Kurzbeschreibung

Ungeachtet der Krankheiten und vorzeitigen Tode in ihrer Familie strahlt das von Gräfin Bernstorff (1789-1867) gezeichnete Bild ihrer Kindheit und familiären Umgebung Zufriedenheit, Behaglichkeit und Liebe aus. Bemerkenswert ist die gesellschaftliche Bandbreite ihrer wichtigsten Bezugspersonen. Die unmittelbare Familie war hier nur ein Teil innerhalb einer größeren Kette wichtiger menschlicher Beziehungen.

Eine Adlige aus Schleswig-Holstein sinniert über ihre idyllische Kindheit im späten 18. Jahrhundert (1896 posthum veröffentlicht)

  • Elise von Bernstorff

Quelle

Zwischen Hauptstadt und Landgut. Kindheitserinnerungen einer Tochter des schleswig-holsteinischen Adels

Elise von Bernstorff

Am 27. Januar 1789 bin ich in Kopenhagen geboren und erhielt am 15. Februar in der heiligen Taufe den Namen Elise.

Meine Eltern waren Magnus Graf v. Dernath, damals in dänischen Diensten, und Charlotte, geborene Gräfin Bernstorff. Mein Vater hatte keine Geschwister und starb als Letzter seines Stammes, da seine Söhne ihm vorangegangen waren. []

Mütterlicherseits war die nächste Verwandtschaft desto reicher, und ich nenne hier außer den Großeltern Bernstorff die Geschwister meiner Mutter, nicht nur weil sie eine so große Rolle in diesen Blättern spielen werden, nicht nur weil ich von Kind auf mit schwärmerischer Liebe und Verehrung an ihnen hing, sondern hauptsächlich weil der zweite, der Lieblingsbruder meiner Mutter, Christian, im Jahre 1806 mein Gemahl wurde. []

Mein Großvater mütterlicherseits war der dänische Staatsminister Andreas Petrus Graf v. Bernstorff, Besitzer des herrlichen Gutes Bernstorff bei Kopenhagen. []

Ich habe nur sonnige, glückliche Erinnerungen aus meiner frühen Kindheit. Ebenso heiter wie der Sommer mit seinen ländlichen Freuden verstrich mir der Winter in Kopenhagen. Die Einsamkeit, in der ich aufwuchs, weil mir Schwestern versagt und die Brüder mir entrissen waren, empfand ich keineswegs als solche, zumal nicht, ehe ich eine Gouvernante bekam, denn da spielte ich den ganzen Tag bei meiner Mutter im Zimmer umher, meistentheils mit Puppen, die ich wie Kinder liebte.

War die Mutter nicht zu Hause, so unterhielt mich ihre schwarze oder ihre blonde Schilling, zwei Schwestern, die in ihrem Dienst standen, oft auch der Kammerdiener Wald, mit dem ich bekannt geworden war, während er meine Mutter frisirte. In seiner vielseitigen Kunstfertigkeit schuf er mir herrliche Landschaften aus Moos und lehrte mich allerlei Niedlichkeiten. Meine Eltern ruhten indeß nicht, bis sie mir eine Gefährtin gegeben hatten; sie fanden solche in der Tochter eines alten Freundes der Familie, Charlotte Clausewitz, deren Vater gestorben war und die Seinigen in sehr bedrängter Lage hinterlassen hatte. Charlotte, mit mir gleichen Alters und schon früher meine Gespielin, ward mir also als Pflegeschwester beigesellt, während ihr Bruder Gottlob von den Großeltern Bernstorff aufgenommen und von der Großmutter leider sehr verzogen wurde.

Charlotte war ein hübsches, durch ihr stilles melancholisches Wesen für Viele anziehendes Kind; aber sie paßte nicht eben sehr zu ihrer Gespielin, der immer lachenden Lilli (so nannte man mich zu meinem unaussprechlichen Verdruß in meinen jüngeren Jahren). Sie war eine sehr schwermüthige Natur, und sie gefiel sich in dieser Melancholie. Ich erinnere mich meines Erstaunens, als sie, im Alter von 6 bis 7 Jahren, mit sentimentaler Miene mir gestand, daß ihr der todte Baum im Garten lieber sei als der grüne, weil er besser zu ihrer Stimmung passe.

