Quelle
Arbeitsgruppe für Jugendfragen beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands: Republikflucht von Jugendlichen sowie jugendliche Rückkehrer und Zuziehende in der Zeit vom Januar bis September 1960
Berlin, 10. November 1960
Bei dem vom Sekretariat des Zentralkomitees beschlossenen Brigadeeinsatz der Arbeitsgruppe Jugend im Bezirk Karl-Marx-Stadt zu den Fragen der massenpolitischen Arbeit unter der Jugend stellten wir fest, daß die Republikflucht von Jugendlichen im Alter von 15 bis 25 Jahren in der Zeit von Januar bis September 1960 bedeutend zugenommen hat.
Die Arbeitsgruppe Jugend hat daraufhin veranlaßt, daß, sowohl vom zuständigen Sektor im Zentralkomitee als auch vom Staatsapparat, eine Gesamtübersicht über Republikflucht, Rückkehr und Zuzug von Jugendlichen an uns gegeben wird.
Die Überprüfung dieser Materialien ergibt folgende Tatsachen:
1.) Die Republikflucht von Jugendlichen im Alter von 15 bis 25 Jahren hat in dieser Zeitspanne bedeutend zugenommen.
Insgesamt verliessen die Republik 43.658 Jugendliche
davon 24.577 männliche und 19.081 weibliche Jugendliche.
Im Monat Februar liegt die Zahl dieser Jugendlichen mit 2.815 am niedrigsten. Steigert sich dann bis zum Mai auf 5.804, sinkt im Juli auf 4.669 und erreicht im August die Zahl von 6.153 und im September 7.331.
Ein Vergleich mit den Jahren 1958 und 1959 zeigt ein bedeutendes Ansteigen der Republikflucht von Jugendlichen.
Im Jahre 1958 waren es von Januar bis Dezember 60.727. Im Jahre 1959 waren es von Januar bis Dezember 42.647, davon in der Zeit von Januar bis September 1959 31.635 Jugendliche, die die Republik verliessen.
Im Verlaufe des gesamten Jahres 1960 stehen dabei folgende Bezirke in der Republikflucht von Jugendlichen an der Spitze, wobei die in Klammern angegebenen Zahlen die Monate August und September betreffen.
Magdeburg (490 – 499)
Leipzig (558 – 545)
Erfurt (541 – 583)
Karl-Marx-Stadt (525 – 618)
Dresden (535 – 669)
Potsdam (645 – 785)
Berlin (639 – 806)
Von diesen republikflüchtigen Jugendlichen war ein nicht unbeachtlicher Teil Mitglied der FDJ. Das geht aus folgender Übersicht hervor:
In den Monaten Juli, August und September 1959 verliessen 12.151 Jugendliche die Republik, davon 1.750 FDJ-ler.
In dieser gleichen Zeit des Jahres 1960 verliessen 18.153 Jugendliche die Republik, davon 2.920 Mitglieder des Jugendverbandes.
Obwohl aus den vorliegenden Materialien die soziale Stellung dieser Jugendlichen sehr unvollständig ist, ergibt sich doch folgender Überblick:
a) Den größten Teil dieser republikflüchtigen Jugendlichen machen die Jugendlichen aus der Industrie und Landwirtschaft aus, wovon ein nicht unbeträchtlicher Teil junge Facharbeiter sind.
Sehr ernst ist, daß diese Jugendlichen aus den volkswirtschaftlich wichtigen Schwerpunkten der einzelnen Bezirke kommen.
So ist zum Beispiel im Bezirk Halle die Stadt Halle selbst, der Kreis Merseburg (hier speziell die chemischen Großbetriebe) und weiterhin Kreise wie Wittenberg, Dessau, Weißenfels u.a. Schwerpunkt.
b) Ein nicht unbedeutender Teil der republikflüchtigen Jugendlichen sind junge Lehrer der allgemeinbildenden Schulen, Studenten, Fachschüler, Oberschüler und Abiturienten.
Von diesen Jugendlichen verliessen in der Zeit von Juli bis September 1960 2.006 die Republik.
Dabei stieg die Zahl der jungen Lehrer von 39 im Juli bis 292 im September, der Studenten von 52 im Juli auf 107 im September und bei den Oberschülern und Abiturienten von 176 auf 345 im September.
Bei den Oberschülern und Abiturienten ist sehr charakteristisch, daß sie meistens nur gemeinsam mit den Eltern die DDR verlassen. Es haben zum Beispiel in der Stadt Rostock von 42 Jugendlichen 31 die Republik mit ihren Eltern verlassen.
