Quelle
Mitteldeutschland: In der Industriearbeiterschaft gibt es viele, die auf Erfolge des Hitlersystems nichts mehr geben und für den ganzen Zauber nur noch Hohn und Spott aufbringen. Andere wieder sagen: „Na, Adolf selber weiß vieles nicht und will vieles nicht.“ Aber bei denen weiß man nie genau, ob sie es ernst meinen oder nur mit dem Rücken an die Wand kommen wollen. Natürlich sind auch sehr viele ganz unpolitisch geworden. Gerade ein großer Teil der Facharbeiter, die lange Zeit arbeitslos waren, sind keine begeisterten Nazis. Sie schimpfen auch oft darüber, daß sie jetzt viel weniger verdienen als etwa 1929, aber das Ende vom Lied ist doch immer wieder: „Uns ist alles egal; wenigstens haben wir Arbeit.“ – Je weiter man in die minderbemittelten Schichten hinunterkommt, desto größer ist die Opposition. Aber noch heute – obgleich die Leute wissen, daß Arbeitermangel herrscht – sitzt allen die Angst in den Knochen, den Arbeitsplatz zu verlieren. Die Jahre der Erwerbslosigkeit sind nicht vergessen.
Die Nazis, die es noch im Betriebe gibt, sind kleinlaut. Man hat das Gefühl: viele bleiben nur dabei, um sich das Leben leichter zu machen. Wenn Diskussionen aufkommen, geben sie gewöhnlich nach oder bleiben abseits. Ihre Versammlungsphrasen lassen sie im Betrieb ganz weg. Die Tatsachen reden ja auch klar genug. Daß man für sein Geld immer weniger zu kaufen bekommt und daß die Antreiberei mit jedem Tag schlimmer wird, kann auch der „älteste Kämpfer“ nicht leugnen. Gerade die „alten Kämpfer“ haben übrigens das Dritte Reich meist gründlich satt. In den Angestelltenkreisen sieht es allerdings noch immer anders aus. Dort tun sich die in der Partei Arrivierten viel auf ihre Auszeichnungen und Titel zugute.
Die Stimmung in den Betrieben ist gedrückt. Gewiß, die Arbeit war auch früher kein Spaß und wurde von vielen nur als notwendiges Übel betrachtet. Aber früher hatte man immer das Gefühl: wenn dir etwas nicht paßt, kannst du deinem Herzen offen und ehrlich Luft machen. Vielleicht wird Abhilfe geschaffen, in jedem Fall ist es eine Erleichterung. Jetzt geht man schon deshalb schweren Herzens in die Fabrik, weil man immer fürchten muß, ein Wort zuviel zu sagen und sich in die Nesseln zu setzen. Auf dem ganzen Leben lastet ein Druck. Auf das Heimkommen freut man sich auch weniger als früher, weil es keine unbeschwerte Kameradschaft mit Nachbarn und Freunden mehr gibt. Früher traf man überall Gleichgesinnte, in den Arbeiter-Sport- und Bildungsvereinen, beim Schach, im Volkshaus. Jetzt geht man aus der Fabrik fort, besorgt noch ein paar Wege, geht heim, liest die Überschriften in der Zeitung und legt sich schlafen, um am nächsten Morgen denselben eintönigen Kreislauf wieder zu beginnen. Noch schlimmer sind die dran, die irgend einen „Dienst“ zu verrichten haben, sei es SS, SA, Partei oder Volkswohlfahrt. Die müssen sich dann abends noch weiter abplagen und stöhnen sehr, vor allem, wenn sie tagsüber schwere körperliche Arbeit verrichtet haben. Die meisten würden sich ihre Ämter gern vom Halse schaffen. Es fehlt ihnen aber der Mut dazu.
Quelle: Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SOPADE) 1934–1940. Bd. 5, 1938, Nr. 9. Salzhausen: P. Nettelbeck, 1980, S. 980-81.