Des Sommers pflegten meine Eltern entweder in Holstein bei den Großeltern Dernath auf deren Gut Hasselburg zu sein oder sich ein Landhaus in der Umgegend von Kopenhagen zu miethen, bis mein Vater späterhin das große Gut Antwortskow kaufte.

Auf einer unserer Reisen nach Holstein erinnere ich mich, im Nebenwagen mit meiner Wärterin fahrend, eingeschlafen und umgeworfen worden zu sein. Ein großer Apfel, den ich in der Hand gehalten, war mir entfallen; durch den Stoß erwachend, sehe ich den Apfel über den Weg rollen und glaube noch mein Zetergeschrei zu hören und das Erstaunen der Umgebung zu bemerken, als mir kein Glied, sondern nur der Apfel fehlte.

Von Hasselburg, dem freundlich-schönen Ort mit der wunderbar großen und herrlichen „Diele“, den kühn emporsteigenden Treppen und der schwindelerregenden Galerie ist mir außerdem nur noch eine Erinnerung geblieben, und zwar eine recht trübselige, die nämlich an meine erste und, ich hoffe, wohl auch meine letzte Lüge und die darauf folgende fürchterliche Strafe. Es war keine der beiden guten Schillinge, sondern die Zofe meiner Großmutter, die mich verführt hatte, verbotene Nüsse zu naschen und es zu verheimlichen. Ich wurde, namentlich bei Tisch, äußerst strenge gehalten, bis später meine Mutter die Zügel, an denen sie mich beim Essen leitete, so ziemlich fahren lassen mußte, als ich ihr an der großen Emkendorfer Tafel unerreichbar wurde, und so nachtheilig diese reichen und zu unerhört später Stunde stattfindenden Diners meiner Gesundheit gewesen sein mögen, so schreibe ich es doch dieser größeren Freiheit in der Wahl der Speisen zu, daß ich aus einem sehr eigenen und wählerischen Kinde eine Person geworden bin, die durchaus Alles gern ißt. Dies zur Beachtung für gar zu strenge Eltern.

Des Sommers in Rudegaard, dessen schöne Umgebung mir schon damals in dem grünen Zauberlicht erschien, welches noch alle seeländischen Gegenden in meiner Erinnerung verklärt, gedenke ich mit besonderem Vergnügen. Ich höre noch das Rauschen des mächtigen Waldes, der sich an unseren Garten anschloß und mir Schauer der Angst wie der Lust einflößte, ich freue mich noch der freieren besonnten Plätze in ihm, wo ich so herrliche Erdbeeren sammelte. Mein größtes Vergnügen war indeß damals der Umgang mit der alten Haushälterin Sagern, die mit mir spazierte und mir Märchen erzählte. Es machte mir Freude, ihre kleinen Habseligkeiten zu verstecken; einmal schnitt ich sogar den Schoß ihrer Kontusche ab und verkündete nun triumphirend, ich hätte sie modernisirt.

Schloß Antwortskow ward mir über Alles lieb. Es bildete ursprünglich ein Viereck, in dessen Mitte sich der Burghof befand. Ein Flügel des Schlosses war zum Theil verfallen. Die Kapelle, der Rittersaal, der Burghof, die niedrige alterthümliche Pforte, die als Hausthür gebraucht wurde, die langen öden Klostergänge, die schmalen Stiegen, Alles sprach mich romantisch an. Die Wohnung meiner Mutter war freundlich eingerichtet. Aus dem hellen Gartensaal trat man auf die hohen Terrassen, wo mich der Wind mit so lustiger Gewalt faßte und herumwirbelte. Unten in dem engen Thal gab es viel Erdbeeren. Auch für den großen Wald, in dem wir auf unseren Fuß- und Fahr-Promenaden immer neue Partien entdeckten, hatte ich eine mit Grauen gemischte Vorliebe. Eine Stelle darin, wo auf gekappten oder halb umgeworfenen, dürren Bäumen Hunderte von Reihernestern zu schauen waren, steht noch wie ein Spuk vor mir.

