Quelle
I. Ansprache des Judenältesten Rumkowski an den Judenrat (1. Februar 1941)
Tageschronik Nr. 22
[…] Ein Großteil der besitzenden Klasse hatte das Getto verlassen, noch bevor es geschlossen wurde. Geblieben sind: die Mittelklasse, die Armen und die Arbeiterklasse, die in hohem Maße das sprichwörtliche Baluter Element bildete. Besonders dieses Element bereitet den Gemeindebehörden durch seinen Mangel an Disziplin und die von ihm ausgehende anarchische Tendenz im Gettoleben die größten Schwierigkeiten. Folglich stellt es unter den Kriminellen den höchsten Prozentsatz.
Ich habe mir zum Ziel gesetzt, um jeden Preis Ordnung in das öffentliche Leben zu bringen. In erster Linie kann dieses Ziel durch eine allgemeine Beschäftigung erreicht werden. Deswegen lautete mein Motto: So vielen Menschen wie möglich Arbeit geben. Es war keine leichte Aufgabe, die Werkstätten zu gründen. Die Tatsache, dass es auf dem Gettogebiet fast keine jüdischen Fabriken gab, war ein großes Hindernis.
Trotzdem war ich imstande, eine ganze Reihe von Betrieben wie Fabriken, Tischlereien, Gerbereien, Schneidereien, Schusterwerkstätten und Herstellungsbetriebe für verschiedene Artikel zu gründen...
Schon jetzt beschäftigen meine Werkstätten bis zu 10 000 Arbeiter. Fast 1000 Ungelernte sind bei öffentlichen Arbeiten beschäftigt. 1600 Personen wurden bereits zur Arbeit außerhalb des Gettos geschickt, und sie unterhalten mit einem Teil der Gehälter ihre im Getto zurückgelassenen Familienangehörigen, denen ich regelmäßig einen Wochenlohn auszahle.
[…]
Quelle: Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, Jörg Riecke, Hrsg., Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt. Bd. 1, 1941. Göttingen: Wallstein, S. 54–55.
II. Rumkowskis Ansprache anlässlich der Deportation der Kinder aus dem Ghetto (4. September 1942)
[…] Das Getto ist von einem schweren Schmerz getroffen. Man verlangt von ihm das Beste, was es besitzt – Kinder und alte Menschen. Mir war es nicht vergönnt, ein eigenes Kind zu haben, und deswegen habe ich meine besten Jahre dem Kind gewidmet. Ich lebe und atmete zusammen mit dem Kind. Niemals habe ich mir vorgestellt, daß meine eigenen Hände das Opfer zum Altar bringen müßten. Nun, im Alter muß ich meine Hände ausstrecken und betteln: Brüder und Schwestern, gebt sie mir! Väter und Mütter, gebt mir eure Kinder! […]
Gestern gab man mir den Befehl, etliche zwanzigtausend Juden aus dem Getto zu deportieren. Tun wir es nicht, so tun es andere. Es stellt sich die Frage: Hätten wir es übernehmen und ausführen sollen, oder hätten wir es anderen überlassen sollen, es durchzuführen?
Da wir aber nciht von dem Gedanken beherrscht sind: „Wieviel werden verloren gehen?“, sondern von dem Gedanken: „Wieviele wird man retten können?“ sind wir, das heißt ich und meine engsten Mitarbeiter, zu dem Schluß gekommen, daß wir die Ausführung dieses Verhängnisses in unsere Hände nehmen müssen, wie schwer uns dies auch fallen sollte. Ich muß diese schwere und blutige Operation durchführen, ich muß Glieder amputieren, um den Körper zu retten! Ich muß Kinder nehmen, denn andernfalls könnten – Gott behüte – andere genommen werden […]
Ich bin heute nicht gekommen, um euch zu trösten, ich bin nicht gekommen, um euch zu beruhigen, sondern um euer ganzes Leid und Weh aufzudecken. Wie ein Räuber bin ich gekommen, um euch das Beste aus euren Herzen herauszureißen!
