Quelle
Die Concentration der wachsenden Bevölkerung durch das unsichtbare eherne Band, das die Peripherie von dem flachen Lande trennt, führt aber nicht nur zu einer Uebervölkerung wirklicher Wohnräume, sondern weiterhin zur Ausnutzung jedes nur irgendwie zur Beherbergung eines Menschen geeigneten Raumes. Keine Statistik kann die grotesken Dinge erfassen, die dabei geschehen, keine Phantasie sich die merkwürdigen Einzelfälle ausmalen, die in wachsenden Städten zu finden sind. Glücklicherweise brauche ich nicht zu Enquêten über diesen Punkt aufzufordern; Mitglieder wohlhabender Familien brauchen sich nur darnach umzusehen, wie ihre Dienstmädchen und die befreundeter Familien untergebracht sind, um die ganze Kasuistik einer von weiser Sparsamkeit geleiteten Raumausnützung zu erfassen, – mit dem Unterschiede, daß in den Armeleut-Häusern der Wirt solche Gelasse, Verschläge und Winkel als Zimmer vermietet. Die erscheinen dann in der Statistik als Wohnungen mit nur einem heizbaren Zimmer, und nicht selten als von sechs oder mehr Bewohnern occupirt[1].
Es ist freilich nicht nur die mehrfach genannte eherne Schranke [zwischen Stadtrand und flachem Land], die zur Concentration und zur Vermietung von Ställen, Trockenböden und Kohlenkellern als menschlichen Wohnräumen führt; in wirtschaftlich fortschreitenden Städten wirkt da noch ein anderer Prozeß mit, der wesentlich in zwei Symptomen sichtbar wird: die Verwandelung des früheren Centrums in einen großen Bazar, und die Umwandlung peripherer Teile in solche vom Typus des bisherigen Centrums.
Leider ist die heutige Wohnungs- und Wohn-Statistik noch gar nicht dazu vorgedrungen, die Zunahme der Läden, Magazine und Lagerräume in den belebten Teilen blühender Städte genau zu verfolgen und ihrem Einflusse auf die Concentration der Bevölkerung und den Preis der Wohnungen nachzugehen. Aber die einfache Inspection der Häuserfronten, ein paar Jahrgänge des Adreß-Buchs und gelegentliche Visiten in den dem Prozesse am meisten unterworfenen Häusern geben doch ein deutliches Bild von der interessanten Umwandlung centraler Stadtteile in einen einzigen Markt, dessen Plätze sich ziemlich gleichmäßig zwischen Engros-Handel, einschließlich der Banken, und elegantem Detail-Handel, verteilen.
Man sollte glauben, daß diese Metamorphose nun auch die ganze Bevölkerung aus dem Centrum verdrängen würde. Aber das gilt wohl für die Londoner City, für New-York zwischen Castle Garden und Postamt-Platz, und für einige Teile Hamburgs, aber nicht im Geringsten für die mittleren Großstädte wie Breslau, Magdeburg, Leipzig, Dresden, und selbst nicht für Berlin und München (eher noch für Wien).
Auf die wohlhabende Bevölkerung wirkt nicht nur die Kündigung, die der Umwandlung der Wohnung in Läden und Contore vorangeht, verdrängend, sondern auch der zunehmende Lärm und Wirrwarr in diesen Stadtteilen und besonders die Mode, welche andere Viertel fashionable macht; wer also financiell so weit ist, daß er nicht mehr in ein paar dunkeln Zimmern hinter dem Laden zu wohnen gezwungen ist, wandert in einen mehr peripheren Stadtteil ab. Schlimmer sind die kleineren „shopkeeper“ [Ladeninhaber] dran, die Wohnung und Laden in einem Geschoß oder doch in einem Hause haben müssen; die wachsende Ladenmiete steigert auch die Wohnungsmiete, man muß sich mit weniger Zimmern einrichten, oder Pensionäre, Zimmerherrn, Schlafgängerinnen aufnehmen. Damit ist der erste Schritt zur Zerstörung des home [ihres Heims] oder zum Eintritt ernster Wohnungs-Mißstände gethan.
