Kurzbeschreibung

Hitlers nationalsozialistische Weltanschauung bestimmte seine außenpolitischen Ziele, die sich vor allem in der aggressiven Expansion nach Osten und der Erschließung von osteuropäischem „Lebensraum“ manifestierten. Folglich betrachtete er die Revision des Versailler Vertrages, den schon die Regierungen der Weimarer Republik angestrebt hatten, als eine wichtige Stufe, aber kaum als Endziel. Angesichts der geringen militärischen Leistungsfähigkeit Deutschlands war Hitler jedoch anfangs bereit, seine Außenpolitik auf diplomatischem Wege zu betreiben. Sein folgender Brief an Oberst Walther von Reichenau (1884–1942) gibt Einblick in Hitlers ideologisch-geopolitische Einschätzung der deutschen Situation nur wenige Wochen vor seiner Ernennung zum Reichskanzler.

Hitlers Brief an Oberst Walther von Reichenau über Deutschlands außenpolitische Lage (4. Dezember 1932)

  • Adolf Hitler

Quelle

[] Die Frage der territorialen Sicherheit Ostpreußens steht in engster Beziehung zur gesamtaußen- und innenpolitischen Situation des [Deutschen] Reiches. Diese möchte ich in kurzen Sätzen folgendermaßen skizzieren.

Der Ausgang des Weltkrieges hat Frankreich nicht die restlose Erreichung der gehegten Kriegsziele gestattet. Insbesondere gingen die Hoffnungen auf einen allgemeinen inneren Zerfall des Reiches nicht in Erfüllung. Der Friedensvertrag von Versailles war daher von dem französischen Bestreben diktiert, für die nächste Zeit eine möglichst breite staatliche Interessengemeinschaft gegen Deutschland aufrechtzuerhalten. Dem Zweck dienten in erster Linie die territorialen Beschneidungen [sic] des Reichsgebiets. Indem man fast sämtliche der umliegenden Staaten mit deutschem Landbesitz bedachte, hoffte man, um Deutschland einen Ring der durch gemeinsame Interessen miteinander verbundenen Nationen zu schmieden. Im Osten sollte dabei an Stelle des zu dieser Zeit nicht ins Gewicht fallenden (und im übrigen damals auch in seiner Entwicklung nicht zu berechnenden) Rußland das von Frankreich abhängige Polen treten. Die durch den Polnischen Korridor erfolgte Abtrennung Ostpreußens mußte zwangsläufig zu dem suggestiven Wunsch führen, diese Provinz als ohnehin zum großen Teil von Polen umklammert, diesem Staate einzuverleiben. Tatsächlich setzte die großpolnische Propaganda unmittelbar nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages in dieser Richtung ein.

Wohl aus Angst vor der deutlich drohenden Gefahr versuchte die deutsche Außenpolitik, durch Herstellung eines engeren Verhältnisses zu Rußland eine Entlastung im Osten herbeizuführen. Bei aller Würdigung der politischen und militärischen Gründe war ich seit jeher gegen diesen, wie mir schien, bedenklichen Versuch aufgetreten. Die Gründe für diese meine, besonders dem General von Hammerstein seit vielen Jahren genau bekannte, Einstellung waren – und sind auch heute noch – folgende:

1. Rußland ist kein Staat, sondern eine Weltanschauung, die zur Zeit auf dieses Territorium beschränkt ist, bzw. es beherrscht, die aber in allen anderen Ländern Sektionen unterhält, die nicht nur dem gleichen revolutionären Ziele zustreben, sondern auch organisatorisch der Moskauer Zentrale unterstellt sind. Ein Sieg dieser Auffassungen in Deutschland muß zu unabsehbaren Folgen führen. Ein Kampf gegen diese vergiftenden Tendenzen aber ist um so schwerer, je mehr aus außenpolitischen Gründen mit der Zentrale dieser Vergiftung politisch und militärisch zusammengearbeitet wird. Das deutsche Volk ist heute gegen den Kommunismus genauso wenig immun, wie es im Jahre 1917 bzw. 18 nicht immun war gegen den Gedanken der Revolution an sich. Dieses Problem können Offiziere und Staatsmänner nur dann beurteilen, wenn sie Völkerpsychologen sind. Wie die Erfahrung zeigt, trifft das nur sehr selten zu.

