Kurzbeschreibung

Hélène Berr (1921-1945), die Tochter von Raymond und Antoinette Berr, zwei französischen Juden, war eine junge Frau, als Frankreich im Juni 1940 vor Deutschland kapitulierte. Ihr Vater war ein erfolgreicher Wissenschaftler, Industrieller und Veteran des Ersten Weltkriegs. Berr wuchs in einem wohlhabenden Pariser Haushalt auf und studierte englische Literatur an der renommierten Sorbonne. Als Frankreich fiel, saßen Berr und ihre Familie in Paris fest. Ihre Tagebücher, die im April 1942 beginnen, berichten eindrücklich über die Ängste und Befürchtungen der jüdischen Bevölkerung Frankreichs und über die Ereignisse, die viele französische Männer und Frauen unter der Nazi-Besatzung miterlebten.
Die hier wiedergegebenen Auszüge vermitteln einen kleinen Einblick in den Alltag jüdischer Bürger im von den Nazis besetzten Frankreich. Es gibt einige durchgängige Themen, etwa die tödliche Monotonie von Berrs Alltag. Gefangen in ihrer Pariser Wohnung, schildert Berr, was sie aus der Ferne miterlebt, unfähig einzugreifen, aus Angst vor dem Tag, an dem sie denselben Schrecken ausgesetzt sein könnte wie ihre Freunde und Bekannten. Das zweite sind die Gerüchte, die sie und vermutlich auch andere hören: von der Verschlechterung der Bedingungen für die jüdischen Gefangenen bis hin zu den verletzten, kranken und sterbenden französischen Juden nach der Razzia im Vél d‘Hiv.

An ihrem 23. Geburtstag im Jahr 1944 wurden Berr und ihre Familie nach Auschwitz deportiert. Nach acht Monaten unter grausamen Bedingungen wurde sie nach Bergen-Belsen verlegt. Sie starb im April 1945, nachdem sie brutal misshandelt worden war und kurz vor der Ankunft der britischen Armee, die das Lager befreite.

Eine Perspektive aus Paris: Auszüge aus dem Tagebuch von Hélène Berr (1942-1944)

Quelle

Freitagmorgen, 7 Uhr

3. Juli 1942

Ich wache mit einem einzigen klaren Gedanken auf: Wir sollen uns einer erbärmlichen Feigheit schuldig machen. Was war von den Deutschen auch anderes zu erwarten? Im Austausch gegen Papa nehmen sie uns, was wir am meisten schätzen: unseren Stolz, unsere Würde, unseren Widerstandsgeist. Keine Feigheit. Die anderen Leute glauben, dass wir uns bei dieser Feigheit auch noch freuen. Freuen! Mein Gott.

Und im Grunde werden sie froh sein, wenn sie uns nicht mehr bewundern und achten müssen.

Auch für die Deutschen hat der Handel Vorteile: Papa im Gefängnis, das empört zu viele Leute. Das ist eine schlechte Reklame für sie. Papa, der aus dem Gefängnis entlassen wird und sein Leben wiederaufnimmt, das ist ein Hindernis und eine Gefahr für sie. Aber Papa, der in der freien Zone verschwindet, eine Affäre, um die es ganz ruhig, ganz schal wird, das ist ihr Ideal. Sie wollen keine Helden. Sie wollen uns verachtenswert machen, sie wollen keine Bewunderung für ihre Opfer hervorrufen.

Aber wenn das so ist, dann gelobe ich, ihnen weiterhin mit all meinen Kräften im Wege zu stehen.

In mir gibt es zwei Gefühle, die mehr oder weniger auf dasselbe hinauslaufen, auch wenn sie unterschiedlicher Art sind: das erste ist das Gefühl von Feigheit, der man sich durch Fortgehen schuldig macht, eine Feigheit, zu der wir gezwungen werden, Feigheit gegenüber den anderen Internierten und den hilflosen Armen; und dann das Gefühl, die Freude am Kämpfen zu opfern, und das heißt, ein Glück zu opfern, weil es außer der Freude an diesem Heldenmut noch den Lohn der Freundschaft, der Gemeinschaft im Widerstand gibt.

Im Grunde stelle ich mich auf einen doppelten Standpunkt: für mich ist Fortgehen keine Feigheit, weil es ein riesiges Opfer ist und ich dort unglücklich sein werde, aber ich kann von den anderen nicht verlangen, so zu denken wie ich. Für die anderen Leute ist es Feigheit.

