Kurzbeschreibung

Der Paragraf 175 des deutschen Strafgesetzbuchs wurde 1871 eingeführt; sein Hauptzweck bestand darin, homosexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe zu stellen. Die frühe Auslegung des Gesetzes war recht eng: Männer konnten nur dann als Verbrecher verurteilt werden, wenn ihnen „beischlafähnliches“ Verhalten nachgewiesen werden konnte, was die Durchsetzung des Gesetzes äußerst schwierig machte. Im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik wurden in der Regel jährlich einige Hundert Verurteilungen nach diesem Gesetz ausgesprochen. Die Nationalsozialisten formulierten das Gesetz jedoch so um, dass es eine breitere Definition erhielt, und nutzten es, um schwule Männer zu verfolgen und inhaftieren. Wissenschaftler/innen schätzen, dass es während des NS-Regimes etwa 100.000 Verhaftungen nach § 175 gab, von denen etwas mehr als die Hälfte zu einer Verurteilung führten. Die meisten Männer, die nach § 175 verurteilt wurden, verbüßten feste Haftstrafen, doch gehen Historiker/innen davon aus, dass zwischen 5.000 und 15.000 schwule Männer wegen Verstößen gegen das Gesetz in Konzentrationslager geschickt wurden (zumeist Männer, die mehrfach wegen Verstößen gegen das Gesetz verurteilt worden waren). In den Konzentrationslagern mussten sie rosa Dreiecke tragen, die sie als Homosexuelle oder „175er“ kennzeichneten. Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes durften Ost- und Westdeutschland den Paragrafen 175 beibehalten, während die Alliierten in beiden Staaten die Aufhebung zahlreicher anderer nationalsozialistischer Gesetze und Verordnungen anordneten. Westdeutschland entschied sich für die Beibehaltung der NS-Version des § 175, während Ostdeutschland sich für die frühere, enger definierte Version des Gesetzes entschied; Die DDR war gegenüber schwulen Männern insgesamt liberaler, während die BRD mit großem Eifer strafrechtlich gegen schwule Männer vorging. In diesem Artikel aus dem westdeutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel wird deutlich, dass die westdeutsche Entscheidung, den § 175 beizubehalten, nicht unumstritten war, doch blieb Homosexualität bis 1969 illegal, als die Bundesrepublik Deutschland Homosexualität teilweise entkriminalisierte.

Die Debatte um Paragraf 175 in der Nachkriegszeit (19. Juni 1957)

Quelle

Die Eigenart des Mannes

Die 24 prominenten Strafrechtslehrer, Justizbeamten, Richter und Anwälte, die seit Juni 1954 als „Große Strafrechtskommission“ an der schon jahrzehntelang vorbereiteten Reform des deutschen Strafrechts arbeiten und sie nun endlich verwirklichen wollen, sehen sich in diesem Bemühen seit kurzem durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Karlsruhe gehemmt, das eines der reformbedürftigsten Strafgesetze betrifft.

Die Richter in Karlsruhe hatten vor einem Problem gestanden, das auch die Strafrechtsreformer in hohem Maße beschäftigt: vor der Frage nämlich, ob der Paragraph 175 des Strafgesetzbuches heute noch Bestand hat[1]. Der Berliner Rechtsanwalt Dr. Werner Hesse hatte versucht, mit einer Verfassungsbeschwerde die Aufhebung zweier Urteile des Landgerichts Hamburg zu erreichen, die wegen Vergehens nach Paragraph 175 gegen einen Koch und einen Kaufmann ergangen waren.

Anwalt Hesses Versuch blieb ohne Erfolg, das Bundesverfassungsgericht (BVG) wies die Verfassungsbeschwerde ab. Es hatte sich seine Entscheidung allerdings nicht leicht gemacht: Seit der mündlichen Verhandlung im Januar 1956 waren fast sechzehn Monate vergangen, als der Erste Senat unter dem Vorsitz des BVG-Präsidenten Dr. Wintrich auf 80 Din-A-4-Seiten sein Urteil verkündete.

Was auf diesen 80 Seiten stand, mußte die „Große Strafrechts-Kommission“ bedrücken. Sie hatte über den Paragraphen 175 zwar noch nicht abschließend beraten, doch war man sich weitgehend einig, daß künftig der Paragraph 175 a beibehalten, die „einfache“ Unzucht nach Paragraph 175 dagegen nicht mehr unter Strafe gestellt werden soll.

