Quelle
Aus: Berlin
Datum: 13. April 1939
Erhalten: 14.25
Uhr
[An den] Außenminister,
Washington.
247, 13. April, 17.00 Uhr
Streng vertraulich
Anlässlich eines Privatbesuchs bei einem Freund führte ich ein Gespräch mit dem Generalstabschef der Deutschen Wehrmacht über die politische Lage in Europa.
Ich äußerte mich dem General gegenüber klar und unmissverständlich über unsere Einstellung zu den jüngsten Ereignissen in Europa. Die Möglichkeit, Amerika könne im Kriegsfall sein militärisches und moralisches Gewicht auf die Waagschale der potenziellen Feinde Deutschlands werfen, schien ihn überaus zu beunruhigen. Die Wehrmacht sei, sagte er, unter allen Umständen verpflichtet, Hitler und sein Programm internationaler Aktivitäten und Verhandlungen zu unterstützen, egal welche Richtung die Ereignisse einschlügen. Während die deutschen Militärs an ihre Pflichterfüllung gebunden seien, hofften sie, dass die für die Geschicke Deutschlands politisch verantwortlichen Staatsmänner ebenso wie die ausländischen Staatsmänner und Politiker in der Lagen sein würden, einen internationalen Konflikt zu vermeiden und alle Probleme ohne Blutvergießen beizulegen, denn ein allgemeiner Krieg, so fürchte er, würde die europäische Zivilisation zerstören, und die Deutsche Wehrmacht wünsche keinen Krieg.
Der General sagte, es sei Hitlers Mission, Deutschland genügend Lebensraum zu verschaffen, d.h. das Land in Bezug auf Rohmaterialien und Lebensmittel territorial autark zu machen. Hitler würde seine Bemühungen nicht eher beenden, bis er dieses Programm ausgeführt habe. Wenn das Ziel erreicht sei, wäre es in Deutschland vorbei mit Hitler und dem nationalsozialistischen Regime. Er sagte, Hitler habe gehofft, dass die westlichen Demokratien Deutschlands grundsätzliche Position realistisch einschätzen und sich nicht in dessen Ostziele einmischen würden, da aber England und Frankreich nunmehr diplomatische Schritte unternähmen, die Osterweiterung Deutschlands zu blockieren, blicke Hitler erneut gegen Westen. Sollten also die Hindernisse auf dem Weg zu Deutschlands Osterweiterung nicht aus dem Weg geräumt werden, würde sich Hitler veranlasst sehen, einem unter Umständen stattfindenden Widerstand im Westen ein Ende zu bereiten.
Ich habe aus diesem Gespräch die Überzeugung gewonnen, dass 1) die Deutsche Wehrmacht sich vollkommen den Wünschen der gegenwärtigen politischen Führung Deutschlands unter Hitler unterwirft, und dass 2) die Wehrmacht zwar gut vorbereitet ist, wahrscheinlich so gut, dass Hitler nicht zögern würde, sie zur Durchsetzung seines Willens einzusetzen, jedoch stark gegen einen Krieg eingestellt ist, und dass der Generalstab in Deutschland über die mögliche Entwicklung der Ereignisse besorgt ist.
Unterrichteten Kreisen zufolge sind die Deutschen über das im Ausland heftig diskutierte Kriegsszenario alarmiert, und von Regierungsseite sei man darum bemüht, die angespannte internationale Atmosphäre abzukühlen.
GEIST
Quelle: Raymond Geist’s Report on His Conversation with Franz Halder, 13. April 1939, U.S. National Archives and Records Administration, College Park, MD, Record Group 59, CDF 740.00/794.