Kurzbeschreibung

In dieser Rede vor dem Bundestag reagierte Adenauer auf die Kritik an der Politik seiner Regierung und auf die Frage, ob sie die deutschen Verbrechen der Vergangenheit angemessen berücksichtige. Im Einklang mit der gängigen Politik der Zeit behauptete er zudem, dass sich die Mehrheit der Deutschen nicht an den NS-Verbrechen beteiligt und auch versucht hätte, ihren jüdischen Nachbarn zu helfen. Während die materielle Wiedergutmachung begonnen habe, müsse man sich auch um die Millionen von Kriegsopfern und Flüchtlingen kümmern. Dennoch war er offen für Verhandlungen auch mit Vertretern Israels, die später in einem von ihm und Premierminister Ben Gurion geschlossenen Abkommen gipfelten. Als dieses Abkommen in Adenauers Kabinett diskutiert wurde, gab es einigen Widerstand von Ministern, die der Unterstützung mittelloser Westdeutscher Vorrang einräumen wollten. Der Kanzler setzte die Entscheidung mit Unterstützung von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard durch. Adenauers Engagement muss auch vor dem Hintergrund der Weigerung der DDR-Regierung gesehen werden, eine Restitution anzubieten. In deren Sicht auf die Hitler-Diktatur und ihre Verbrechen waren die Nazis 1933 von den Monopolkapitalisten in den Sattel gehoben worden, um eine kommunistische Revolution und Machtübernahme zu verhindern. Die deutsche Bevölkerung und insbesondere die Arbeiterklasse seien indes selbst Opfer dieses Terrorregimes gewesen und trugen daher keine Verantwortung für die Geschehnisse zwischen 1933 und 1945. Die langfristigen Folgen dieser unterschiedlichen Haltungen und Politiken zeigten sich nach dem Zusammenbruch der DDR 1989/90, als klar wurde, dass die NS-Vergangenheit ein Thema war, das die deutsche Politik noch jahrzehntelang belasten würde.

Bundeskanzler Adenauer über die Haltung der Bundesrepublik gegenüber den Juden (27. September 1951)

Quelle

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In letzter Zeit hat sich die Weltöffentlichkeit verschiedentlich mit der Haltung der Bundesrepublik gegenüber den Juden befaßt. Hier und da sind Zweifel laut geworden, ob das neue Staatswesen in dieser bedeutamen Frage von Prinzipien geleitet werde, die den furchtbaren Verbrechen einer vergangenen Epoche Rechnung tragen und das Verhältnis der Juden zum deutschen Volke auf eine neue und gesunde Grundlage stellen.

Die Einstellung der Bundesrepublik zu ihren jüdischen Staatsbürgern ist durch das Grundgesetz eindeutig festgelegt. []

Diese Rechtsnormen sind unmittelbar geltendes Recht und verpflichten jeden deutschen Staatsbürger – und insbesondere jeden Staatsbeamten –, jede Form rassischer Diskriminierung von sich zu weisen. In demselben Geiste hat die Bundesregierung auch die vom Europarat entworfene Menschenrechtskonvention unterzeichnet und sich zur Verwirklichung der darin festgelegten Rechtsgedanken verpflichtet.

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Die Bundesregierung und mit ihr die große Mehrheit des deutschen Volkes sind sich des unermeßlichen Leides bewußt, das in der Zeit des Nationalsozialismus über die Juden in Deutschland und in den besetzten Gebieten gebracht wurde. Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt. Es hat in der Zeit des Nationalsozialismus im deutschen Volke viele gegeben, die mit eigener Gefährdung aus religiösen Gründen, aus Gewissensnot, aus Scham über die Schändung des deutschen Namens ihren jüdischen Mitbürgern Hilfsbereitschaft gezeigt haben. Im Namen des deutschen Volkes sind aber unsagbare Verbrechen begangen worden, die zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung verpflichten, sowohl hinsichtlich der individuellen Schäden, die Juden erlitten haben, als auch des jüdischen Eigentums, für das heute individuell Berechtigte nicht mehr vorhanden sind. Auf diesem Gebiet sind erste Schritte getan. Sehr vieles bleibt aber noch zu tun. Die Bundesregierung wird für den baldigen Abschluß der Wiedergutmachungsgesetzgebung und ihre gerechte Durchführung Sorge tragen. Ein Teil des identifizierbaren jüdischen Eigentums ist zurückerstattet worden; weitere Rückerstattungen werden folgen.

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Die Bundesregierung ist bereit, gemeinsam mit Vertretern des Judentums und des Staates Israel, der so viele heimatlose jüdische Flüchtlinge aufgenommen hat, eine Lösung des materiellen Wiedergutmachungsproblems herbeizuführen, um damit den Weg zur seelischen Bereinigung unendlichen Leides zu erleichtern. Sie ist tief davon durchdrungen, daß der Geist wahrer Menschlichkeit wieder lebendig und fruchtbar werden muß. []

Quelle: 1. Deutscher Bundestag, 165. Sitzung vom 27.9.1951, S. 6697 f; abgedruckt in: Die Auswärtige Politik der Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben vom Auswärtigen Amt unter Mitwirkung eines wissenschaftlichen Beirats, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln, 1972, S. 179–81.