Montag, 5. Juli 1942

Heute Morgen ist die zweite Karte von Papa gekommen. Er beschreibt sein Leben, einen seiner Tage. Sie sind entsetzlich leer. In der Früh Wecken, daneben setzt er ein Fragezeichen, weil er bestimmt nicht viel schläft, um sieben Uhr. Appell um acht. (Neulich ist ein M. Muller, der krank war, einmal liegen geblieben, denunziert, und Dannecker geht bei seiner Kontrolle schnurstracks zu ihm hinauf, sieht ihn im Bett, mit einem allzu schönen Pyjama, er lässt ihn deportieren, 58 Jahre.) Von acht bis zehn Spaziergang, Hin- und Hergependel. Papa verwendet immer wieder lustige Ausdrücke, die aber unter den gegebenen Umständen herzzerreißend sind. Weiter unten spricht er von potatoes. Ich höre noch, wie er das Wort in Aubergenville ausspricht. Das ist tröstlich, weil wir uns dadurch ganz nahe sind, und zugleich quälend. Um halb zwölf Suppe, und um siebzehn Uhr dreißig. Dann beschäftigen sie sich mit dem Mittagsmenü. Der Nachmittag ist am längsten, weil er keine Siesta halten will, um sich den Schlaf für die Nacht aufzusparen. Er spielt Dame, Diamino, Bridge. Papa, der nie irgendetwas spielte, der, während Jean und die anderen im kleinen Salon in Auber eine Partie Diamino nach der anderen spielten, unbeirrbar an seinem Tisch arbeitete. Die Abende vergehen mit Plaudern. []

Mittwoch, 15. Juni 1943

23 Uhr

Etwas ist im Anzug, etwas, das eine Tragödie sein wird, vielleicht die Tragödie.

M. Simon ist heute Abend um zehn gekommen, um uns zu warnen, man hat ihm von einer Razzia für übermorgen erzählt, zwanzigtausend Personen. Ich habe gelernt, seine Person mit Katastrophen zu verbinden.

Den Tag damit begonnen, beim Schuster die neue Verordnung zu lesen, auch so beendet.

Eine Welle des Schreckens erfasst alle anderen Leute seit einigen Tagen. Es sieht so aus, als habe die SS das Kommando in Frankreich übernommen und als müsse darauf die Schreckensherrschaft folgen.

Alle missbilligen im Stillen, dass wir bleiben. []

Samstag, 18. Juli 1943

[]

Im Viertel von Mlle Monsaingeon hat sich eine ganze Familie, Vater, Mutter und fünf Kinder mit Gas umgebracht, um der Razzia zu entkommen.

Eine Frau ist aus dem Fenster gesprungen.

Mehrere Polizisten sind angeblich erschossen worden, weil sie die Leute gewarnt hatten, sie sollten fliehen. Man hat ihnen mit dem Konzentrationslager gedroht, falls sie nicht gehorchten. Wer wird den Internierten in Drancy zu essen bringen, jetzt, da ihre Frauen verhaftet wurden? Die Kleinen werden ihre Eltern niemals wiederfinden. Was sind die weiteren Folgen dessen, was vorgestern Abend oder im Morgengrauen geschehen ist?

Margots Cousine, die letzte Woche gegangen ist und von der wir wussten, dass ihr Versuch gescheitert war, wurde an der Linie geschnappt und ins Gefängnis geworfen; nachdem man ihren elfjährigen Sohn stundenlang verhört hatte, um das Geständnis zu erzwingen, dass sie Jüdin sei; sie hat Diabetes, nach vier Tagen ist sie gestorben. Es ist vorbei. Als sie im Koma lag, hat die Gefängnisschwester sie ins Krankenhaus bringen lassen, es war zu spät.

Mittwochabend, 21. Juli 1943

Andere Einzelheiten von Isabelle erfahren: fünfzehntausend Männer, Frauen und Kinder im Vél d‘Hiv, zusammengekauert, weil sie so dichtgedrängt sind, man steigt über sie hinweg. Kein Tropfen Wasser, die Deutschen haben Wasser und Gas abgedreht. Man steigt durch eine schmierige und klebrige Suppe. Es sind Kranke darunter, die aus dem Spital gezerrt wurden, Tuberkulosekranke mit der Tafel „ansteckend“ um den Hals. Frauen gebären hier. Keinerlei Versorgung. Kein Medikament, kein Verbandszeug. Erst nach unzähligen Bemühungen kommt man hinein. Morgen werden die Hilfeleistungen übrigens eingestellt. Man wird sie wahrscheinlich alle deportieren.

Mme Carpentier hat am Donnerstag in Drancy zwei Güterzüge gesehen, in denen Männer und Frauen wie Vieh, sogar ohne Stroh, zur Deportation zusammengepfercht waren.

