Kurzbeschreibung

Am 27. Februar 1943 begannen SS und Gestapo mit der Deportation von 11.000 Juden und ihren Familien aus dem „Altreich“ nach Osteuropa zur Arbeit in Zwangsarbeitslagern. Die meisten dieser Juden arbeiteten bereits als Zwangsarbeiter in Rüstungsbetrieben in ganz Deutschland, aber die Nazis, welche die „Fabrikaktion“ anordneten, argumentierten, dass diese Männer nun eine Belastung für die Kriegsanstrengungen des Reiches darstellten und umgesiedelt werden müssten. Der Großteil der betroffenen Bevölkerung lebte in Berlin, wo es zu dieser Zeit noch 7.000 Juden gab. Als die Gestapo sich aufmachte, diese Männer zu verhaften, stellten mehrere der Beamten fest, dass viele von ihnen Papiere besaßen, die sie von der Deportation ausschlossen – fast 2.000 Juden, die deportiert werden sollten, waren mit „arischen“ Frauen verheiratet und galten daher als privilegiert. Ohne dies zu ahnen, wurden die 2.000 Männer verhaftet und vorübergehend in der Rosenstraße 2-4 inhaftiert. Die Ehefrauen dieser Männer versammelten sich aus Protest zwei Tage hintereinander vor dem Gebäude und forderten die Rückkehr ihrer Ehemänner. Die SS ließ die Männer zwar frei, verweigerte ihnen aber die Rückkehr an ihren Arbeitsplatz in der Munitionsfabrik in der Hauptstadt. Diese beiden Tagebuchauszüge, einer von Ursula von Kardorff und der andere von Ruth Andreas Friedrich, beschreiben unter anderem die „Fabrikaktion“ und die Proteste in der Rosenstraße.

Die Wirksamkeit der Rosenstraßenproteste ist unter Historiker/innen umstritten. Es steht zwar fest, dass die Proteste Menschenleben retteten und die Wut von Menschen, die in die von den Nazis aufgestellten rassischen Kategorien fielen, auf das Regime eindrucksvoll zum Ausdruck brachten, doch andere Indizien deuten darauf hin, dass die SS und die Gestapo bereits vor den Protesten beschlossen hatten, dass diese Männer nicht deportiert werden würden. Goebbels schrieb jedoch in sein Tagebuch, dass er die Verhaftungen aufgrund des öffentlichen Protests, den sie auslösten, bedauerte.

Frauen protestieren gegen die Deportation ihrer jüdischen Ehemänner (März 1943)

Quelle

I. Aus Ursula von Kardorffs Tagebuch

3. März 1943

Frau Liebermann ist tot. Tatsächlich kamen sie noch mit einer Bahre, um die Fünfundachtzigjährige zum Transport nach Polen abzuholen. Sie nahm in dem Moment Veronal, starb einen Tag später im Jüdischen Krankenhaus, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Welch ungeheuerliche Funktion des Bösen wird hier ausgeübt, und warum bedient es sich gerade unseres Volkes? Durch welche Veränderung ist es eigentlich möglich geworden, aus einem im Durchschnitt gutmütigen und herzlichen Menschenschlag solche Teufelsknechte zu formen? Das spielt sich in einem kaltbürokratischen Vorgang ab, bei dem der einzelne schwer zu greifen ist, Zecken, die sich in den Volkskörper einsaugen und plötzlich ein Stück von ihm geworden sind.

Der Metteur Büssy erzählt mir heute beim Umbruch, daß sich in seiner Gegend am Rosenthaler Platz die Arbeiterfrauen zusammengerottet und laut gegen die Judentransporte protestiert hätten. Bewaffnete SS mit aufgepflanztem Bajonett und Stahlhelm holte Elendsgestalten aus den Häusern heraus. Alte Frauen, Kinder, verängstigte Männer wurden auf Lastwagen geladen und fortgeschafft. „Laßt doch die alten Frauen in Ruhe!“ rief die Menge, „geht doch endlich an die Front, wo ihr hingehört.“ Schließlich kam ein neues Aufgebot SS und zerstreute die Protestierenden, denen sonst nichts weiter geschah.

