Kurzbeschreibung

Mihail Sebastian (1907-1945) war ein rumänisch-jüdischer Journalist, Dramatiker und Romancier, der lange Zeit in der kosmopolitischen Stadt Bukarest lebte. Zeit seines Lebens erklärte Sebastian, dass er keine enge Beziehung zum Judentum hatte und sich stattdessen sehr als Rumäne fühlte. Die lange Tradition des Antisemitismus in Rumänien wich 1938 dem Einfluss des Faschismus. Ion Victor Antonescu, der designierte rumänische Regierungschef und Chef der rechten Allianz, der Eisernen Garde, verbündete das Königreich Rumänien 1940 mit dem NS-Regime. Im Anschluss an diesen Pakt begann die rumänische Regierung mit einem offiziell genehmigten Verfolgungsprogramm gegen die 759.000 jüdischen Einwohner Rumäniens. Obwohl der rumänische Staat zögerte, mit den Plänen der Nazis zur Massendeportation von Juden in den Osten zu kooperieren, starben durch gezielte Massaker, kleinere Zwangsumsiedlungen und schlechte Lebensbedingungen schätzungsweise 280.000 Männer, Frauen und Kinder in Rumänien aufgrund der vom Antonescu-Regime verfolgten Politik.
Sebastians Tagebuch zeigt, in welchem Ausmaß die rumänische Regierung und die nichtjüdischen Rumänen ihre eigene rassistische Politik verfolgten. Sebastian wurde weder deportiert noch war er gezwungen, in einem Ghetto zu leben. Die Tagebucheinträge zeigen jedoch die Diskriminierung, der er täglich durch seine Nachbarn ausgesetzt war, und die Auswirkungen der offiziellen Politik aus ungenügenden Lebensmittelrationen, konfisziertem Eigentum und Zwangsarbeit.
Nachdem er 1944 die drohende Niederlage Deutschlands akzeptiert hatte, musste Antonescu zurücktreten, und die verbliebenen Juden in Rumänien wurden nicht in die Konzentrationslager im Osten deportiert. Mihail Sebastian überlebte den Krieg, wie der letzte Eintrag zeigt, und begrüßte den Frieden skeptisch, als die Rote Armee in die Hauptstadt einmarschierte. Weniger als ein Jahr später starb er bei einem Verkehrsunfall.

Die Verfolgung der Juden in Rumänien: Auszüge aus dem Tagebuch von Mihail Sebastian (1938-1944)

Quelle

1938

Montag, 22. August

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Ich bin bei Marietta vorbeigegangen, um Nachrichten über Mircea zu erhalten. (Ihr Telefon funktioniert nicht.) Er ist seit dem 1. August in Miercurea-Ciuc.

Bei dieser Gelegenheit sah ich eine entfesselte Marietta, die vor Antisemitismus nur so kochte. Weder die Tatsache, dass sie mit mir sprach, noch die Tatsache, dass ich bei ihr war, konnte sie davon abhalten, auf die dickbäuchigen Juden und die Judenweiber mit ihren Juwele zu schimpfen, wobei sie etwa Hunderttausend „vernünftige“ Juden ausnahm, zu denen wahrscheinlich auch ich zähle, weil ich doch weder einen dicken Bauch habe noch ein Juwelenweib bin.

Ansonsten das ganze Vokabular der Porunca Vremii. Ich habe ihr das offen gesagt. Ich verließ sie mit einem Gefühl der Verbitterung.

1941

Montag, 4. August

Heute in den Morgenstunden gingen Polizisten und Kommissare in den verschiedenen Vierteln von Haus zu Haus und weckten die Menschen auf, um ihnen mitzuteilen, dass sich nicht nur die Juden zwischen 20 und 36 Jahren, sondern auch die zwischen 37 und 50 auf der Präfektur melden müssen. Atmosphäre unmittelbarer Gefahr. Es handelt sich um eine wahre Massenrekrutierung von Juden. Internierung in Lager? Kollektive Vernichtung? Als ich gegen zehn Uhr aus dem Haus ging, lag eine seltsame Atmosphäre über der Stadt. Eine Art nervöse Lebhaftigkeit. Hektische, hastige Gruppen. Fahle, bedenklich gestimmte Gesichter. Fragende Blicke, mit jener stummen Verzweiflung, die gewissermaßen zu einem jüdischen Gruß geworden ist. Ich bin schnell einkaufen gegangen, um die Rucksäcke für heute Nachmittag vorzubereiten, der Zeitpunkt, zu dem wir uns vorstellen sollten. Die Juden fallen in die Geschäfte ein, um alles Mögliche für die Reise zu kaufen. Zwei Stunden später gibt es in der ganzen Stadt nicht einen Rucksack mehr zu erwerben. In den Geschäften kaum noch Konserven, nur noch Reste (unmöglich, auch nur eine Sardinenbüchse zu bekommen). Urplötzlich verteuern sich die einfachsten Dinge. Ich ging in die Calea Väcäresti, um für Benu und mich zwei Hüte zu kaufen. Auf die Preisschilder von gestern (160 Lei) war heute schon mit Tinte der neue Preis (250 Lei) geschrieben worden.