Mit all meinen Kräften habe ich versucht, das Verhängnis abzuwenden, und – nachdem abwenden unmöglich war – es zu mildern.
Heute habe ich die Registrierung aller neunjährigen Kinder angeordnet. Wenigstens die neun- bis zehnjährigen Kinder wollte ich retten. Doch hat man nicht nachgegeben. Eines ist mir gelungen: die zehnjährigen Kinder zu retten, möge euch das un euerm großen Leid zum Trost sein.
Wir haben im Getto zahlreiche Tuberkulose-Kranke, deren Leben nach Tagen, vielleicht nach Wochen zählt. Ich weiß nicht, vielleicht ist es teuflisch, vielleicht nicht. Doch kann ich mich nicht dazu bringen, es nicht auszusprechen: „Gebt mir eure Kranken, und an ihrer Stelle wird man Gesunde retten können.“
Ich weiß, wie teuer jedem der Kranke ist, der bei ihm daheim lag, vor allem bei Juden. Doch bei jedem Verhängnis muß man abwägen: wer soll, kann und muß grettet werden? Der gesunde Menschenverstand kann nichts anderes sagen: gerettetwerden muß das, was sich retten läßt und Aussichten hat, errettet zu werden und nicht das, was sich ohnehin nicht retten läßt. […]
Quelle der deutschen Übersetzung: „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Das Getto in Łódź 1940-1944: eine Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt am Main. Hg. Hanno Loewy und Gerhard Schoenberner, Wien: Löcker, 1990, S. 233-234.
Das Originaltyposkript befindet sich im Staatsarchiv Łódź, Sig, AP, PSZ 1091. Online verfügbar unter: https://www.szukajwarchiwach.gov.pl/en/jednostka/-/jednostka/2796805.
III. Oskar Singers Bericht über die Deportation der Kinder (16. September 1942)
Litzmannstadt-Getto, 16. September 1942
Am 5. September wurde die Situation klarer. Das ängstliche Flüstern der letzten Tage wurde zur gefährlichen Realität. Die Aussiedlung der Kinder und Greise hat wirkliche Gestalt angenommen.Ein winziger Zettel an den Mauern der belebten Stadtviertel kündig Reden des Präses in der brennenden Sache an. Auf dem Feurwehrplat; eine grosse Menschenmenge. Der „Älteste der Juden“ enthüllt die Wahrhaftigkeit der Gerüchte, denn es geht um diese Kleinen, die ei so liebt, und um die Greise, denen er so viel Achtung entgegen bringt.152 „Es ist doch nicht möglich, dass man den Müttern ihre Säuglinge von der Brust wegreisst, dass man irgendwohin die alten Väter und Mütter verschleppt. Der Deutsche ist rücksichtslos, fühtl einen schrecklichen Krieg, aber er wird seine Grausamkeit nicht bis zum Äussersten treiben“. Alle glauben dem Präses und hoffen auf seine beruhigenden Worte.
Der Repräsentant des Gettos hält eine Rede. Seine Stimme versagt, die Worte bleiben ihm im Halse stecken. Seine Person — auch ein Bild des Unglücks. Eins haben alle verstanden: 20.000 Menschen müssen das Getto verlassen, Kinder unter 10 und Greise über 65 Jahre. […]
Alle sind fest davon überzeugt, dass man die ausgesiedelten Juden in die Vernichtung führt.
[…]
Die Menschen liefen wie verrückt vor sich hin, um die geliebtesten Verurteilten zu verstecken. Niemand aber wusste, wer die Aktion leiten wird; jüdische Polizei, die dem Getto zugeteilte Gestapo oder ein SS-Rollkommando. Der Präses beschloss im Einverständnis mit der deutschen Verwaltung (Biebow), mit eigenen Kräften diese Aussiedlung durchzuführen.