Am allerfestesten aber sitzen die kleinen Leute im Centrum; bald ist es die Gewohnheit, die sie da festhält, bald die Unmöglichkeit, in der Peripherie eine Wohnung zu finden, meist aber erlaubt ihnen die Art ihrer Arbeit nicht, sich weiter vom Centrum zu entfernen. Die Heimarbeiterin will in der Nähe des Confectionshauses bleiben; Lohndiener, Droschkenkutscher, Aufwartefrau, Plätterin, Waschfrau, Mietsfrau, Dienstmann, Hausschneiderin, Hebamme, Copisten, Tanz- und Clavierlehrer dürfen „ihre“ Gegend nicht verlassen, wenn sie ihre Kundschaft nicht verlieren, wenn sie ihre reine Gelegenheitsarbeit noch finden wollen; sie bleiben und helfen sich in zweierlei Weise. Die Unternehmungslustigen, oder wer noch ein paar Groschen riskiren kann, mieten eine der leergewordenen „herrschaftlichen“ Wohnungen und beginnen das an Abwechselung und Verlusten reiche Leben der „möblirten Zimmervermieterin“ oder der Pensions-Inhaberin oder Schlafstellen-Vermieterin. Damit verfällt auch in dieser Schicht das Familienleben. Wenn auch Fälle, in denen ein alleinstehender Mann mehrere Schlafmädchen in einem Durchgangszimmer beherbergt, oder in denen eine jüngere Witwe mehr als 10 junge Fabrikarbeiter bei sich hat, nicht die Regel bilden[2], eine widerwärtige Promiscuität ist doch die Regel. Und welche Statistik erzählt uns von den vielen, vielen Amandas und Wandas mit großem Federhut und „separatem Eingang“, die alle Kinder im Hause so bewundern und beneiden, die immer so viele Süßigkeiten hat, deren regelmäßige und gelegentliche Besucher das ganze Haus so sorgfältig zählt?
Wo die Mittel zu einem solchen Wagnis fehlen – und manche gute Mutter mag die dem Volke sehr wohl bekannte große Kindersterblichkeit der Schlafgänger-Quartiere abschrecken –, und man sich doch nicht zum Verlassen des Centrums entschließen kann, da sucht man sich eben in einer zugigen Dachkammer, einem leer gewordenen Kellergelaß, einem irgendwie, irgendwo in den Winkeln und Gängen ehemals weiträumiger Patricierhäuser improvisirten Verschlage einzurichten, oder freundliche Wirte, die ihre Mieter nicht gern in die Vorstadt ziehen lassen, bringen noch schnell ein Seiten- oder Hintergebäude in ihrem Hofe unter, wo jedes Stockwerk ein paar Wohnungen aus Küche und Kammer bekommt. Wenn in einer solchen Wohnung außer Vater und Mutter nicht mehr als fünf Kinder sind, dann kommt sie nicht als „übervölkert“ ins „Jahrbuch deutscher Städte“, – auch wenn kein einziges Nebengelaß dazu gehört, wenn die Zimmer in den Sommernächten kochend heiß sind, wenn im Winter nie ein Sonnenstrahl in den Hofschacht fällt; für die Statistik ist eine „Küche mit Fenster“ allemal ein „heizbares Zimmer“, und eine Wohnung von zwei Zimmern mit weniger als acht Bewohnern ist nicht „übervölkert“. Denn es giebt ja sehr viele Wohnungen mit Küchen ohne Fenster.
Es ist für die Menschenanhäufung in solchen Wohnungen charakteristisch, daß nur ein kleiner Teil ihrer Bewohner ein Bett für sich hat. So ergab eine Enquête über (im Sinne der Statistik) übervölkerte Wohnungen Breslaus, im Jahre 1896, daß von deren Bevölkerung ihr Bett teilten
mit | 0 | 1 | 2 | 3 | 4 | Personen |
3291 | 8418 | 1305 | 104 | 26 | Bewohner |
Zu solchen und einigen anderen Konsequenzen führt die Umwandlung der centralen Teile von Städten mit wachsender Bevölkerung im reinen Markt. Die bewegliche wohlhabende Bevölkerung drängt unter diesen Einflüssen in die Peripherie, die aus anderen Epochen her noch weiträumig bebaut ist, Gartenhäuser und Villen enthält. Bald steht hier auch Haus dicht neben Haus, die Gärten erhalten sich noch hinter dem Hause, noch ist Licht, Luft, Spielraum da. Aber die Auswanderung aus dem Centrum steigt, der die Peripherie umklammernde Gürtel hält fest oder giebt nur an wenigen Stellen nach; noch enthalten die peripheren Zonen nur Wohnhäuser, aber Seitengebäude und Hinterhäuser, „Privatstraßen“ und „Gartenhäuser“ fangen an, die hinter der Straßenfront liegenden Hofräume und alten Gärten zu füllen; mancher alte Adelspalast, manches patricische Sommerhaus giebt sein weites Hinterland gegenüber den Lockungen der Speculanten auf. Und im Innern der Häuser giebt es nun zwar Parquet, Stuckdecken, Majolika-Oefen, Treppenläufer, Prachtdinge