Mittwoch, 24. November 1943

Zur Zeit gibt es eine Welle des Pessimismus. Ist es wegen dem Winter, dem dritten dieser langen, hoffnungslosen Winter? Ist es wirklich, weil man am Ende ist? Wer kann das sagen? Die menschliche Widerstandskraft hat unglaubliche Reserven. Niemals hätte man geglaubt, wir würden das ertragen können, was wir ertragen. Wie ist es möglich, dass zum Beispiel Mme Weill, die Mutter von Mme Schwartz, die ich gestern Vormittag gesehen habe, nicht verrückt wird? Wie ist es möglich, dass die alte Mme Schwartz, mit zwei deportierten Söhnen, einer deportierten Schwiegertochter, einem gefangenen Schwiegersohn, einer internierten Tochter und einem kindisch gewordenen Mann, nicht verrückt wird?

Angeblich ist in Deutschland die Partei noch so stark, dass der Krieg lange dauern kann. In den bombardierten Städten zwingt man die Männer zu bleiben; die Frauen werden in andere Fabriken geschickt; und die Kinder ab 6 Jahren werden Nazi-Schulen anvertraut. Die Kinder! Warum soll man versuchen zu glauben, die Deutschen würden die Lage wie wir betrachten, sie würden die beiden Seiten der Frage sehen, sie würden die Sinnlosigkeit des Krieges sehen? Man darf nicht versuchen, die geistige Verfassung der Deutschen von heute mit der unseren zu vergleichen. Sie sind vergiftet; []

Dienstag, 15. Februar 1944

Heute Vormittag in Neuilly habe ich Mme Kahn gesehen, die acht Tage in Drancy verbracht hat. Sie war in Orly verhaftet und, als Mitglied des Personals, am Tag vor der letzten Deportation freigelassen worden. Von ihr habe ich Einzelheiten gehört, die wir nur noch von denjenigen erfahren können, die aus der Deportation zurückkommen werden. Sie ist sozusagen bis an die äußerste Grenze gegangen. Danach kommt das Unbekannte, das Geheimnis der Deportierten.

In Drancy selbst ist das Leben erträglich. Acht Tage lang hat sie keinen Hunger gelitten. Was ich hören wollte, waren Einzelheiten über den Abtransport. Ich kenne Drancy, ich war im vergangenen Jahr zweimal vierzehn Tage lang jeden Tag dort; ich kann mir das Leben vorstellen, das man dort führt. Ich sehe die großen Fensterscheiben der Gebäude noch vor mir, und die Gesichter, die sich an die Fensterscheiben pressten, diese eingeschlossenen Menschen, die untätig waren oder das bisschen Essen, das sie hatten, zusammentrugen und auf ihren Betten aßen, zu jeder beliebigen Uhrzeit. Genau gegenüber von der PJ befand sich die Familie Klotz, eine in Tours verhaftete Familie, Vater, Mutter, Sohn und zwei Töchter, die Mutter, eine schöne, vornehme Frau mit weißem Haar. Das ist es, was ich erzählen möchte, doch wer bin ich, um das zu erzählen, neben denen, die dort gewesen sind und dort gelitten haben?

Ich habe nach genauen Einzelheiten gefragt, ein oder zwei Tage vor dem Abtransport tut man sich zu einer Zimmergemeinschaft zusammen, die dem Waggon entspricht, sechzig Personen, Männer und Frauen gemischt (bis Metz wahrscheinlich trennt man die Familien nicht). Für sechzig Personen sechzehn Strohsäcke, die auf dem Boden des plombierten Viehwaggons liegen, ein Aborteimer (vielleicht drei), die wann geleert werden? Als Lebensmittel erhält jeder bei der Abfahrt ein Paket mit: vier großen Salzkartoffeln, einem Pfund in Wasser gekochtem Rindfleisch, 125 g Margarine, ein paar Keksen, einem halben Schmelzkäse, eineinviertel Brot. Die Ration für sechs Reisetage.

Hat man Hunger? In dieser Luft, die zum Ersticken sein muss, mit dem Geruch der Eimer, dem Geruch der Menschen. Keine Entlüftung? Denke ich. Und die Krämpfe, nicht alle können sich hinlegen, sich hinsetzen, bei sechzig im Waggon.

Darunter Kranke oder Greise. Wenn man wenigstens mit gesitteten Leuten zusammen ist. Aber man muss auch auf unangenehme Nachbarschaft gefasst sein.

Um sich zu waschen, im Lager, Männer und Frauen zusammen. Mme Kahn sagt: „Man schafft es, sich zu waschen, ohne dass man gesehen wird, wenn die Leute anständig sind, und wenn sich eine Frau nicht ganz wohl fühlt, dann stellt sich während ihrer Toilette eine andere solange vor sie hin.“

Mme Kahn ist sehr mutig, sie ist Krankenschwester. Sie sagt: „Für prüde Leute ist das natürlich unangenehm.“ Aber die gibt es.

[]

Quelle: Hélène Berr, Pariser Tagebuch 1942-1944. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. München: Hanser, 2009, S. 91-92; 95; 102; 104;110; 233; 275-277.