Jüdische Polizei sollte jüdischen Müttern Kinder wegreissen, jüdischen Kindern ihre Eltern nehmen. […]
Es war nun zu erwarten, dass die betroffenen Eltern und Angehörigen Korrekturen in den Eintragungen anstreben werden. Verschiedene Motive waren massgebend für falsche Eintragungen oder für die Beibehaltung von Ungenauigkeiten oder Irrtümern. […]Das Leben des Gettomenschen hat seine Dynamik. Was heute richtig ist, kann morgen falsch sein, was heute die Rettung bedeutet, ist morgen das sichere Verderben. Da Kinder von 10 Jahren an – Schulen gibt es ja längst nicht mehr – in die Arbeit gehen konnten und ihre Suppe bekamen, herrschte die Tendenz, das Alter der Kinder hinaufzusetzen. Andere Eltern wieder hatten das entgegengesetzte Interesse, wenn es darum ging, die Zuteilung für Milch für ihr Kind zu erhalten. Dadurch figurierten Kind unter 10 Jahren in den Büchern, obwohl sie schon das zehnte Lebensjahr überschritten hatten. War gestern noch die Milch wichtig, so ging es heute schon ums Leben.
Bei alten Personen war es aus verschiedenen Gründen nicht anders. Kein Wunder also, dass im Meldebüro ein Parteienverkehr einsetzte, den bisher kein Amt der Welt erlebt haben dürfte. […] Schweisstriefend versuchten sie, die Lage zu beherrschen. Ohne Nachtruhe arbeitete insbesondere Weiland mit einer Hingabe ohnegleichen inmitten eines rasenden Menschengewirrs. Von den Schalterfenstern dringen die Menschen bis an die Schreibtische vor, umringen sie, schreien, toben, raufen und weinen. Jede Sekunde kann entscheiden – und Stunden vergehen bei diesem Kampf entfesselter Leidenschaften. […]
Denn schon am Samstag griff die Gestapo in die Aktion ein, ohne sich um die fieberhafte Arbeit zu kümmern, die da am Kirchplatz 4 geleistet wurde.
Alle fühlten, der Ordnungsdienst würde versagen. Der Schreiber dieser Zeilen hat die denkbar schlechteste Meinung von der Polizeiarmee des Aeltesten zu Litzmannstadt-Getto. Aber er kann verstehen, dass der O.D. diesen Schergendienst allein nicht durchführen konnte. […]
Die Kinder, die auf den Wagen gehoben werden, gebären sich je nach ihrem Alter ruhig oder verzweifelt. Mädels und Jungens, knapp vor dem zehnten Jahr, Getto-Kinder, fertige Menschen, die den Jammer schon verstehen, die Leid schon erlitten haben. Kleinere reissen die tausendjahrealten grossen jüdischen Augen auf und wissen nicht, was sie tun sollen. Sie werden auf einen Wagen gebracht, zum erstenmale im Leben auf einen Wagen, den ein wirkliches Pferd ziehen wird. Ha – eine lustige Fahrt in Sicht. Manch ein Knirps zappelt vor Freude, trampelt so lange noch Platz ist auf der Plattform des Lastwagens, während die Mütter dem Irrsinn nahe auf dem Pflaster liegen und sich weh schreiend die Haare raufen.
[…] Aber ein Kind wegzunehmen, kostete eine halbe Stunde Kampf. Wie soll das werden, wenn ein paar tausend Mütter so schwer zu überreden sein werden, ihre Kinder freiwillig herzugeben? Und wenn sich Kinder und Greise in den unübersehbaren Schlupfwinkeln des Gettos verkriechen werden.
Das hat man vorausgesehen. Der Präses verfügte eine allgemeinen Gehsperre im Getto, die am Samstag um 5 Uhr nachmittag in Kraft trat. Niemand durfte ohne Passierschein die Strasse betreten. Zuwiderhandelnden drohte die Evakuierung.
[…]
Quelle: Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, Jörg Riecke, Hrsg., Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt. Bd. 5, Supplemente und Anhang. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 37-39; Oskar Singer, „Im Eilschritt durch den Gettotag...“ Reportagen und Essays aus dem Getto Lodz. Hrsg. Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, Jörg Riecke sowie Julian baranowski, Krystyna Radziszewska und Kryzysztof Woźniak. Berlin/Wien: Philo, 2002, S. 133-137.