärke und das Wohlseyn im ganzen übrigen Leben ab.

73. Was versteht man unter einer verständigen Erziehung?

Daß der Mensch übereinstimmend mit der Natur seines Körpers und seiner Seele erzogen werde.

74. Was muß man also wissen und kennen, um den Menschen verständig zu erziehen?

Die Natur und Ordnung, die Gott in den Menschen legte.

75. Was ist die Natur und Beschaffenheit des Menschen in den ersten neun oder zwölf Jahren des Lebens?

Daß sein Körper wachse und sich bilde; daß seine Seele den Körper gebrauchen lerne, und durch die Sinne empfinde und erkenne; und daß der Mensch, als Kind, in Gesellschaft mit Kindern froh und glücklich sey.

76. Was sucht die Natur also vorzüglich in den Jahren der Kindheit zu bewirken?

Die Bildung des Körpers.

77. Wird durch diese Bildung des Körpers auch die Vollkommenheit der Seele und des Menschen befördert?

Ja; je vollkommner der Körper ist, desto vollkommner wird die Seele, und desto mehr kann der Mensch seine und seiner Nebenmenschen Glückseligkeit befördern.

78. Kann die Seele den Körper gebrauchen, ohne es gelernt und ihn geübt zu haben?

Nein; die Seele muß viele Jahre, die ganze Kindheit hindurch, sich üben, um den vielfach zusammengesetzten Körper recht gebrauchen zu lernen.

(Anm. Durch ungefähr 440 Fleischstränge, oder Muskeln, die vermittelst einer noch viel größern Zahl Nerven von der Seele in Bewegung gesetzt werden, geschehen alle freywillige Bewegungen des Körpers: die Seele muß sich also viele Jahre, und zwar in der Kindheit, wo sie ganz Leben und Thätigkeit, und wo der Körper weich und geschmeidig ist, üben, wenn sie lernen will, diese 440 Muskeln zu den unendlich vielfachen Bewegungen des Körpers zu gebrauchen.)

79. Haben diese Uebungen auch Nutzen für den Körper?

Ja, seine Vollkommenheit wird dadurch erlangt, und der ganze Körper wird durch diese Leibesübungen von Leben und Wohlseyn durchdrungen.

80. Was nützen dem Kinde die Empfindungen und Erkenntnisse, die seine Seele durch die Sinne empfängt?

Sie sind der Grund und Stoff zum Verstande, und je mehr und deutlicher die Seele gesehen, gehört und empfunden hat, desto verständiger wird der Mensch.

81. Welchen vorzüglichen Nutzen hat es, daß die Kinder unter sich in Gesellschaft leben?

Sie lernen sich kennen, verstehen und lieben; und sie legen dadurch den Grund zur Eintracht, zur Liebe und zum Glücke des Lebens.

82. Und daß der Mensch als Kind in Gesellschaft mit Kindern froh und glücklich sey, hat das auch Nutzen für das übrige Leben?

Ja, es trägt sehr viel dazu bey, daß der Mensch auch im übrigen Leben seiner Bestimmung gemäß verständig, tugendhaft und glückselig werde.

83. Wodurch werden alle diese weisen Absichten der Natur erreicht und befördert?

Durch freye Selbstthätigkeit, und durch beständige und leichte Uebungen des Körpers und der Sinne in Gesellschaft mit Kindern.

84. Finden wir auch wirklich, daß dieß mit der Natur der Kinder übereinstimme?

Ja, Kinder sind ganz Leben und Thätigkeit, Sinn und Gefühl, Frohseyn und Lachen, und sie suchen, in Gesellschaft mit Kindern zu leben.

(Anm. Vom zwölften bis zum achtzehnten Jahre, in der Jugend, muß der geübte, geschmeidige Körper, durch Leibesübungen und körperliche Spiele stark; die kenntnißreiche, nachforschende Seele muß durch Nachdenken und Unterricht verständig, und der Mensch, dessen Kindheit so froh und glücklich dahin floß, muß als Jüngling tugendhaft werden: und das wird er, wenn er Freude und Leid für sich genossen und mit andern getheilt hat; und wenn er zur deutlichen Erkenntniß gekommen ist, daß er und alle Menschen gleichen Freuden und Leiden ausgesetzt sind, und daß ein allgütiger Gott Alles gut, und alle Menschen zur Glückseligkeit schuf.)

85. Worin muß also die körperliche Erziehung der Kinder vorzüglich bestehen?

Daß man die Kinder in Gesellschaft mit Kindern und in freyer Luft froh und selbstthätig seyn, und Körper und Seele üben lasse.

(Anm. Daß die Ältern bey dieser körperlichen Erziehung ihrer Kinder nicht allein Aufsicht auf sie haben und sie vor allem Schaden hüten, sondern auch, daß sie ihre Kinder sittlich und ehrbar zu allem Guten und durch ihr tugendhaftes Beyspiel zur Tugend erziehen werden, ist leicht einzusehen.)

86. Müssen die Kinder weiblichen Geschlechts die nähmliche körperliche Erziehung, als die Kinder männlichen Geschlechts in der frühen Kindheit erhalten?

Ja, denn sie müssen künftig, als Frauen, eben so gesund, als die Männer seyn.

(Anm. Daß das weibliche Geschlecht in der frühen Kindheit vom männlichen Geschlechte getrennt und verschieden gekleidet, und von Leibes-Bewegungen ab- und zum Sitzen angehalten wird: das hat die nachtheiligsten Folgen auf die Gesundheit und das Wohl des Menschengeschlechts.)

87. Wenn man Kinder vor dem neunten Jahre viel und anhaltend sitzen läßt, was geschieht alsdann?

So wachsen sie nicht recht, und werden für ihr ganzes Leben schwach und kränklich.

88. Was geschieht, wenn Kinder vor dem zwölften Jahre zu schwerer körperlichen Arbeit angehalten werden?

Sie werden frühzeitig steif, abständig und alt.

VI. Von der Kleidung der Kinder vom Anfange des dritten bis zum Ende des siebenten oder achten Jahrs []

102. Wie muß die eigentliche Körper-Kleidung der Kinder beschaffen seyn?

Sie muß die freye, leichte Bewegung des Körpers nicht erschweren, und den freyen Zutritt der frischen, stärkenden Luft zum Körper nicht verhindern; sie muß folglich frey, weit und offen seyn.

103. Was muß sie weiter für Eigenschaften haben?

Sie muß einfach, rein, leicht, kühl, wohlfeil, und leicht an- und abzulegen seyn; und diese Kinder-Kleidung muß verschieden von der Kleidung älterer und erwachsener Menschen seyn.

104. Warum muß die Kleidung der Kinder verschieden von der Kleidung älterer und erwachsener Menschen seyn?

Damit die Kinder unter sich leben, und nicht alles, was Erwachsene thun, nachahmen.

105. Woraus sollte also die Kleidung der Kinder bestehn?

Aus einem weiten, leinenen Kittel, weiß und blau gestreift, mit weiten, kurzen Aermeln, und einem Hemde von der nähmlichen Gestalt, als der Kittel. []

Quelle: Bernhard Christoph Faust, Gesundheits-Katechismus zum Gebrauche in den Schulen und beim häuslichen Unterrichte. Bückeburg, 1794, S. 17-28; abgedruckt in Jürgen Schlumbohm, Kinderstuben, Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden 1700-1850. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983, S. 53-60.