2. Ich halte aus diesem Grunde die Sowjet-Diplomatie nicht nur für unzuverlässig, sondern überhaupt für nicht vergleichbar mit den außenpolitischen Führungen der anderen Nationen und damit für verhandlungs- und vertragsunfähig. „Verträge“ können nur zwischen Kontrahenten auf gleicher weltanschaulicher Ebene abgeschlossen werden.

3. Sollten wir aber einmal – was Gott verhüten möge – im Ernstfall durch Sowjethilfe gerettet werden, dann würde dies erst recht die Aufpflanzung der roten Fahne in Deutschland bedeuten.

4. Sowie durch die militärische Erstarkung Rußlands der Wert des polnischen Bundesgenossen für Frankreich so vermindert wird, daß eine wirkliche Unterstützung französischer Absichten gegen Deutschland im Osten gefährdet erscheint, wird Frankreich entweder Rußland von Polen wegzuziehen versuchen, oder im Falle des Mißlingens einer solchen Aktion Polen endgültig fallen lassen, um Rußland dann an seine Stelle zu setzen.

5. Das politische Zusammengehen Deutschlands mit Rußland berührt die übrige Welt unsympathisch. Das wirtschaftliche Zusammengehen zerstört mit die Zukunft unserer deutschen Exportindustrie.

Ich habe daher aus diesen Erwägungen seit nunmehr rund zwölf Jahren unentwegt vorgeschlagen, eine engere Verbindung einerseits zu Italien und andererseits zu England als wünschenswertestes außenpolitisches Ziel anzustreben.

Ich glaube, daß mir unterdessen die Entwicklung schon jetzt Recht gibt.

Frankreich hat infolge der sichtbaren Entwertung des polnischen Bundesgenossen – und wie mir scheint mit Erfolg – versucht, Rußland im fernen Osten zu engagieren, um an der polnischen Grenze eine Entlastung herbeizuführen. Im nunmehr unterzeichneten Nichtangriffspakt zwischen Rußland und Polen kann man diese weitausgreifende Aktion Frankreichs als im wesentlichen glücklich beendet ansehen. Damit aber stehen wir mitten in einer neuen Einkreisungspolitik, wenn nicht schon vor ihrem Abschluß. Daß bei diesem großen Unternehmen die neuerstarkte Kapitalsmacht Frankreichs wesentlich mitwirkt, darf zumindest für Polen als erwiesen gelten. Ich halte sie für das kapitalsarme Rußland in der Zukunft ebenfalls für wahrscheinlich.

Ostpreußen geht damit in dem Augenblick verloren, in dem eine bestimmte innerpolitische Situation eine in der Welt Deutschland abgeneigte Atmosphäre für den polnischen Angriff schaffen würde. Die Ausrufung einer Monarchie zum Beispiel oder überhaupt eine heute vorgenommene Reaktivierung des Hauses Hohenzollern – gleich in welcher Form – kann diesen Schritt sofort herbeiführen.

Die militärischen Mittel und Möglichkeiten Ostpreußens sind meines Erachtens nicht genügend, einen längeren aussichtsreichen Widerstand durchzuführen. Die militärische Unterstützung aber durch das Reich sehe ich unter Zugrundelegung der augenblicklichen politischen Verhältnisse als gleich null an. Ich halte die theoretische Forcierung der deutschen Aufrüstung dabei für die schlimmste Gefahr. Es ist denkbar, daß Frankreich heute nicht mehr in der Lage ist, die theoretische Zubilligung der Gleichberechtigung Deutschlands zu sabotieren. In diesem Falle wird die darauffolgende Spanne Zeit, da aus der theoretischen Gleichberechtigung die praktische, technische und organisatorische Aufrüstung zu erfolgen hat, die gefährlichste Epoche der deutschen Geschichte sein. Wenn je die Gründe für einen Präventivkrieg sprechen, dann in diesem Falle für einen Angriff Frankreichs gegen Deutschland. Nur ein solcher militärischer Akt schafft die erwünschten neuen Tatsachen, und dieselbe Welt, die uns heute ihr theoretisches Wohlwollen schenkt, würde sich hüten, die vollzogenen Tatsachen etwa mit Waffengewalt korrigieren zu wollen.