Dieser Tendenz der Strafrechtsreform widerspricht die Entscheidung der Verfassungsrichter so sehr, daß die Reformer sich ernsthaft fragen müssen, ob das Urteil eine Änderung dieser heftig umstrittenen Strafbestimmungen nicht von vornherein unmöglich macht.

Anwalt Hesse hatte seine Verfassungsbeschwerde vornehmlich auf zwei Argumente gestützt:

Der Paragraph 175 verstoße gegen das Gleichheitsprinzip des Grundgesetzes, da er gleichgeschlechtliche Unzucht nur bei Männern, nicht aber bei Frauen bestrafe.

Der Paragraph 175 beschränke das im Grundgesetz garantierte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.

Um Klarheit über diese Fragen zu gewinnen, hatten die Karlsruher Verfassungsrichter sich zunächst von einem halben Dutzend prominenter Gutachter — Mediziner, Soziologen und Kriminologen — über den neuesten Stand der Forschung unterrichten lassen.

Die Gutachten der Sachverständigen zeigten zwar, daß die Experten weiter davon entfernt sind als je, über das Wesen der Homosexualität einig zu sein. Trotzdem aber wurde erneut deutlich, was die Strafrechtsreformer schon seit langem wissen: daß nämlich die Mediziner ganz überwiegend den Paragraphen 175 (nicht jedoch den Paragraphen 175a) für ungerecht oder doch zweckwidrig halten.

Eingriff in den Intimbereich

Zum ersten Mal beantworteten diese Experten auch die Frage, ob es sachlich gerechtfertigt ist, zwar männliche Verirrungen, nicht aber die lesbische Liebe zu bestrafen. Professor Kretschmer, der Direktor der Universitäts-Nervenklinik Tübingen, verneinte einen Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Abirrung, soweit es sich um die Frage der sozialen Gefährlichkeit, der Bedrohung von Personen oder Rechtsgütern handele. Grundsätzlich, so erläuterte Professor Graßberger, Leiter des Wiener Universitätsinstituts für Kriminologie, gefährde der einzelne homosexuelle Akt die sozialen Interessen bei Mann und Frau in gleicher Art.

Das Gericht bekannte sich jedoch in seinem Urteil zur gegenteiligen Auffassung. Es stellte fest, das Grundgesetz sei hier nicht anwendbar, weil „die Eigenart der Frau als weibliches Geschlechtswesen und die Eigenart des Mannes als männliches Geschlechtswesen den Tatbestand so wesentlich verschieden prägen, daß das vergleichbare Element — die anormale Wendung des Triebes auf das eigene Geschlecht — zurücktritt und lesbische Liebe und männliche Homosexualität im Rechtssinne als nicht vergleichbare Tatbestände erscheinen“.

Maßgebend für diese Entscheidung war die Annahme, daß die Prostitution für die männliche, nicht aber die weibliche Homosexualität spezifisch sei, was von allen Sachverständigen bestätigt wurde. Weitere prinzipielle Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Homosexualität sah das Gericht in der Tatsache, daß „der lesbisch veranlagten Frau das Durchhalten sexueller Abstinenz leichter“ gelinge als dem Manne, und daß „zwischen einer les­bischen Beziehung und einer zärtlichen Frauenfreundschaft kaum eine Grenze zu ziehen ist“. Daran knüpft das Gericht den überraschenden Schluß, daß „infolgedessen . . . Frauen, wenn weibliche Homosexualität unter Strafe gestellt würde, der Gefahr der Erpressung in weit höherem Maße ausgesetzt (wären) als Männer“.

Mit dem Hinweis auf die Erpressungsgefahr für Lesbierinnen, der offenbar die Straffreiheit lesbischer Liebe rechtfertigen helfen soll, gibt das Gericht einer Zweckmäßigkeitserwägung Raum, die es — ausdrücklich und betont — im Bereich männlicher Homosexualität nicht gelten lassen will. Denn daß die soziale Gefährdung männlicher Homosexueller nach Ansicht der meisten Kriminalisten eine Folge der Strafandrohung und der sich daraus ergebenden Gefahr der Erpressung ist, darauf ging das Gericht mit keinem Wort ein.

Mehr noch aber als an den eigenartigen Konstruktionen, mit dem die Verfassungsrichter sich über das Gleichheitsprinzip hinweggesetzt hatten, nahmen die Rechtsgelehrten der „Großen Strafrechtskommission“ an der Begründung Anstoß, mit der das Verfassungsgericht den Homosexuellen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 des Grundgesetzes) versagte.

