Kurzbeschreibung

Die Entscheidung Israels, Eichmann in Argentinien zu verhaften, führte zu Spannungen in den Beziehungen Israels zu Argentinien. Argentinien brachte die israelische Verletzung seiner Souveränität vor die Vereinten Nationen und bestand auf deren Behebung; die Angelegenheit wurde schließlich vor den Sicherheitsrat gebracht, der entschied, dass Israels Entschuldigung an Argentinien als angemessene Wiedergutmachung zu betrachten sei, und lehnte die Forderung Argentiniens ab, Eichmann an Argentinien zurückzugeben. Golda Meir brachte den Wunsch ihres Landes zum Ausdruck, freundschaftliche Beziehungen zu Argentinien zu unterhalten, und innerhalb weniger Monate normalisierten sich die Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Die argentinischen Juden litten jedoch sehr unter den Spannungen zwischen den beiden Ländern und sahen sich mit dem Vorwurf der geteilten Loyalität, antisemitischen Ausbrüchen und einer Welle der Gewalt konfrontiert.

Israel gibt die Festnahme Eichmanns in Argentinien zu (8. Juni 1960)

Quelle

Israel gibt die Festnahme Eichmanns in Argentinien zu
Eine Antwortnote in Buenos Aires überreicht / Der ehemalige SS-Führer soll freiwillig gefolgt sein
Bericht unseres Korrespondenten in Buenos Aires

F. O. E. BUENOS AIRES, 7. Juni. Der ehemalige SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann ist von einer Fahndungsgruppe israelischer „Freiwilliger“ aus Argentinien herausgebracht worden und ging aus eigenem Entschluß nach Israel. Diese überraschenden Mitteilungen sind in einer Note enthalten, die der israelische Botschafter in Buenos Aires am Pfingstmontag dem argentinischen Außenministerium überreichte und die kurz darauf veröffentlicht worden ist. – Die israelische Regierung hatte seinerzeit erklärt, sie werde niemals bekanntgeben, wo Eichmann in ihre Hände gefallen sein.

In der israelischen Note heißt es, die Regierung in Jerusalem habe keine Kenntnis davon gehabt, daß Eichmann aus Argentinien gekommen sei, da die israelischen Sicherheitsdienste nichts darüber berichtet hätten. Erst nach dem Empfang des Telegramms ihres Botschafters in Buenos Aires vom 1. Juni 1960 sei die israelische Regierung darüber unterrichtet worden, und sie habe sodann von dem Sicherheitsdienst, der Eichmann festnahm, Einzelheiten der Aktion angefordert.

Die israelische Note berichtet, daß nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges jüdische „Freiwillige“, darunter auch israelische Staatsbürger, mit der Suche nach Eichmann begonnen hätten, der als Hauptverantwortlicher für die Judenmassaker in Europa galt. 15 Jahre hindurch hätten diese „Freiwilligen“ ergebnislos in mehreren europäischen Staaten, in den arabischen Ländern und in Südamerika nach ihm gesucht. Vor einigen Monaten seien Berichte einer Gruppe jener „Freiwilligen“ aus Argentinien eingetroffen, denen zufolge sich Eichmann dort unter falschem Namen und ohne Wissen der argentinischen Regierung verborgen halte. Es sei nicht klar gewesen, ob diese Nachricht glaubwürdig sei oder nicht. Jedenfalls hätten die Suchenden aber feststellen können, daß in Argentinien viele Nazis wohnten.

Darauf seien die Nachforschungen mit neuem Eifer aufgenommen worden. Als der Flüchtling entdeckt wurde, sei er gefragt worden, ob er bereit sein, nach Israel zu gehen, um sich der Justiz zu stellen. Eichmann habe eingestanden, daß er sich illegal und mit falschen Papieren in Argentinien befinde. Auf die Aufforderung, sich den israelischen Gerichten zu stellen, habe er um 24 Stunden Bedenkzeit gebeten. Diese Frist sei ihm gewährt worden. Am folgenden Tage habe er sich bereit erklärt, freiwillig nach Israel zu gehen. Gleichzeitig habe er der Gruppe, die ihn entdeckt hatte, eine handschriftliche Erklärung übergeben, in der er seine Entscheidung bekanntgab, die Ereignisse der letzten Jahre seiner dienstlichen Tätigkeit in Deutschland offen und unverhohlen zu beschreiben, damit diese Darstellung künftige Generationen ein wahres Bild der Geschehnisse übermittle.