für die dem Centrum entronnenen besser situirten Detailkaufleute! Aber die alten weiten Räume trennen Zwischenwände, alles Nebengelaß wird in „Zimmer“ verwandelt und nur ein stilles Gemach behält seine alten Rechte, während Mädchengelaß, Vorrathsstube, Schrankzimmer, Speisekammer, Reserveverschlag, Plättraum, Badekabinet mit ein bißchen Stuck und Tapete schnell in herrliche Salons und Boudoirs verwandelt sind; ein tief unter dem Tapezierniveau stehender unverschämt bunter Luxus an widerwärtigen Decorationen grinst die Bewohner der „hochherrschaftlichen“ Wohnung von 7 „Zimmern“ für 2000 oder 3000 Mk. an, Licht und Luft benimmt ihnen die himmelhohe Steinwand gegenüber, der Seitenbau im Hof; und nach diesem schönen Muster verdecorirter und verstümmelter alter Wohnungen wachsen, wo noch ein Stückchen Garten frei war, 4 und 5 stöckige Kasten, mit dummen Gipsornamenten verunziert, in der ganzen Nachbarschaft hervor; Alles, was eine Wohnung behaglich macht, ist glücklich vertrieben, das moderne „feine Haus“ steht mit hohen Hinterhäusern, hohen Mieten und hochfahrenden „Vicewirten“ stolz vor dem erstaunten Jahrhundert. Von irgend einer Anwendung moderner, technischer Hilfsmittel keine Spur; das neue Haus ist ja technisch und in der Raumverteilung nur die Copie des in allen seinen Grundzügen nachträglich verpfuschten alten Hauses; modern ist an all diesen Straßenreihen, die nun wie Felsenschluchten sich auch hier und da in's platte Land hineinziehen, nur die rücksichtslose Ausnützung des dem Grundherrn widerspruchslos eingeräumten Luftmonopols. Denn geschlossene Straßenbebauung und wucherische Raumausnutzung im Hause heißt thatsächlich Ausbeutung eines unbeschränkten Luftmonopols. Ist es denn noch Luft, was dem Bewohner einer „herrschaftlichen“ Wohnung im zweiten Stock von der Straße her ins Fenster strömt, was zu ihm aus allen unteren Geschossen durch die Bodenfüllung emporsteigt, was ihn zu ersticken droht, wenn er aus dem Hinterzimmer, in dem seine Kinder arbeiten, in den engen Hofschacht hinunterblickt?
Zu den allerschlimmsten Eigenschaften der heutigen „herrschaftlichen“ Mietskasernen muß das Fehlen der Corridore in den Hinterhäusern gezählt werden. Da öffnet sich ein Schlafzimmer ins andre, jede Möglichkeit für Kranke, Ruhebedürftige, geistig Arbeitende, Nervöse, sich zurückzuziehen, für sich zu sein, Frieden zu finden, fehlt. […]
Aber wir im ganzen nördlichen und mittleren Deutschland lassen die kleinen Leute in Dachkammern und Kellern untergehen, in Schlafgänger-Quartieren verkommen und leben unter der wucherischen Herrschaft der Stadtagrarier in Häusern ohne reine Luft, ohne Sonnenlicht, ohne Behagen, ohne die tausend Hilfsmittel der modernen Technik, deren Heizungs-, Ventilations-, Beleuchtungs-, Wasch- und Aufzugs-Mittel wir wohl in unseren Irrenanstalten und Siechenhäusern einführen, aber nicht von dem Geize und der Bornirtheit der Bodenwucherer zu fordern wagen. Und von der Aesthetik der Wohnung will ich gar nicht zu reden anfangen, Bände ließen sich schreiben über den unsinnigen Aufputz der zwei oder drei Frontzimmer, über die schäbige Verwahrlosung der vier oder fünf engen Hinterzimmer, die man uns für 2000 oder 3000 Mark im Jahr als Wohnung zu bieten wagt.
Warum ertragen wir diese Misere und diese Sklaverei? Ist nicht unser Unbehagen und das schreckliche Wohnungselend der Arbeiter und Handwerker auf einem Boden gewachsen? Sind denn die 930 pro Mille (in Berlin) die 910 pro Mille (in Breslau) Mieter unter den Einwohnern unserer aufblühenden Städte nur eine Hammelheerde, die vor den 70 oder 90 pro Mille Einwohner, die ein Haus besitzen, zittern müssen?
Der Mangel kleiner Wohnungen für Familien mit bescheidenem Einkommen, das Fehlen von Wohnungen, die ein Wohnen, kein Zusammengepferchtsein, gewähren, für die Schichten, die 20 bis 25% eines hohen Einkommens dafür zu opfern bereit sind, ist eine ganz paradoxe Erscheinung.
Anmerkungen
Quelle: Hans Kurella, „Wohnung und Häuslichkeit“, Neue Deutsche Rundschau 10 (1899), S. 816–19; abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hrsg., Deutsche Sozialgeschichte 1870–1914. Dokumente und Skizzen. München: C.H. Beck, 1982, S. 56–60.