In der Verfassungsbeschwerde, über die das Gericht zu befinden hatte, war vorgebracht worden, Paragraph 175 widerspreche diesem Grundrecht, denn es sei „eine gewaltsame Einengung der Existenz gleichgeschlechtlich empfindender Menschen — deren Eigenheit in den meisten Fällen angeboren ist —, wenn man ihnen nicht die Möglichkeit gibt, diese Empfindungen in die Tat umzusetzen“. Insbe­sondere bestehe kein öffentliches Interesse daran, „die freiwillige Ausübung homosexuellen Verkehrs unter Erwachsenen unter Strafe zu stellen“.

Mit dem Hinweis auf dieses allgemeine Persönlichkeitsrecht hatte der Anwalt die Verfassungsrichter in die Enge getrieben; sie mußten zugeben, daß zu der vom Grundgesetz „gewährleisteten freien Entfaltung der Persönlichkeit... auch das Gebiet des Geschlechtlichen“ gehört.

Um gleichwohl die Verfassungsbeschwerde abzuweisen, bedienten sich die Karlsruher Richter einer rechtlich einigermaßen bedenklichen Argumentation. Sie räumten zwar ein, daß es einen „letzten unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit“ gebe, „in den einzudringen also dem Gesetzgeber schlechthin verwehrt ist“, und daß „auch Vorgänge, die sich in ‚Kommunikation mit anderen vollziehen“, in den engsten Intimbereich fallen und „dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen sein“ können. Ob das aber der Fall ist oder nicht, hängt nach Karlsruher Lehre aus­schließlich davon ab, „ob der ,Sozialbezug der Handlung intensiv genug ist“.

Für die Frage, wann ein Eingriff des Gesetzgebers in den unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit intensiven Sozialbezugs halber zulässig ist, „kann es nun von großer Bedeutung sein“, so erläuterten die Richter, „ob die in Frage stehende Handlung gegen das Sittengesetz verstößt“.

Am Zopf des Sittengesetzes zogen sich die Karlsruher Richter, wenn auch mit einiger Mühe, aus der Verlegenheit. Sie gaben zwar zu, daß Schwierigkeiten bestehen, „die Geltung eines Sittengesetzes festzustellen“, erklärten aber kategorisch: „Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz.“

Die Richter erläuterten auch, woher sie die Maßstäbe für sittliches Verhalten ziehen, nämlich aus den Lehren der beiden großen christlichen Konfessionen, die allerdings, anders als die Karlsruher Richter, keinen Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Homosexualität machen und überdies auch — außerhalb der Ehe — normale sexuelle Beziehungen als unsittlich verurteilen.

Die Verfassungsrichter störte es offenbar auch nicht, daß sich zumindest eine der großen christlichen Konfessionen vor einiger Zeit mit dem Problem der Homosexualität besonders gründlich befaßt und dabei aus dem christlichen Sittengesetz wesentlich andere Folgerungen gezogen hatte als das Bundesverfassungsgericht.

Der „Römisch-Katholische Beratungsausschuß“, der in England unter dem inzwischen verstorbenen Erzbischof von Westminster, Bernard Kardinal Griffin, über die Probleme der Homosexualität beriet, stellte in seinem 1956 veröffentlichten Schlußbericht fest: „Es ist nicht Sache des Staates, in den höchstpersönlichen Bereich einzugreifen ... Dinge, die zwar sittlich verwerflich sind, die aber das Gemeinwohl nicht berühren, gehen den irdischen Gesetzgeber nichts an.“

Der Ausschuß machte auch klar, wie dieses Prinzip praktisch anzuwenden sei: Er schlug dem britischen Gesetzgeber vor, gleichgeschlechtliche „Handlungen unter Erwachsenen, außerhalb der Öffentlichkeit und aus freien Stücken ... straffrei zu lassen.“ Die Delikte, die im deutschen Recht vom Paragraphen 175a erfaßt werden, wollte der Ausschuß gleich den deutschen Straf­rechtsreformern auch weiterhin unter Strafe gestellt wissen.