Es ist dabei für Frankreich nichts erwünschter, als den ersten Schritt in dieser neuen Aktion einem Dritten überlassen zu können. Gründe und Anlässe dafür sind jederzeit zu konstruieren.

Ich sehe daher, wie schon betont, die Gefahr dieses Angriffs als eine akute an und glaube, daß man gut tut, mit ihrem Ausbruch in jedem Augenblick zu rechnen!

Demgegenüber fehlt heute die Möglichkeit eines aktiven Eingreifens Deutschlands bei einem solchen Konflikt. Der Grund liegt keineswegs im Fehlen der notwendigen technischen Rüstung, als vielmehr in der hierfür gänzlichen Ungeeignetheit des deutschen Volkes dank seinem geistigen, moralischen und politischen Verfall.

Das deutsche Volk bildet heute zwei Weltanschauungsgruppen, von denen die eine für jeden, dem heutigen Staat zu leistenden militärischen Dienst ausfällt. Nach den letzten Reichstagswahlen ergibt sich folgendes Bild der seelischen Struktur unseres Volkes:

Kommunisten

6 Millionen

Sozialdemokraten

7,4 Millionen

Zentrum

4 Millionen

Staatspartei etc.

1 Million

Nationalsozialisten

12 Millionen

Deutschnationale Volkspartei (einschließlich Stahlhelm)

3 Millionen

Deutsche Volkspartei etc.

1 Million

Das heißt also: Im Falle eines heute Deutschland aufgezwungenen Krieges ist mehr als die Hälfte der Nation ihrem Wesen nach teils mehr oder weniger pazifistisch, teils bewußt wehr- und verteidigungsfeindlich eingestellt. Die Meinung einzelner Generale, die militärische Ausbildung (es könnte sich dabei in einem augenblicklichen Kriegsfall immer nur um eine ganz kurz bemessene handeln) würde die parteipolitische, weltanschauliche Erziehung wieder ausmerzen, ist gradezu kindisch. Selbst die zweijährige Dienstzeit brachte es im Frieden nicht fertig, der Sozialdemokratie Abbruch zu tun. Der Hinweis, daß die SPD-Arbeiter aber 1914 ihre Pflicht taten, ist falsch. Denn nicht der bewußte Marxist tat damals seine Pflicht, sondern der Deutsche, der vorübergehend in einer inneren Aufwallung dem Marxismus entsagte. Die bewußte marxistische Führung begann bereits im Jahre [19]15 mit der Gegenarbeit und brachte endlich 1918 nach unerhört ruhmreichem Widerstande das Volk zur Revolution und damit das Reich zum Zusammenbruch!

Die damalige Sozialdemokratie kann dabei überhaupt nicht verglichen werden mit der heutigen KPD. Der Marxismus, im Jahre 1914 eine theoretische Idee, hat heute praktisch einen gigantischen Weltteil erobert. Ein Krieg Deutschlands in seiner heutigen Verfassung würde die Nation von Anfang an schon nervenmäßigen Belastungsproben aussetzen, die zumindest für das Hinterland in keinem Verhältnis stünden zu den analogen Vorgängen im Weltkrieg.

Die Meinung aber, in diesem Fall auf die nationalen Verbände zurückgreifen zu können, ist für diese heute so verfemten und verfolgten Gebilde ja höchst ehrenvoll, aber praktisch nicht nur ohne jede Bedeutung, sondern eher noch von furchtbaren Folgen begleitet. Denn ein Einziehen der nationalen Elemente unter die Fahnen und ihr Abschieben (als mehr oder weniger unausgebildetes Kanonenfutter!) an die Fronten, heißt die Heimat im selben Augenblick dem roten Mob ausliefern. Das Jahr 1918 war ein Kinderspiel gegen das, was dann käme.