Bei der jungen Intelligenz, die republikflüchtig wird, ist bei der Einschätzung von großer Bedeutung, daß es in den verschiedenen Bezirken hierbei Schwerpunkte gibt. So sind vom Amt für Maße und Gewicht in Berlin 16 junge Intelligenzler republikflüchtig geworden, die alle in Jena und Halle studiert haben.
Weiterhin ist z.B. das Institut für Post- und Fernmeldewesen in Berlin ein weiterer Schwerpunkt.
Die Überprüfung der Ursachen der Republikflucht zeigt in der Hauptsache die Unterschätzung der ständigen, beharrlichen, politisch-ideologischen Arbeit unter der Jugend.
Nach wie vor stützen sich viele der leitenden Parteiorgane und Grundorganisationen der Partei, besonders aber die Leitungen des Jugendverbandes, nur auf die Vorhut der Jugend, vernachlässigen die Aktivierung des ganzen Jugendverbandes und lassen damit die wichtigste Voraussetzung außer acht, an die gesamte Jugend heranzukommen.
Ausdruck dieser Vernachlässigung ist die Tatsache, daß z.B. die programmatische Erklärung des Staatsrates vor der Volkskammer vielen Jugendlichen dem Inhalt nach unbekannt ist.
Seine Ursache hat das unter anderem darin, daß viele Funktionäre in ihrem Auftreten vor der Jugend wohl von dieser programmatischen Erklärung sprechen, ohne sie der Jugend zu erklären.
Diese Vernachlässigung der politisch-ideologischen Arbeit unter der gesamten Jugend hat viele unklare Auffassungen und negative Argumente der Jugendlichen selbst zur Folge.
Solche Argumente sind:
„Aufbau des Sozialismus heißt Vertiefung der Spaltung,
Mein Vaterland ist Deutschland,
Was die Entwicklung in Deutschland betrifft, so machen das die Russen und Amerikaner ja doch unter sich aus,
Die Kapitalisten müssen doch besser sein, sonst brauchten wir sie doch nicht einholen wollen,
Bei den Schwierigkeiten die es gibt werden wir es nie schaffen,
So schlimm wie ihr es macht ist die Entwicklung in Westdeutschland ja doch nicht,
Die Bildung des Staatsrates bedeutet, daß Walter Ulbricht nun die ganze Macht an sich gerissen hat,
Wozu noch Vorschläge über Abrüstung, Friedensvertrag usw. die Amerikaner machen ja doch was sie wollen,
In Westdeutschland herrscht wirklich Freiheit und Demokratie, dort kann man wenigstens machen, was man will“.
(das wird besonders mit dem Hören des Senders Luxemburg, der Jazzmusik in Verbindung gebracht usw.)
Die bereits genannte Überprüfung der Ursachen der Republikflucht hat auch mit aller Deutlichkeit gezeigt, daß von Eltern, älteren Arbeitern im Betrieb, aber auch von Partei- und Jugendleitungen der Ernst dieser Situation unterschätzt wird.
So brachten mehrere Wirtschaftsfunktionäre und auch Arbeiter in der Maschinenfabrik in Halle zum Ausdruck, daß die Republikflucht von Jugendlichen eine Modekrankheit sei die vorübergeht, bzw. daß sich die Jugendlichen die Hörner ruhig abstossen müssen, da sie eines Tages doch wieder nach Hause zurückkämen.
Im Montagewerk Halle erklärte der Leiter der Abteilung Arbeit „was kann man eigentlich dagegen tun? Mein Junge hört auch nicht mehr auf mich und außerdem werden sie auch bei uns schon mit 18 Jahren mündig, da haben die Eltern ja nichts mehr zu sagen.“
Daß diese Unterschätzung tatsächlich vorhanden ist, geht auch aus einer Einschätzung über die Republikflucht von 33 Jugendlichen im Kreis Fürstenwalde hervor, wo als die Ursache der Republikflucht folgendes festgestellt wird:
9 gingen zu Verwandten, 7 wegen eingeleitetem Ermittlungsverfahren, 6 wegen Angst vor Strafe, 3 zu den Eltern, 3 zu den Ehepartnern, 3 wegen beabsichtigter Eheschließung und 2 wegen Familienzwistigkeiten.
