Quelle
Bahnhofsmission im Jahre 1945
I. Die örtliche Arbeit.
Drei Eindrücke sind als Merkmale des Jahrs 1945 besonders lebendig.
1. Überall wird B.M.-Arbeit neu ins Leben gerufen. Am 1. September [1939] war die alte bewährte Arbeit der B.M. durch Erlass der NSV. (Hilgenfeldt) eingestellt worden. Was dafür in Tarnung als „Kirchlicher Dienst an der wandernden Gemeinde“ getan werden konnte, war sehr bescheiden und als B.M. im eigentlichen Sinne nicht mehr anzusprechen, - wenngleich auch gerade in dieser Arbeit, angesichts wachsender Not durch die verbombten Städte und ihre evakuierten Bewohner, vonseiten der Zentralstelle mit grosser Liebe gearbeitet worden ist und dankbar u.a. gesehen werden kann, dass diese Arbeit die Zentralstelle der B.M. für den heutigen Dienst erhalten hat.
Im Mai 1945 kam der Zusammenbruch. Von dem Augenblick an, wo der bescheidenste Reiseverkehr einsetzte, war die B.M. da. Aus Berlin, aus der Provinz, aus der Zone, endlich auch aus dem Westen kamen die Meldungen: „Wir sind am Werk.“ In den Monaten Mai, Juni, Juli, August und September waren alle hauptsächlichsten B.M.n wieder erstanden.
Hinter den örtlichen B.M.n und ihrem Einsatz stand die Initiative aller kirchlichen Kräfte, vor allem der Einsatz der Inneren Mission, die örtlich und in den provinziellen Stellen sofort mit grosser Tatkraft zugriff. Auch die Frauenhilfe sprang ein. Sie stellte vor allem in grosser Zahl die ehrenamtlichen Kräfte und half durch materielle Gaben. Das zum Teil ganz besonders in den Gegenden, wo selber auf den Dörfern bittere Not herrschte. Das Gleiche geschah von Seiten der Kirchengemeinde. Der barmherzige Brotkorb, der barmherzige Kleiderschrank werden zu wichtigsten Hilfsquellen, um einen Teil der uferlosen Not zu lindern. Finanzielle Beihilfen zur Besoldung der Kräfte werden zur Verfügung gestellt. Wir haben diese Verankerung der Arbeit in der Kirchengemeinde mit grosser Freude begrüsst. Sie muss weiterhin gefördert und vertieft werden. (Gemeinden sollten, wie es jetzt in Pommern geschieht, Patenschaften für B.M.n übernehmen, und die Gemeindeglieder müssen zur Verteilung ihrer Gaben an die Notleidenden herangezogen werden. Wichtig ist es, dass die Bahnhofsmissionarinnen an Gemeindeabenden immer wieder eingehend aus ihrer Arbeit berichten.)
[…]
2. Der zweite bleibende Eindruck des Jahres 1945 ist das erschütternde Ausmass der Not. Was sich auf den Bahnhöfen abgespielt hat, ist in besonders krasser und zusammengedrängter Form das Elendsbild des deutschen Schicksals. Ein Jammer ohne gleichen! Ein Chaos an Not! Die B.M. erlebt alles sozusagen aus erster Hand.
Es genügen wenige Sätze aus einem Bericht aus Frankfurt/O über die Sommermonate 1945, um das deutlich zu machen:
„Wochenlang kamen täglich 10–15.000 Flüchtlinge auf dem Bahnhof an. Infolgedessen musste die Eisenbahn im Monat 124 Waggons Unrat vom Bahnhof wegbefördern. Es fehlt an Obdach, Nahrung, Kleidung. Es kommen Männer und Frauen, die nur notdürftig in zerlumpte Decken gehüllt sind und sonst nichts mehr besitzen.“
Da sind die Kranken, - (Typhus und Ruhr vor allem), da sind die mit Ungeziefer übersäten Menschen, die Sterbenden, die Toten! Die Bahnhofsmissionarinnen arbeiten an ihnen unter Einsatz des eigenen Lebens! Da sind die Hungernden! Erschütternd ist die Schilderung aus einer westlichen Stadt:
„Als der Zug einlief, sahen wir mit furchtbarem Entsetzen, wie Menschen aus ihm herausfielen, die total geschwächt, unfähig aufrecht zu gehen, schreiend nach Brot, über die Schienen auf uns zugekrochen kamen.“
Es beginnen die Heimkehrertransporte, und wieder sei an Frankfurt/O erinnert, wo viele Wochen hindurch täglich 100–200 Soldaten morgens in den Strassen vor Keller- und Hauseingängen tot aufgefunden werden. Der Bahnhof Rummelsburg berichtet im November 1945, dass am Busstag ein unangemeldeter Heimkehrertransport, der 1 ½ Tage von Frankfurt bis Berlin brauchte, einläuft. Er birgt 30 Tote. (Die Arbeit in Rummelsburg war besonders schwer. Das Bahngelände allein erstreckt sich 3 km lang. Oft kamen an ganz verschiedenen Stellen 3–4 Transporte auf einmal an.)
