Quelle
I. Nicht um des Kollektivs
willen
Wenn ein demokratischer Staat, der sich zur Freiheit
und Würde des selbstverantwortlichen gottbezogenen Menschen als
Grundlage der öffentlichen Ordnung bekennt, »Familienpolitik« betreibt,
so ist das etwas grundsätzlich anderes als die »Bevölkerungspolitik« des
Nationalsozialismus. Unsere neue deutsche Familienpolitik hat immer noch
darunter zu leiden, daß dieser Unterschied nicht gesehen wird, weil die
praktischen Maßnahmen der Familienpolitik oft denen der
nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik ähneln, obschon
Ausgangspunkt und Motive völlig verschieden sind. Totalitäre Regime
treiben »Bevölkerungspolitik«, weil das Kollektiv, dessen Interessen
hier allein maßgebend sind, Arbeitskräfte und ggf. auch Soldaten
braucht, kurz, weil das Kollektiv Interesse an mehr Kindern als den
Trägern der kollektiven Funktionen der kommenden Generation hat. Der
totalitäre Staat betrachtet die Familie als den Funktionär des
Kollektivs, der den Auftrag hat, für Staat und Gesellschaft Kinder
großzuziehen. Daraus wird – unter Hitler nicht anders als im
kommunistischen Bereich – die Konsequenz gezogen, daß die Kinder nicht
gefördert – oder gar von den Eltern getrennt und in öffentliche
Erziehung genommen – werden, bei denen eine Erziehung im Sinne der
herrschenden einseitigen politischen Lehre nicht gewährleistet ist. Zu
dieser Linie paßte es auch, das den Familien gezahlte Kindergeld – unter
Hitler wie im gesamten kommunistischen Bereich – aus staatlichen
Steuermitteln zu zahlen, weil der Staat verpflichtet scheint, zu den
Kosten der für ihn großgezogenen Kinder beizusteuern*. Ausgangspunkt ist
hier immer: Der Staat muß für seine Kinder sorgen. Dies ist bewußt etwas
zugspitzt formuliert, um den Grundunterschied zwischen totalitärer
Bevölkerungspolitik und demokratischer Familienpolitik im letzten
sichtbar zu machen.
Wir haben dieser totalitären Schau die klare These entgegenzusetzen: Unsere Kinder sind nicht Kinder des Staates, sondern Kinder der Familie. Die Eltern schenkten ihnen mit Gottes Segen das natürliche Leben, das sie in erster Linie zum ewigen Leben und erst in zweiter Linie zu mitverantwortlicher Staatsbürgerschaft auf irdischer Pilgerfahrt berief. Die Eltern und nicht der Staat tragen deshalb die entscheidende Verantwortung für ihre Erziehung und Ausbildung. Der Staat und andere kollektive Institutionen haben hier lediglich in dem Ausmaß Hilfe zu leisten, in dem die Eltern ihrer Aufgabe bei den heutigen vielfältigen und komplizierten Anforderungen nicht mehr allein gerecht werden können. Es ist notwendig, diese Grundstruktur des Verhältnisses zwischen Familie und Staat klar herauszustellen, um jedem Abgleiten in kollektivistische Gedankengänge und in entsprechend falsche Konsequenzen vorzubeugen.
Wenn sich staatliche Familienpolitik heute um Familie und Kinder kümmert, hat das seinen Grund also letztlich nicht darin, daß der Staat mehr Kinder braucht. Der Staat hat gar kein Recht, von den Familien mehr – oder auch weniger! – Kinder zu fordern, da er mit solchen Forderungen seine Grenzen überschreiten und in den geheiligten Intimbereich von Ehe und Familie eindringen würde, der allein der Gewissensverantwortung der Eltern vor Gott vorbehalten ist.
II. Eingriff der Gesellschaft in die
Freiheit der Familie
Wenn wir heute Familienpolitik treiben,
so deshalb, weil einem – gewiß unbeabsichtigten – Eingriff der
Gesellschaft in den Intimbereich von Ehe und Familie begegnet werden
muß, der als Folge der Arbeitsteilung, der Industrialisierung und der
Verstädterung immer deutlicher zutage tritt: Die Familie mit Kindern ist
heute sozial deklassiert, ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind
heute – im Gegensatz zu früher! – so groß, daß die überwältigende
Mehrzahl der Familien sich durch die heutige wirtschaftlich-soziale
Ordnung gehindert sieht, die Zahl von Kindern zu haben, die sie sich
wünscht. Gewiß spielt hier auch Überbewertung des materiellen
Lebensstandards, Mangel an ethischer Opferbereitschaft u. a. m. eine
bedeutsame Rolle, die keinesfalls übersehen werden darf. Es wäre auch
unnatürlich, wenn man von Eltern nicht Opfer – und fühlbare Opfer! – für
das große Glück des Besitzes von Kindern erwarten dürfte und müßte. Aber
all diese ethischen Gesichtspunkte können die gewichtige Tatsache nicht
aus der Welt schaffen, daß unsere durch Arbeitsteilung und
Industrialisierung bestimmte Gesellschaftsordnung die Familie mit
Kindern wirtschaftlich und sozial in ein Schattendasein abgedrängt hat
und damit ihre selbstverantwortliche freie Entfaltung entscheidend
behindert. Dieser Eingriff von Staat und Gesellschaft in die Freiheit
des Verantwortungsbereichs von Ehe und Familie wird von vielen nicht
gesehen, weil er eine ungewollte Begleiterscheinung der Arbeitsteilung
und Industrialisierung war. Aber dieser Eingriff ist deshalb nicht
weniger einschneidend und nicht weniger unerlaubt. […]
* Daß auch sozialistische Regierungen in
Westeuropa Kindergeld aus staatlichen Steuermitteln eingeführt haben,
besagt nichts gegen die Richtigkeit dieses Gedankens, sondern läßt
allenfalls ähnliche Ausgangspunkte
erkennen.
Quelle: Franz-Joseph Wuermeling, „Familienpolitik um der Gerechtigkeit willen“, Deutsches Pfarrerblatt, Nr. 20 (1958). Sonderdruck; BA/Bestand B 191/109; abgedruckt in Klaus-Jörg Ruhl, Hg., Frauen in der Nachkriegszeit 1945-1963. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1988, S. 135-37.