Kurzbeschreibung

In der sowjetischen Besatzungszone kommt es nach 1945 in den Ländern zu Bemühungen um eine Reform des § 218 des Strafgesetzbuches, die den Schwangerschaftsabbruch nicht nur bei einer Gefahr für das Leben der Mutter, einer zu befürchtenden Erbkrankheit oder bei einer Schwangerschaft aufgrund einer Vergewaltigung, sondern unter bestimmten Bedingungen auch bei sozialen Notlagen straffrei stellen würden. Der evangelische Thüringer Landesbischof Moritz Mitzenheim wendet sich in scharfen Worten gegen diese Bestrebungen, die seiner Meinung nach den Wert des menschlichen Lebens an sich untergraben, und schlägt statt dessen vor, daß Staat und Kirche gemeinsam werdenden Müttern wirtschaftliche und soziale Hilfen bieten.

Der Landesbischof der Thüringer Evangelischen Kirche, Moritz Mitzenheim, zum Gesetzentwurf über die Unterbrechung der Schwangerschaft (24. November 1947)

  • Moritz Mitzenheim

Quelle

An die Fraktion der Sozialistischen Einheitspartei im Thüringer Landtag

Mit steigender Besorgnis verfolge ich die Erörterungen, die, wie in anderen Ländern der Ostzone, nun auch in Thüringen um die Abänderung des § 218 StGB geführt werden. Ihre Fraktion hat dem Thüringer Landtag einen Gesetzentwurf über die Unterbrechung der Schwangerschaft vorgelegt, über den demnächst entschieden werden soll. Fern jeder Absicht, mich in Ihre und Ihrer Freunde politische Tätigkeit einzumischen, sehe ich mich durch diese Tatsache veranlaßt, als Landesbischof der Thüringer evangelischen Kirche vertrauensvoll ein freimütiges Wort an Sie und Ihre Fraktion zu richten, denn in dieser Sache tragen wir alle gleicherweise Verantwortung vor unserem Volke und für unseres Volkes Zukunft.

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Unabhängig von Religion und Konfession dürfte übereinstimmend im sittlichen Bewußtsein der Menschheit verankert sein, daß die Tötung von menschlichem Leben nur entschuldbar ist, wenn es sich um Notwehr oder um gerechte Sühne im Zuge einer geordneten Rechtspflege handelt. Am Anfang aller Kultur steht das Gebot, das Leben als einen heiligen Bezirk vor den Eingriffen der Menschen zu schützen. Wir Christen finden diese Grundgesetze in dem göttlichen Gebot „Du sollst nicht töten!“ Daß dieses Gebot mißachtet und im sittlichen Bewußtsein der Rechtsgenossen verschüttet und überwuchert wurde, ist nicht zum wenigsten mit eine der Ursachen, die Deutschland in den grauenhaften Verfall einer barbarischen Diktatur geführt und in den Abgrund des Zusammenbruchs gestürzt haben. Diese Erkenntnis verpflichtet die Kirche, so wie sie seinerzeit ihre Stimme gegen die „Euthanasie”- Morde erhob, auch heute aus Barmherzigkeit zur notwendigen Klarheit zu helfen.

Jede Unterbrechung der Schwangerschaft bedeutet einen Verstoß gegen dieses göttliche Gebot. In Fällen, bei denen unmittelbare Lebensgefahr für Mutter und Kind besteht, mag die Tötung des keimenden Lebens unter dem Gedanken der Notwehr entschuldbar sein. Die Unterbrechung der Schwangerschaft in einwandfrei nachgewiesenen Notzuchtfällen kann in der verwirrten Lage unserer chaotischen Gegenwart in Einzelfällen verzeihlich erscheinen. Eine Tötung aber aus anderen Gründen, selbst wenn sie mit öffentlicher Duldung und Unterstützung geschehen sollte, bleibt Sünde und bleibt ein Unrecht, dessen unausweichliche Folgen vorerst niemand abzusehen vermag. Hüten wir uns, augenblickliche Nützlichkeitserwägungen über Gottes Gebot zu stellen!

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Gewiß, es ist Sache des Staates zu entscheiden, in welchen Fällen er strafen und welches Unrecht er sorglos hingehen lassen und dulden will. Wenn aber ein Verbrechen gegen das keimende Leben, das bislang unter Strafdrohung gestanden hat, straffrei bleiben, ja in gewissen Fällen sogar unter staatlicher Aufsicht begangen werden soll, ist die unvermeidbare Folge, daß das Grundgesetz jedes menschliche Zusammenleben, die Ehrfurcht vor dem Leben des Anderen, wieder verdunkelt wird und die kaum begonnene Umerziehung unseres Volkes zur humanitären Gesinnung abgebrochen wird und fragwürdig erscheinen muß.

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Aus dieser sozialen Verantwortung, die die Kirche wie jede Organisation des öffentlichen Lebens mitträgt, schlage ich folgendes vor:

In einer noch zu vereinbarenden Weise nimmt die Kirche mit den Mitteln der Inneren Mission und des Hilfswerks sich aller der Mütter an, die sich aus sozialen Gründen nicht in der Lage glauben, Lebensmöglichkeiten für ihr Kind schaffen zu können, und hilft ihnen in Pflege und Erziehung der Kinder so, daß sie ohne Gefährdung für sich und ihre Kinder über die Krisenzeit unserer gegenwärtigen Notlage hinwegkommen. Es muß dem vereinten Bemühen von staatlichen und kirchlichen Stellen und Organisationen der freien Wohlfahrtspflege gelingen, für jeden Menschen Lebensmöglichkeiten zu schaffen. Es muß in einem sozialen Staat möglich sein, die mit § 2 Ziff. 2 vorgeschlagene Bestimmung überflüssig zu machen. Ich bitte Sie daher, den Gesetzentwurf, soweit er eine Schwangerschaftsunterbrechung aus sozialen Gründen vorsieht, zu revidieren und Vorbereitungen von Sofortmaßnahmen, an denen sich die Kirche mit ihren Mitteln beteiligen wird, einzuleiten, damit werdenden Müttern in Not wirtschaftlich geholfen werden kann.

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Quelle: Jürgen John, Hrsg., Quellen zur Geschichte Thüringens 1945–1952, Bd. 9/1. Erfurt, 1999, S. 340–43; abgedruckt in Udo Wengst und Hans Günther Hockerts, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 2/2: 1945–1949: Die Zeit der Besatzungszonen. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Dokumente. Baden-Baden: Nomos, 2001, Nr. 182, S. 410–12.