Kurzbeschreibung

Herbert von Dirksen (1882–1955) war ein Diplomat, der als deutscher Botschafter in mehreren Ländern, darunter Großbritannien, Japan und der Sowjetunion, tätig war. Dirksen war ein äußerst pragmatischer Diplomat, der von Historiker/innen als jemand angesehen wird, der die politische Situation in den Ländern, in denen er tätig war, in der Regel sehr klarsichtig einschätzte. Er glaubte zudem an die ethnische und kulturelle Überlegenheit der Deutschen – insbesondere gegenüber den Völkern Polens und der Sowjetunion. In seinen Memoiren von 1950 äußerte er sich häufig negativ über Polen und die polnische Bevölkerung und brachte seinen Stolz auf sein „rein deutsches Blut“ zum Ausdruck. Dirksen war zur Zeit der nationalsozialistischen Machtergreifung als Botschafter in Moskau tätig und wurde somit unmittelbar Zeuge der Verschlechterung der Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Die zunehmende antikommunistische Propaganda der Nationalsozialisten, die Massenverhaftungen von Kommunisten und Sozialisten und die offenen Angriffe auf die Demokratie verärgerten die Sowjets, die in den vorangegangenen zehn Jahren ein Muster in der deutschen Diplomatie beobachtet hatten, wonach Deutschland mit einer engeren Bindung an die UdSSR drohte, nur um von Frankreich und Großbritannien Zugeständnisse zu erhalten. In seinem Bericht über sein Treffen mit dem sowjetischen Volkskommissar Maxim Litwinow warnt Dirksen vor den Folgen dieser Spannungen, einschließlich der sich rasch verschlechternden Beziehungen zu Moskau. Das Dokument ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie die diplomatische Situation nur wenige Monate nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten angespannt und von Instabilität geprägt war, da die Diplomaten versuchten, sich auf die offen feindliche Haltung des neuen Regimes gegenüber seinen scheinbaren Verbündeten einzustellen.

Aufzeichnung des deutschen Botschafters in Moskau über eine Unterredung mit dem Volkskommissar Litwinow über die deutsch-russischen Beziehungen (16. Mai 1933)

Quelle

Geheim Moskau, den, 16, Mai 1933

A 978

Aufzeichnung über eine Unterredung mit dem Volkskommissar Litwinow am 16. Mai 1933 über die deutsch-russischen Beziehungen

Bei meiner heutigen Unterhaltung mit Herrn Litwinow brachte ich erst die Bedenken zur Sprache, die ich hinsichtlich der Einstellung der Sowjetöffentlichkeit zu Deutschland hegte. Ich verwandte dabei im allgemeinen dieselben Gesichtspunkte wie in meinen Unterhaltungen mit Herrn Woroschilow, Krestinski, Stern und Bossonow und gestaltete sie noch durch besondere starke Hervorhebung des Radek-Artikels in der Prawda sowie der heutigen Behandlung des Schacht-Interviews als deutschen Bankrott in der Iswestija aus. Ich legte ferner großes Gewicht auf die Unzulässigkeit der Hetze gegen die Reise Rosenbergs nach London, indem ich darauf hinwies, daß irgendwelche Anhaltspunkte für eine antisowjetische Betätigung Rosenbergs in London fehlten, daß das Blatt Rosenbergs, Völkischer Beobachter, sich ausgesprochen sowjetfreundlich verhalten habe und daß es nicht zulässig sei, in der Vergangenheit liegende Äußerungen eines Politikers nach Jahren immer wieder aufzuwärmen. Diese Gesamthaltung der Sowjetpresse stimme mich pessimistisch hinsichtlich der weiteren Entwicklung der deutsch­sowjetischen Beziehungen. Deutscherseits sei wirklich alles getan worden, was verlangt werden könne, und das Beschwerdematerial, das wir vorbringen könnten, übertreffe das sowjetische um ein Vielfaches. Ich erörterte dies im einzelnen durch Anführung eines Schulfalles unter vielen Hunderten, wie z. B. der wirtschaftlichen Vernichtung reichsdeutscher Bauern in der Sowjetunion durch konfiskatorische Steuererhebungen, Bezweiflung ihrer Staatsangehörigkeit usw.
Herr Litwinow erwiderte mit längeren Ausführungen , bei denen er sich in eine wachsende Erregung hineinversetzte. Er wiederholte hierbei zum großen Teil das schon bekannte Material der einzelnen Zwischenfälle (Derop, Sowjetklub in Hamburg, Bobrowitzer im Internierungslager), indem er beweisen wollte, daß der Prozentsatz der Übergriffe auf den einzelnen Sowjetbürger in Deutschland gerechnet sehr viel höher sei als für die Reichsdeutschen in der Sowjetunion. Er ging sodann ausführlich auf die Reise von Rosenberg nach England im besonderen und die Stellungnahme der nationalsozialistischen Führer zum Bolschewismus im allgemeinen ein. Hinsichtlich von Herrn Rosenberg führte er aus, daß er nun einmal der Leiter des Außenpolitischen Amtes der maßgebenden Partei in Deutschland sei; daß er selber aus dem früheren Rußland stamme; daß er nahe Beziehungen zu russischen und insbesondere ukrainischen Emigranten aufrechterhalten habe und vielleicht noch aufrechterhalte.