Während daher unsere politischen und militärischen Strategen die deutsche Aufrüstung als eine technische und organisatorische Aufgabe ansehen, sehe ich die Voraussetzung für jede Aufrüstung in der willensmäßigen und geistigen Herstellung einer neuen deutschen Volkseinheit. Ohne die Lösung dieses Problems ist das ganze Gerede von „Gleichberechtigung“ und „Aufrüstung“ ein oberflächliches und dummes Geschwätz.

Diese Herstellung einer weltanschaulich, geistig und willensmäßigen Einheit in unserem Volk ist die Aufgabe, die ich mir vor vierzehn Jahren stellte und für die ich seitdem gekämpft habe. Daß unsere offiziellen Dienststellen der zivilen und militärischen Behörden diesem Problem mit vollständiger Fassungslosigkeit, um nicht zu sagen Stupidität gegenüberstehen, nimmt mich nicht wunder. Es ist in der Geschichte noch nie anders gewesen. Alle großen Gedanken und Reformen der Menschheit sind nicht von den Zünften ausgegangen. Warum sollte es also heute anders sein? Allein die Würdigung dieser geschichtlichen Wahrheit entbindet denjenigen, der eine solche Frage in ihrer ganzen Riesengröße einmal erkannt hat, nicht von der Verpflichtung, dafür auch einzutreten. Ich muß daher, so leid es mir tut, gegen jede deutsche Regierung Stellung nehmen und muß sie unduldsam bekämpfen, die nicht entschlossen und bereit ist, diese innere Aufrüstung der deutschen Nation vorzunehmen. Aus ihr heraus ergeben sich dann alle weiteren Maßnahmen.

Das derzeitige Kabinett des Generals von Schleicher halte ich nun deshalb für besonders unglücklich, weil es schon durch die Person des Trägers dieser Frage noch verständnisloser gegenüberstehen muß als jedes andere. Dieses Problem der inneren, geistigen Aufrüstung der Nation kann, wie immer in der Geschichte, auch dieses Mal nicht von einem Heer, sondern nur von einer Weltanschauung gelöst werden. Die Armee damit beschäftigen, läßt sie in den Augen vieler als parteiisch erscheinen [sic], genauso, wie umgekehrt die Aufgabe selbst in den Augen der Massen dadurch kompromittiert wird. Denn weder die Polizei noch das Militär haben jemals Weltanschauungen vernichtet und noch viel weniger Weltanschauungen aufgebaut. Ohne Weltanschauung kann aber auf die Dauer kein menschliches Gebilde bestehen. Weltanschauungen sind die Gesellschaftsverträge und Basen, auf denen sich größere menschliche Organisationen erst errichten lassen. Ich sehe daher zum Unterschied unserer heutigen Staatsmänner die deutschen Aufgaben der Zukunft in folgenden:

1. Überwindung des Marxismus und seiner Folgeerscheinungen bis zu ihrer vollständigen Ausrottung. Herstellung einer neuen geistigen und willensmäßigen Einheit des Volkes.

2. Allgemeine seelische, sittliche und moralische Aufrüstung der Nation auf dem Boden dieser neuen weltanschaulichen Einheit.

3. Technische Aufrüstung.

4. Organisatorische Erfassung der Volkskraft für den Zweck der Landesverteidigung.

5. Erreichung der rechtlichen Anerkennung des bereits herbeigeführten, neuen Zustandes durch die übrige Welt.

Nur ein tiefer Regenerationsprozeß kann an Stelle des heutigen Experimentierens und Suchens nach immer neuen kleinen Aushilfen eine endgültige klare Lösung der deutschen Krise bringen. Aus dieser Auffassung heraus aber bitte ich Sie, Herr Oberst, meine Haltung beurteilen zu wollen.

[]

Quelle: Maschinenschr. Abschrift. — Alexandria, Va. Departmental Records Branch, The Adjutant General’s Office, Record Group 1035. EAP 250-a/14: Adolf Hitler, Kanzlei.— Mikrofilm im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, National Archives Microcopy No. T-81, Rolle 1, Serial 7, fol. 11 542–11 552; abgedruckt in Thilo Vogelsang, Dokumentation: „Hitlers Brief an Reichenau vom 4. Dezember 1932“, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7 (1959), Heft 4, S. 434–37.