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Dienstag, 9. September

Ab morgen früh sollten wir eigentlich den „sechszackigen Stern“ tragen. Die Anordnung war der Gemeinde und den Polizeirevieren schon überbracht worden, sie wurde jedoch nach einer Audienz von Filderman beim Conducätor444 widerrufen. Dieser Widerruf erfüllt mich nicht mit Freude. Ich hatte mich bereits an den Gedanken gewöhnt, dass ich einen gelben Stofffetzen mit einem Davidstern darauf tragen würde. Ich hatte mir schon all die Unannehmlichkeiten, die Risiken und Gefahren ausgemalt, aber nach anfänglicher Sorge hatte ich mich nicht nur damit abgefunden, sondern dieses Stück Stoff als eine Art Identitätsausweis angesehen. Mehr noch: als eine Art Medaillon, ein Abzeichen, das meine Entsolidarisierung von der Schande dieser Zeit, ihrer Ruch- und Ahnungslosigkeit symbolisiert.

Traf im Hof der Großen Synagoge, wo die jüdische Requisitionskommission arbeitet, allerlei alte Bekannte aus der Studentenzeit, von der Presse. Menschen, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich meine, im Vergleich zu ihnen schrecklich gealtert zu sein. []

Sonntag, 19. Oktober

War heute Morgen in der Philharmonie, wo Gieseking spielte (ein Konzert von Schumann, ein Brandenburgisches Konzert von Bach und Beethovens 4. Symphonie). Hatte die Eintrittskarte schon Anfang der Woche gekauft. Ich habe zuerst lange gezögert, bis ich mir schließlich kurz entschlossen sagte: Ich gehe hin, was soll’s! Aber bald schon hatte ich Gewissensbisse. Bin ich denn so oberflächlich und skrupellos, in dieser so bitteren Zeit in ein deutsches Konzert zu gehen?! Hunderte von jüdischen Familien aus der Bukowina werden just in diesem Augenblick deportiert. Tausende von Juden schuften in Arbeitslagern, unter ihnen Benu! Stündlich und täglich geschehen weitere Gräuel, werden uns weitere Bürden und Demütiungen auferlegt – und ich gehe in die Philharmonie! Also war schon entschlossen, die Karte zurückzugeben und auf gar keinen Fall zum Konzert zu gehen. Doch als meine Entrüstung nachließ, meldete sich eine andere, listige Stimme: Warum sollen wir Leichname sein? Warum uns absurde Entbehrungen auferlegen? Warum auf die wenigen, uns verbliebenen Freuden verzichten? Ich habe seit dem Frühling, seit sie mir das Radio Wegnahmen, keine Musik mehr gehört. Ein Konzert, noch dazu ein so schönes, wird mich für wenige Stunden vergessen lassen und glücklich machen. Was für andere Freuden habe ich denn? Bis gestern Abend, bis heute früh wusste ich nicht, ob ich hingehen würde. Ich ging hin.