Hier in Antwortskow veranstaltete mein Vater seinem Schwiegervater, dem Minister Andreas Petrus Bernstorff, am 28. August 1796 eine herrliche Geburtstagsfeier, mit der ein Erntefest verbunden wurde. Nachdem wir Kinder den Großvater bekränzt, ihm auch wohl Verse hergesagt hatten, verkroch ich mich zwischen seinem Sessel und dem meiner Großmutter, die beim schönsten Wetter auf dem Schloßhof, dem großen Thorweg gegenüber, aufgestellt waren. Aus diesem trauten Versteck heraus freute ich mich bewundernd und staunend des ländlich prächtigen Aufzuges von so viel gut berittenen Bauern und der Menge bekränzter und mit Laubdächern versehener Wagen, auf welchen Bauern und Bäuerinnen laut jubelnd Kränze und Tücher schwangen. Beim folgenden Tanz auf dem festlich geschmückten und gedielten Hofraum wurde auch ich oft mit in die Reihen gezogen. Die Erhitzung beim Tanzen mußte ich jedoch mit dem ersten Kranksein meines Lebens büßen, denn in der Nacht befielen mich böse Krämpfe, die auch zwei bis drei Jahre hindurch von Zeit zu Zeit nächtlich wiederkehrten; auf mich machten sie aber so wenig Eindruck, daß ich nie begriff, weshalb sie meiner Mutter so viel Thränen kosteten. Die Kuren, die man mich dagegen brauchen ließ, namentlich die unzählig vielen Blutegel, mit denen man mich quälte, schienen gar keinen Einfluß auf das Uebel auszuüben, thaten dagegen meiner bis dahin kernfesten Gesundheit wohl dauernden Schaden.

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In Kopenhagen selbst hatte ich viel Umgang. In der Familie meines Onkels, des Grafen Baudissin (seine Gemahlin war die Schwester meines Vaters), war ich wie zu Hause; mit ihr besuchte ich alle Sonntage ein Kinderkränzchen, welches sich abwechselnd in den Häusern Brun, Kirstein, Luetke versammelte. Brun war damals noch ein kleiner Kaufmann; seine Gutmüthigkeit und Jovialität hatten ihm die Liebe der Jugendfreundin meiner Mutter, der nachherigen Dichterin Friederike Münter, gewonnen. Er lebte damals noch in glücklicher, ja zärtlicher Ehe mit ihr, und ihr Haus war der Sitz der Freunde. Vier muntere Kinder waren meine Spielgefährten; die älteste Tochter, Lotte, nannte ich schon Freundin, während die jüngste, die später berühmt gewordene Ida, uns häufig mit ihren drolligen Einfällen belustigte.

Eines dieser großen Kinderzirkel erinnere ich mich mit besonderem Entzücken. Es mag wohl am 27. Januar 1797 gewesen sein. Meine Gouvernante, Fräulein Randahl, hatte ein vortreffliches Mahl in meiner Küche bereitet, die ich zu Weihnachten erhalten hatte und die so groß war, daß ich, die ich ein sehr großes Kind war, aufrecht darin stehen konnte. Zwei Tage hatte die gute sachkundige Randahl gekocht, gebraten und auch das Amt eines Konditors versehen, wobei Charlotte und ich ihr helfen durften. Endlich als dieses herrliche Souper im unteren Saal auf einer, wie mir schien, unabsehbar langen, aber niedrigen gedeckten und servirten Tafel aufgetragen war, da fühlte ich mich überglücklich. An beiden Enden der Tafel machten Charlotte und ich die Honneurs und legten vor; den verdünnten und versüßten Wein kredenzte uns der herrliche Großvater Bernstorff. Ich sehe den großen, edlen, schönen Greis, wie er mit so freundlichem Vergnügen unsere Tafel umkreist, nach manchem der Gerichte fragt, Einiges kostet und unsere wirthschaftliche Geschicklichkeit rühmt; ich höre seine sonore Stimme, mit der er, eines unserer kleinen Gläser ergreifend, Gesundheiten ausbringt: die der ganzen Tischgesellschaft, die des Geburtstagskindes, die des väterlichen Hauses. []

Quelle: Gräfin Elise von Bernstorff, geb. Gräfin von Dernath, Ein Bild aus der Zeit von 1789 bis 1835.

Aus ihren Aufzeichnungen. Bd. 1. Berlin, 1896, S. 1–6; abgedruckt in Jürgen Schlumbohm, Kinderstuben, Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden 1700–1850. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983, S. 208–12.