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3. Damit wird als dritter bleibender Eindruck für die B.M.-Arbeit 1945 deutlich: die über alle Begriffe grossen Schwierigkeiten, zu helfen. Überall zerstörte Bahnhöfe. Kein Raum, kein Wasser, keine Kochgelegenheit, keine Lebensmittel, keine Medikamente, keine Unterbringungsmöglichkeiten oder nur solche, wo einen das Grauen packt und die Ärmsten besser unter freiem Himmel liegen und sterben (z.B. der La Plaza-Bunker in Berlin.) Keine Tragbahren, keine Transportmöglichkeiten, kein Telefon zu Krankenhäusern, Ämtern, Bahnstellen, kirchlichen Stellen u.a.m. Keine Träger, keine Geleitpersonen, die durch die Strassen führen, wo alle Verkehrsmöglichkeiten fehlen und die erschöpften Mütter, Kinder, Kranke und Greise mit ihrem schweren Gepäck viele Kilometer bis zu einer Unterkunft laufen müssen. Und es bleibt eine der schwersten Nöte, dass auf tausend Fragen keine Antwort und in tausend Fällen keine Hilfe gegeben werden kann. Zu alledem kommt die persönliche Unsicherheit für die Bahnhofsmissionarinnen hier im Osten. Nachtdienst, für Männer gefährlich, ist für Frauen einfach unmöglich. Er ist ja auch heute noch Gefahr.
Angesichts dieser Tatsachen darf gesagt werden: Sicherlich konnte die B.M. nicht entfernt die Not lindern, die ihr begegnete. Aber: sie war da. Als erste. Die anderen, die sich jetzt um den Vorrang, Bahnhofsdienst zu tun, bewerben, kamen, als das Schrecklichste überstanden war. Was hier von den Bahnhofsmissionarinnen an tapferem Einsatz geleistet worden ist, wird unvergessen bleiben. Hier ist wirklich Nächstenliebe unter völligem Einsatz des eigenen Ichs und ohne Fragen nach Lohn und Dank geübt worden. Ja, man konnte staunen, mit welch unermüdlicher Erfindungsgabe Mittel und Wege gefunden wurden, um zu helfen. Und wir wollen nicht vergessen, dass unsere Bahnhofsmissionarinnen, selbst hungrig, müde, am Ende der Kraft, angefochten von eigenem Leid, vielfach selber als Flüchtlinge im Dienst gestanden haben und noch heute stehen.
II. Die Arbeit der Zentralstelle.
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Im Herbst wird die Verbindung mit der Caritas aufgenommen und die alte „Kirchliche Konferenz der Bahnhofsmission“ neu ins Leben berufen. - Dies führt von vornherein zu einer sehr regen Zusammenarbeit mit der katholischen Leitung. Darüber ist viel Positives zu verzeichnen, eine wirkliche gegenseitige Hilfe und Förderung. Aber zugleich wird, z.T. nicht ganz unbedenklich, eine sehr starke katholische Aktivität sichtbar. Die Wachsamkeit von unserer Seite bleibt dringend erforderlich. - Es geht nun von der Zentrale her an Materialbeschaffung, vor allen Dingen werden Schilder und Armbinden gebraucht. Alle Anläufe darin zeitigen aber erst 1946 Erfolge. - Am 16. November 1945 ist ein erstes Zusammenkommen mit Vertretern der Landes- und Provinzialstellen der B.M. in der Ostzone möglich. Es findet statt im Zentralausschuss der I.M. Berlin-Dahlem und bringt viele gegenseitige Anregungen. Die Zentralstelle wird um Richtlinien gebeten, die alsbald herausgehen.
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IV. Aus dem Westen wird deutlich, dass die dortigen B.M.n leichtere Arbeitsbedingungen haben. Trotz zerstörter Bahnhöfe kommen sie erheblich schneller zu Räumen, arbeiten ungehinderter und haben vor allem erstaunliche Möglichkeiten an materieller Hilfe. Besonders in der Lebensmittelausgabe. - Ich kann Frau Äbtissin von Alvensleben als meine Vertretung in der britischen Zone einsetzen und schliesslich auch Ende des Jahres Fühlung mit unserem Vorsitzenden, Präsident von Kameke, aufnehmen. In der amerikanischen Zone übernimmt P. Schumacher, der Leiter der Inneren Mission in Frankfurt/M. die Betreuung der B.M. Alle schriftlichen Herausgaben der Zentrale, z.B. Rundschreiben, Richtlinien usw. werden allmählich auch dem Westen zugeleitet.