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Dienstag, 21. Oktober

Alle Juden sind verpflichtet, Kleider an den Staat abzugeben, wie es in einem in den Abendzeitungen bekannt gegebenen Gesetz heißt. Für sieben Einkommenskategorien, von jenen ohne Einkommen bis zu jenen, die eine halbe Million Lei im Monat verdienen, wird eine bestimmte Quote für die Kleiderabgabe festgesetzt. Es fällt mir schwer, den ganzen Text hier zu kopieren, obwohl er in antisemitischer Hinsicht vielleicht das Innovativste und Maßloseste ist, was ich bisher gelesen habe. Ein Mensch, ein Jude, der 10 000 Lei pro Monat verdient, muss Folgendes abgeben: 4 Hemden, 10 Unterhosen, 4 Paar Socken, 4 Taschentücher, 4 Handtücher, 4 Pullover, 3 Anzüge, 2 Paar Stiefel, 2 Hüte, 2 Mäntel, 2 Wolldecken, 2 Matratzenbezüge, 2 Kissenbezüge, 2 Bettlaken. Die Zahlen aus der Kategorie der Höchstverdiener sind schier unglaublich: 36 Hemden, 12 Anzüge, 12 Wintermäntel ... Das hört sich alles so grotesk an, dass ich mir nicht einmal sicher bin, ob es sich hier nicht um eine Verhohnepipelung handelt. Der Wortlaut des Gesetzes trägt keine Unterschrift. Ich frage mich, ob der Text nicht in der Druckerei von irgendeinem Clown in die Zeitung geschmuggelt wurde. Denn wenn das ernst gemeint ist, bleibt einem das Lachen im Halse stecken, und man ahnt die Tragik. Der Preis der geforderten Sachen übersteigt bei weitem das jeweilige Einkommen! Selbst wenn jeder Jude seinen gesamten Verdienst investierte, könnte er die geforderten Sachen noch immer nicht kaufen. Die Strafe bei Nichtbefolgung beläuft sich auf fünf bis zehn Jahren Haft und eine Geldbuße von 100 000 bis 500 000 Lei.

Hatte eine lange, schlaflose Nacht. Erst gegen vier Uhr morgens konnte ich einschlafen. Dachte den ganzen Tag an die Einzelheiten meiner möglichen Ausreise. Lebe nun mit einer neuen Obsession.

1942

Donnerstag, 10. September

Der Zug der deportierten Juden fuhr gestern ab, nachdem er einige Stunden in einem Außenbezirk der Stadt Halt gemacht hatte. Ein Lastwagen voller Nahrungsmittel und Kleider kam zu spät, verfolgte den Zug umsonst bis zur nächsten Haltestelle und machte schließlich kehrt. Blankes Entsetzen. Hier ist kein Platz mehr für irgendwelche Gefühle, Gesten oder Worte.

Ich war mit Aristide auf dem Belu-Friedhof. Er brachte Blumen an Mafaldas Grab (22 Monate seit dem Erdbeben). Doch ich musste an die Millionen namenlosen Toten ohne Gräber denken, vor allem an die langen Kolonnen von nicht mehr ganz lebendigen, aber auch noch nicht ganz toten Juden, die man systematisch in eine teuflische Agonie versetzt. Ein großes Erdbeben wäre da noch eine Wohltat. Mafaldas Glück war es, innerhalb weniger Sekunden sterben zu dürfen. Ein einziger Augenblick des Schreckens, keine Tage, Wochen, Monate oder Jahre.

Die Juden erhalten alle fünf Tage kein Brot. Die Zuckerration für Juden wird von 200 auf 100 Gramm herabgesetzt, während die Christen weiterhin 600 Gramm erhalten.

1944

Samstag, 16. September

Nein, ich werde keine Gefühle der Enttäuschung aufkommen lassen. Ich habe kein Recht dazu. Die Deutschen und der Hitlerismus sind verreckt. Das ist genug.

Ich habe tief in meinem Herzen immer gewusst, dass ich bereitwillig mit meinem Leben bezahlt hätte, um den Zusammenbruch Deutschlands auch nur um eine Sekunde zu beschleunigen. Deutschland ist nun am Boden – und ich lebe.

Was kann ich denn noch mehr verlangen. So viele Menschen sind gestorben, ohne mit ihren eigenen Augen den Fall der ekelhaften Bestie zu erleben! Wir, die wir noch am Leben sind, hatten dieses unglaubliche Glück.

Und wie weiter? Ich weiß es nicht. Das Leben beginnt, ein Leben, das gelebt werden muss. Das Einzige, wonach wir uns gesehnt haben, war die Freiheit. Nicht eine neue Definition der Freiheit, sondern die Freiheit. Nach so vielen Jahren des Terrors haben wir es nicht mehr nötig, dass man uns erklärt, was Freiheit ist. Das wissen wir schon selbst. Keine Floskel kann sie ersetzen.

Quelle: Mihail Sebastian, „Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt“. Tagebücher 1935-44. Hrsg. Edward Kanterian. Aus dem Rumänischen von Edward Kanterian und Roland Erb, unter Mitarbeit von Larisa Schippel. Berlin: Claassen, 2005, S. 522; 543-544;569-570;572-573;661-662;794-795.