In unserem Viertel sieht man so etwas nie. Hier werden die Juden des Nachts geholt. Ohne Bärchen, die unermüdlich für die jüdischen Familien in ihrem Hause sorgt, wüßte ich nicht, wie das vor sich geht. Wie schnell haben wir uns alle an den Anblick des Judensterns gewöhnt.

Die meisten reagieren mit vollkommener Gleichgültigkeit, so wie ein Volontär, der neulich zu mir sagte: „Was interessieren mich die Juden, ich denke nur an meinen Bruder bei Rshew, alles andere ist mir völlig gleichgültig.“ Ich glaube, das Volk verhält sich anständiger als die sogenannten Gebildeten oder Halbgebildeten. Typisch dafür ist die Geschichte von dem Arbeiter, der in einer Trambahn einer Jüdin mit dem Stern Platz machte: „Setz dir hin, olle Sternschnuppe“, sagte er, und als ein PG [Parteigenosse] sich darüber beschwerte, fuhr er ihn nur an: „Üba meenen Arsch verfüje ick alleene.“

Gestern schwerer Luftangriff. In unserer Nähe, in der Augsburger Straße, brannte ein Dachstuhl. Die Leute bildeten Ketten mit Wassereimern. Mama und ich halfen mit. Als wir etwas erschöpft nach Hause kamen, empfing uns Papa im Pyjama, eine Kerze in der Hand, weil es keinen Strom gab, Prousts Roman „A la recherche du temps perdu“ unter dem Arm. Völlig verständnislos fragte er, warum wir denn dort mitgemacht hätten. „Laßt das doch die AGP machen“, sagte er. Aus Haß gegen die Partei will er sich absichtlich das Wort NSDAP nicht merken. Ich mußte lachen. Heute stellte sich heraus, daß es 1700 Brandstellen gab, der Prager Platz, gar nicht weit von uns, ist völlig zerstört. Raths verloren alles, auch die Fotografien des ermordeten Ernst und des gefallenen Sohnes. In ganz Berlin das Gerücht, dieser Angriff sei die Antwort auf die Judenverschleppungen.

Quelle: Ursula von Kardorff, Berliner Aufzeichnungen 1942-1945. München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1976, S. 37-39.

II. Aus Ruth Andreas Friedrichs Tagebuch

Sonntag, 7. März 1943

Wenigstens einige sind wiedergekehrt. Die sogenannten „Privilegierten“. Die jüdischen Partner rassisch gemischter Ehen. Abgesondert von den übrigen, hat man sie vergangenen Sontag in ein Sammellager geschafft. Zur Prüfung und endgültigen Beschließung. Noch am selben Tage machten sich die Frauen jener Männer auf, ihre verhafteten Ehegefährten zu suchen. Sechstausend nichtjüdische Frauen drängten sich in der Rosenstraße, vor den Pforten des Gebáudes, in dem man die „Arischversippten“ gefangen hielt. Sechstausend Frauen riefen nach ihren Männern. Schrien nach ihren Männern. Heulten nach ihren Männern. Standen wie eine Mauer. Stunde um Stunde, Nacht und Tag.

In der Burgstraße liegt das Hauptquartier der SS. Nur wenige Minuten entfernt von der Rosenstraße. Man war in der Burgstraße sehr peinlich berührt über den Zwischenfall. Man hielt es nicht für oppotun, mit Maschinengewehren zwischen sechstausend Frauen zu schießen. SS-Führerberatung. Debatte hin und her. In der Rosenstraße rebellieren die Frauen. Fordern drohend die Freilassung ihrer Männer. „Privilegierte sollen in die Volksgemeinschaft eingegliedert werden“, entscheidet Montagmittag das Hauptquartier der SS. Wen das Zufallsglück traf, einen nichtjüdischen Partner geheiratet zu haben, der durfte sein Bündel schnüren und nach Hause gehen. Die anderen werden in Güterzüge verladen und abtransportiert. In bekannter Richtung – mit unbekanntem Ziel. Leb wohl, Peter Tarnowsky, Freund von Kant, hegel und Schopenhauer! Leb wohl, du Deutscher! Du Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle! Leb wohl! – Leb ewig wohl!

Quelle: Ruth Andreas Friedrich, Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1948. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 109-110.