Bahnhofsmission im Jahre 1946.
1946 bringt in vielem ein ähnliches Bild und ist doch zugleich sehr anders, vor allem für die Ostzone. Neue Fragen, neue Nöte, aber auch neue Möglichkeiten zeigen sich. Alles in allem gilt für 1946: ein sehr lebhaftes Jahr mit grossen Sorgen und doch letzten Endes mit sehr viel Grund zum Danken.
I. Die örtliche Arbeit.
Dazu ist zu sagen:
1. Die Arbeit wird geordneter.
Es finden sich Räume, oft viel zu klein und doch bedeuten sie ungeheure Hilfe. […]
2. Die praktische Betreuungsarbeit hat es jetzt mit übersichtlichen Gruppen zu tun.
a) Die Flüchtlinge. Unaufhörlich kommen weiter die Transporte Ausgewiesener aus dem Osten an. Millionen von Menschen! Und mit ihnen schreckliche Elendsbilder, Not und auswegslose Zukunftssorgen. Schätzungsweise werden diese grossen Transporte noch 3–4 Monate anhalten. Wenngleich manches darin geordneter wird, so ist die Not vor allem nun im Winter wieder erschütternd gross geworden und die Unterbringungsfrage der Zurückgeführten ist eins der katastrophalsten Probleme für Deutschland. Transporte aus Pommern kommen seltener. In Löcknitz b. Stettin sind es im zweiten Halbjahr 1946 vor allem Einzelpersonen, die herüber kommen. Die hauptsächlichsten Ausweisungen erfolgen aus Schlesien. Unter diesen Flüchtlingen sind besonders zu bedenken:
b) Die Hin- und Hergeworfenen. Welch eine Tragödie z.B. im vorigen Sommer auf dem Stettiner Bahnhof in Berlin, wo die Züge aus Pommern einlaufen, und wo diesen geplagten ausgeplünderten, erschöpften Menschen gesagt wird: „Fahrt nach Mecklenburg, dort findet ihr eine neue Heimat,“ und die dann von Mecklenburg wieder zurückgeschickt, in Berlin erneut erscheinen und nicht wissen, wohin. Auch der Magdeburger Bunker (jetzt leider nicht mehr vorhanden) kann darüber erschütternde Berichte geben. […]
c) Die Heimkehrer. Es erübrigt sich, viel über die Not dieser uns allen lebendig vor Augen stehenden Menschen zu sagen. Dank des Hilfswerkes und dank viel treuer Hilfe durch die Gemeinden war es den B.M.n. hier oft am besten möglich, tatkräftige Hilfe zu zeigen. Vor allem im Westen. Sehr viel Unruhe, Sorgen und Not bereitete allen B.M.n.
d) Der Hungerverkehr. Man kann ihn ja nur zum kleinen Teil mit „Hamsterverkehr“ bezeichnen. Es sei erinnert an die traurigen Bilder der überfüllten Züge, an alle Aufregung, Rücksichtslosigkeit, Schreckensszenen und Unglücksfälle, die damit zusammenhingen.
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f) Die Aufgaben an der gefährdeten Jugend. In ganz Deutschland zeigt sich darin auf allen Bahnhöfen ziemlich das gleiche Bild. Die B.M. ist hier zu ganzem Einsatz aufgefordert. Im Westen haben die Ev. und Kath. B.M. zusammen einen Antrag zur Schaffung besonderer Hilfsmassnahmen für gefährdete Jugendliche und Kinder an die Reichsbahn gerichtet. Sie hoffen auch, durch Plakate die Eltern und Erwachsenen zum verantwortlichen Aufmerken und Helfen wachzurufen.
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4. Die Finanzierung der Arbeit ist sehr verschieden möglich geworden. Viele Ausgaben wurden durch Spenden gedeckt. Es bleiben aber grosse Probleme - vor allem in der genügenden Besoldung der hauptamtlichen Kräfte. Dies nimmt als Schwierigkeit besonders im Osten zu. Im Westen ist der B.M. 5 mal im Jahr eine Bahnhofssammlung genehmigt worden.
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Oberin L. von Schierstaedt
Geschäftsführerin
Quelle: ADW, ZBB 792; abgedruckt in Udo Wengst, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 2: 1945–1949: Die Zeit der Besatzungszonen. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Dokumente. Baden-Baden: Nomos, 2001, Nr. 110, S. 242–47.