Ich widerlegte die diesbezüglichen Ausführungen des Volkskommissars, hob hervor, daß Rosenbergs Besuch in England sicherlich keine Beziehung zu dem deutsch-sowjetischen Verhältnis habe; daß das Blatt Rosenbergs, der Völkische Beobachter, sich durchaus positiv gegenüber der Sowjetunion geäußert habe. Wenn man Rosenberg als eine amtliche Persönlichkeit in Anspruch nehme, so müsse dasselbe von Radek und den anderen Sowjetpublizisten gelten, die jetzt gegen Deutschland schrieben.
Herr Litwinow versuchte vergeblich, sich diesen Argumentationen zu entziehen und Herrn Radek als einen Privatschriftsteller hinzustellen, dem es in diesem Falle nicht einmal gelungen sei, seinen Artikel in der Iswestija unterzubringen, und der sich zur Prawda habe flüchten müssen. Herr Litwinow widersprach sich aber selbst, indem er andererseits wieder hervorhob, daß die Einheitlichkeit der Außenpolitik der Sowjetunion durchaus gewahrt sei, weil sie im Außenkommissariat zusammengefaßt sei.
Während dieser Teil der Ausführungen Herrn Litwinows reine Spiegelfechterei war, führte er nachher aus, daß die sowjetische Öffentlichkeit sich gegenüber der Einstellung der nationalsozialistischen Partei zur Sowjetunion deswegen zurückhaltend verhalte, weil sie noch nicht überzeugt sei, daß diese Politik von Dauer sein werde. In Parteikreisen befürchte man, daß nach eingetretener Besserung der deutsch-französischen und deutsch-englischen Beziehungen sich eine antisowjetische Stimmung wieder geltend machen würde.
Ich bestritt diese Möglichkeit und sagte Herrn Litwinow, daß er doch schließlich nicht mehr verlangen könne, als daß sowohl die Handlungen und Taten der deutschen Regierung wie auch die Sprache der Presse positiv und sowjetfreundlich seien.

Herr Litwinow schloß seine Ausführungen mit den Worten, daß die Grundeinstellung der Sowjetregierung gegenüber Deutschland durchaus dieselbe geblieben sei; daß die Sowjetregierung überzeugt sei, mit einem nationalsozialistischen Deutschland ebenso freundschaftlich stehen zu können wie mit einem faschistischen Italien. Dasselbe gelte von den anderen Grundfragen der deutsch-sowjetischen Politik: von dem Verhältnis zu Polen und von der Bekämpfung des Versailler Vertrages. Es seien eben jetzt Schwankungen in der öffentlichen Meinung der Sowjetunion, die z. B. auch in dem Artikel Radeks zu Tage treten; diese Schwankungen seien auf die noch vorhandene Unsicherheit über die deutsche Politik zurückzuführen.

gez. von Dirksen

Quelle: Akten zur deutschen Auswärtigen Politik, Serie C 1933-1937, Das Dritte Reich: Die ersten Jahre, Bd. I/2. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1971, Dokument Nr. 245, S. 443-445.
Online verfügbar unter: https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00045940_00001.html

Aufzeichnung des deutschen Botschafters in Moskau über eine Unterredung mit dem Volkskommissar Litwinow über die deutsch-russischen Beziehungen (16. Mai 1933), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/deutschland-nationalsozialismus-1933-1945/ghdi:document-5181> [06.11.2024].