Daraus ist aber nicht ersichtlich, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der Jugendlichen die Republik verläßt, weil sie persönlich keine Perspektive in unserer Republik sehen und der Meinung sind, daß sie im Westen alle Freiheiten und Möglichkeiten haben, sich ungehindert entwickeln zu können.
Offensichtlich verläßt auch ein Teil der Jugendlichen die Republik, weil sie unsere Darstellungen über die faschistische, militaristische Entwicklung in Westdeutschland als nicht glaubhaft betrachten, und nicht wenige Jugendliche sprechen davon, daß bei uns nur gearbeitet wird, ansonsten aber nichts geboten werden kann bzw. nichts los ist.
Außerdem wird offensichtlich die bewußte planmässige Abwerbung von Jugendlichen nicht genügend beachtet.
Die Überprüfung der Jugendkriminalität und des Rowdytums, besonders im Bezirk Halle, hat gezeigt, daß bei den festgestellten Gruppen, Klubs und Banden eine Anzahl Jugendliche als Leiter bzw. als Aktivste tätig waren, die früher republikflüchtig wurden und inzwischen wieder zurückgekehrt sind bzw. zuziehende Jugendliche.
Weiterhin wird offensichtlich die direkte Verbindung zu den bei uns in der Republik existierenden illegalen Klubs mit solchen in Westdeutschland mit Hilfe von Postkartenaustausch, Teilnahme an Preisausschreiben usw. unterschätzt.
2.) Die Rückkehr von Jugendlichen in die Republik sowie die Zahl der zuziehenden Jugendlichen hat in der Zeit von Januar bis September 1960 zugenommen.
So gibt es in dieser Zeit 10.546 Rückkehrer davon 6.990 männliche und 3.556 weibliche.
Zuziehende Jugendliche gibt es in dieser Zeit 3.766 davon 2.475 männliche und 1.291 weibliche Jugendliche.
Bei den Rückkehrern haben wir es in jedem Monat mit 900 bis 1.000 Jugendlichen zu tun, wobei im April 1.199, im Juli 1.025, im September 1.068 die größten Zahlen erreicht wurden.
Bei den Zuziehenden handelt es sich um monatlich 350 bis 480 Jugendliche, wobei im April 476, Juni 406, August 424 zuziehende Jugendliche als Höchstzahlen erreicht wurden.
In den meisten Fällen bringen diese jugendlichen Rückkehrer zum Ausdruck, daß ihnen die Augen über die wirklichen Verhältnisse in Westdeutschland geöffnet wurden, und daß sie ihre soziale Lage zu diesem notwendigen Schritt veranlaßt hat.
Bei den zuziehenden Jugendlichen ist sehr charakteristisch, daß sie sich der Wehrpflicht entziehen wollen und darum in die DDR kommen, bzw. die soziale Lage besonders in solchen Industriezweigen wie Bergbau sie veranlaßt, Westdeutschland zu verlassen.
Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Jugendlichen bringt auch unmißverständlich zum Ausdruck, daß sie es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können weiter in Westdeutschland zu bleiben, da es für sie offensichtlich geworden ist, daß in Westdeutschland die gleichen Faschisten und Militaristen wiederum die Politik bestimmen und einen Krieg gegen die sozialistischen Länder, besonders gegen die DDR, vorbereiten.
Ein ernster Mangel besteht vor allem darin, daß nur zum Anfang, beim Eintreffen in der DDR, sich um diese Jugendlichen gekümmert wird und sie sich bereits nach kurzer Zeit selbst überlassen bleiben.
Daraus geht auch hervor, daß man ihre Erfahrungen nicht nutzt, um damit die Jugendlichen in der Republik über die politischen und sozialen Verhältnisse in Westdeutschland aufzuklären. Das bedeutet, daß diese Rückkehrer und Zuziehenden weder veranlaßt werden, vor der Jugend der Republik eine politische Stellung zu beziehen und vor ihnen aufzutreten, wie auch andererseits zu wenig politisch mit diesen Jugendlichen gearbeitet wird.
Mit sozialistischem Gruß!
Arbeitsgruppe für Jugendfragen
beim ZK der SED
Quelle: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/16/230, SED-Hausmitteilung, Umdruck. Bezug: Darstellungsband 8, III 10 (Familien-, Jugend- und Altenpolitik), Anm. 68; abgedruckt in Dierk Hoffmann und Michael Schwartz, Hrsg., Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 8: 1949–1961: Deutsche Demokratische Republik. Im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus. Baden-Baden: Nomos, 2004, Nr. 8/215.