Das Bundesverfassungsgericht sah jedoch offenbar keinen Anlaß, eine derart gewichtige Stellungnahme prominenter katholischer Christen in seinem auf dem christlichen Sittengesetz fußenden Urteil zu berücksichtigen. Ebensowenig ließen sich die Richter von der Tatsache anfechten, daß überall anderwärts die Homosexualität durchaus unabhängig von der Gültigkeit des christlichen Sittengesetzes bestraft oder nicht bestraft wird, denn

- viele katholische Länder bestrafen die Homosexualität nicht,
- überwiegend protestantische Länder hoben die Strafbedrohung in jüngster Zeit auf, und
- mohammedanische und andere Staaten, die dem Christentum fernstehen, führten Strafen ein.

Bemerkte die „Deutsche Zeitung und Wirtschafts Zeitung“: „Man sollte deshalb künftighin die Debatte ohne sittliche Begründungen führen und besser die Fragen der Zweckmäßigkeit von Strafen erörtern.“

Solche Zweckmäßigkeitserwägungen hält das Gericht jedoch offenbar für gänzlich belanglos. Mehr noch: Es meinte, den Umstand, daß einige Staaten auf eine Strafverfolgung verzichtet haben, gerade mit dem Hinweis abtun zu können, daß „eine solche Gesetzesänderung ... aus einer veränderten Auffassung von der Zweckmäßigkeit der Bestrafung der Homosexualität entsprungen sein“ kann.

Nun ist es den deutschen Gerichten allerdings schon immer schwergefallen, einen Grund für die Bestrafung freiwilliger gleichgeschlechtlicher Betätigung unter Erwachsenen zu finden. Denn die „instinktive Reaktion des Normalen auf abartige und abstoßende geschlechtliche Praktiken ... ist kein Strafgrund“, wie der Kölner Strafrechtler Professor Dr. Lange in der neuesten Auflage seines Strafrechtskommentars lakonisch feststellt.

In dem Bemühen, einen Strafgrund zu finden, haben die deutschen Gerichte bislang recht unterschiedliche Schutzobjekte herangezogen. So nennt das Oberlandesgericht Düsseldorf als Schutzobjekt des Paragraphen 175 „nicht das Einzelindividuum, sondern das allgemeine Wohl des deutschen Volkes in seiner sittlichen und gesundheitlichen Kraft sowie in der Integrität seiner Verwaltung“. Das Hamburger Oberlandesgericht denkt an „Volksgesundheit und vor allem Sittlichkeit“, während der Strafsenat Frankfurt das geschützte Rechtsgut „in der eigenen Sittlichkeit des Täters“ sieht.

Angesichts derart schwankender Urteilsgrundlagen nimmt es nicht wunder, daß schon 1930 im Entwurf einer großen Strafrechtsreform die Streichung des Paragraphen 175 vorgesehen war. Daß dann statt dessen 1935 der Paragraph 175 so umformuliert und erweitert wurde, daß heute sogar Männer verurteilt werden können, die sich nie körperlich berührt haben, erklärt der Kölner Professor Lange mit dem Hinweis, daß der Paragraph damals nicht mehr den Anforderungen entsprochen habe, die „in einer Zeit der Männerbünde und der permanenten Kasernierung für erforderlich“ gehalten wurden.

Solchen Bedenken haben sich auch die Rechtsgelehrten, die an der Strafrechtsreform arbeiten, nicht verschlossen. Zwar wollen sie den Paragraphen 175 (nicht dagegen den Paragraphen 175a) gestrichen wissen, haben jedoch für den Fall, daß dieser Vorschlag vom Gesetzgeber akzeptiert wird, bereits eine Sondervorschrift ausgearbeitet, die Jugendlichen unter besonderen Verhältnissen einen Schutz gewähren soll, der über den Bereich des Paragraphen 175a hinausgeht. Die Strafrechtsreformer machen kein Hehl daraus, an was für „besondere Verhältnisse“ sie dabei vor allem denken: an den Dienst in der Bundeswehr.

Anmerkungen

[1] Paragraph 175 bestraft die sogenannte einfache Unzucht zwischen Männern mit Gefängnis. Paragraph 175 a bestraft mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren die sogenannte schwere Unzucht zwischen Männern. Die Erschwerung kann liegen in der Nötigung zur Unzucht, im Mißbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit, außerdem in der Verführung eines Minderjährigen oder in der Gewerbsmäßigkeit solchen Tuns.

Quelle: „Die Eigenart des Mannes“, Der Spiegel, 19. Juni 1957, S. 23–26. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-32092778.html