Quelle
I. „Predigt ans Großstadtvolk“ (1906)
Ja, die Großstadt macht klein.
Ich sehe mit erstickter
Sehnsucht
durch tausend Menschendünste zur Sonne auf;
und
selbst mein Vater, der sich zwischen den Riesen
seines Kiefern-
und Eichen-Forstes
wie ein Zaubermeister ausnimmt,
ist
zwischen diesen prahlenden Mauern
nur ein verbauertes altes
Männchen.
O laßt euch rühren, ihr Tausende!
Einst sah ich
euch in sternklarer Winternacht
zwischen den trüben Reihen der
Gaslaternen
wie einen ungeheuern Heerwurm
den Ausweg aus
eurer Drangsal suchen;
dann aber krocht ihr in einen bezahlten
Saal
und hörtet Worte durch Rauch und Bierdunst
schallen
von Freiheit, Gleichheit und dergleichen.
Geht
doch hinaus und seht die Bäume wachsen:
sie wurzeln fest und
lassen sich züchten,
und jeder bäumt sich anders zum
Licht.
Ihr freilich, ihr habt Füße und Fäuste,
euch
braucht kein Forstmann erst Raum zu schaffen,
Ihr steht und
schafft euch Zuchthausmauern –
so geht doch, schafft euch Land!
Land! rührt euch!
vorwärts! rückt aus! –
Quelle: Richard Dehmel, „Predigt ans Großstadtvolk“ (1906), Aber die Liebe: Meine Verse. Berlin, 1906, S. 171; abgedruckt in Jürgen Schutte und Peter Sprengel, Die Berliner Moderne 1885–1914. Stuttgart, 1987, S. 344–46.
II. „Die neue Würde“ (1903)
Parabel
Ein Künstler war deutscher Professor
geworden,
mit der Aussicht auf weitere Ämter, Titel und
Orden;
und weil er von Natur ein Bildhauer war,
erschien
nun vor ihm die ganze Schaar
von großen, größten und
allergrößten Tieren,
die er gewohnt war zu modellieren,
um
ihm huldvollst zu gratulieren.
Ein Pavian schnarrte: Herr
Professor,
ich hoffe, Sie meißeln nun immer bessor!
Ja,
schrie ein Esel: man soll seine schweren Pflichten,
Herr
Professor, immer edler verrichten.
Ein alter abgerackerter
Gaul
wieherte mit verzognem Maul:
Li-ieber Herr Professor,
es gilt des Daseins Leiden
immer wahrer in Holz zu
schneiden.
Ein dressierter Hofhund maulte: Wau, wau —
ein
Kater jaulte dazwischen: au, au —
Herr Professor, die Welt ist
schon voller Grauen,
man muß sie immer schöner
aushauen.
Pfui! grunzte ein Schwein: ich möchte
bitten,
Herr Professor, um immer reinere Sitten.
Ein paar
Kameele flehten demütigst:
Werter Herr Professor, verzeihen Sie
gütigst,
wir empfehlen, des Lebens Malicen
immer klarer in
Bronce zu gießen.
Ein Elefant blies in die
Trompete:
Hochgeehrter Herr Professor, ich vertrete
die
alte Weisheit der Brahmanen;
lassen Sie immer Tieferes
ahnen!
J — quiekte eins von zwei Karnickeln:
wir wollen
uns immer höher entwickeln!
Vier vergnügte Hamster aber hockten
im Kreise,
die schnauften in ihrer verfutterten
Weise:
Teurer Herr Professor, die Not lehrt beten,
lernen
Sie immer zweckvoller kneten!
Und — mahnte ein Truthahn mit
Gekoller:
natürlich immer ordnungsvoller!
Im Gegenteil!
kreischte ein Lämmergeier:
selbstverständlich immer
freier!
Ein Löwe brüllte: Professor, ich rate nur
immer
stolzere Positur!
Ein spukhaft hopsendes Känguru
walzte
vorüber und pfiff dazu:
Herr Professor, man will Sie blos
vexieren,
Sie müssen die Form immer feiner komplizieren.
Ein kluger Storch hob sacht ein Bein
und klapperte mit
Bedacht: Nein, nein,
bester Herr Professor, es gilt auf
Erden
nur immer einfältiger zu werden.
So erteilten die
Tiere, große und kleine,
wilde und zahme im Vereine,
dem
Herrn Professor ihren huldvollen Rat,
als plötzlich aus dem
Gratulantenstaat
eine goldschmucke
Paradiesvogelhenne
aufflog und gluckste: Wie ich dich
kenne,
Freund Künstler, wirst du dir nun vorspiegeln,
du
sollst unsre Göttin Natur verschniegeln,
und wirst deiner neuen
Würde grollen
und immer rauhbeiniger werden wollen.
Und
der Herr Professor knurrte was in den Bart
und sah wahrhaftig
aus wie behaart
und streckte verbiestert alle Viere.
Da
erschien zuletzt in seinem Quartiere
das wildeste und zahmste
der Tiere:
ein Weib. Das sprach: Lieber Mann, deine
Würde
ist freilich eine künstliche Bürde.
Aber wir
Menschen treiben's eigentlich nie
so natürlich wie das übrige
Vieh;
selbst die nackte Braut trägt an der Hand
ein
Ringelein als züchtiges Pfand.
Sieh, mit unsern Kleidern,
Zierden und Ehrenzeichen
will die alte Hexe Natur
erschleichen,
daß sich ihr irdisches Maskenfest
nicht noch
tierischer gehen läßt.
Drum, Künstler, laß dich ruhig
verhimmeln;
und damit deine Anbeter nicht verlümmeln,
lern
dich als würdiges Vorbild geberden,
denn der Mensch will —
immer noch menschlicher werden.
Da hat der neue Herr Professor
gelacht,
hat seiner Frau einen himmlischen Bückling
gemacht
und sich sein göttliches Haupthaar geschoren.
Seit
der Zeit sind die Herren Professoren
der deutschen
Kunst-Akademien
nicht mehr als Trampeltiere verschrien.
Quelle: Richard Dehmel, „Die neue Würde“ (1903), in Gesammelte Schriften in drei Bänden. Berlin, 1913, Bd. 1, S. 106-–9.