Die Freiwilligengruppe, so fährt die Note fort, brachte Eichmann darauf „mit seinem vollen Einverständnis“ aus Argentinien heraus und übergab ihn dem israelischen Sicherheitsdienst. Dieser habe am 23. Mai der israelischen Regierung mitgeteilt, daß sich Eichmann in seinen Händen befinde, worauf die Regierung die Anklageerhebung gegen Eichmann angeordnet habe. Erst später sei der Regierung in Jerusalem zur Kenntnis gebracht worden, daß Eichmann aus Argentinien kam.

Der Brief, in welchem Eichmann volle Auskünfte über seine Tätigkeit anbot, hat folgenden Wortlaut: „Ich, der unterzeichnete Adolf Eichmann, erkläre aus meinem eigenen Willen: Seitdem meine wahre Identität bekanntgeworden ist, habe ich erkannt, daß es keinen Sinn hat, länger zu versuchen, mich der Gerechtigkeit zu entziehen. Ich erkläre daher, daß ich gewillt bin, nach Israel zu reisen, um mich dort einem zuständigen Gericht zu stellen. Mir wurde zu verstehen gegeben, daß ich dort rechtlichen Beistand erhalten werde, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um, ohne Verzerrung der Tatsachen, über die letzten Jahre meiner Tätigkeit in Deutschland Aufklärung zu geben, so daß künftige Generationen sich ein wirkliches Bild der Geschehnisse machen können. Ich gebe diese Erklärung aus freien Stücken ab. Mir ist nichts versprochen worden, noch bin ich bedroht worden. Ich möchte endlich Frieden mit mir selbst machen. Da ich mich nicht an alle Einzelheiten erinnern kann und da ich möglicherweise in der Erinnerung einiges durcheinandergebracht habe, bitte ich darum, mir jene Dokumente und Aussagen zur Verfügung zu stellen, die zur Wahrheitsfindung notwendig sind. Adolf Eichmann, Buenos Aires, Mai 1960.“

Im achten und letzten Absatz der israelischen Note wird versichert, die israelische Regierung wünsche für den Fall, daß die „Freiwilligengruppe“ die argentinischen Gesetze oder die Souveränität Argentiniens verletzt habe, ihr Bedauern auszusprechen. Sie erwarte Verständnis für den „außerordentlichen“ Charakter der Operation und für die Wichtigkeit, diesen Mann als den Verantwortlichen für die Ermordung von Millionen Juden vor ein Tribunal zu stellen. Auch sei zu bedenken, daß die Freiwilligen, die den Massenmorden entgingen, diese historische Aufgabe unter Außerachtlassung jeder anderen Ueberlegung übernommen hätten. Die israelische Regierung vertraue voll darauf, daß die argentinische Regierung solche historischen und moralischen Werte anerkenne.

Der argentinische Außenminister Dr. Taboada sagte am Montagabend vor Pressevertretern, die israelische Note werde geprüft werden. Im Augenblick wolle die argentinische Regierung kein Urteil darüber abgeben. Sie werde sich aber innerhalb der kommenden drei Tage dazu äußern. Dem Außenministerium nahestehende Kreise deuteten an, die Regierung betrachte den Fall als sehr ernst.

Der israelische Außenminister, Frau Golda Meir, sagte, wie die Agenturen berichten, am Montagabend in Milwaukee (USA), Israel könne jederzeit dafür einstehen, daß es Eichmann in einem fremden Lande festgenommen habe. Eichmann sei kein Staatsbürger des Landes gewesen, in dem man ihn aufgespürt habe. „Ich behaupte nicht, daß dies eine normale Situation sei“, sagte Frau Meir. „Aber wir haben es auch nicht mit einem normalen Fall zu tun.“

Die Untersuchung gegen Eichmann in Israel ist am Montag in ein neues Stadium getreten. Die Yad-Waschem-Stiftung, die sich vor allem mit der Beschaffung von Dokumenten über die nationalsozialistischen Judenvernichtungsaktionen während des Zweiten Weltkriegs beschäftigt, hat zum ersten Male Dokumente über die Verbrechen Eichmanns dem „Büro 06“ zugeleitet, das mit der Untersuchung des Falls Eichmann beauftragt ist. Die Yad-Waschem-Stiftung hat außerdem dem israelischen Außenministerium zwei zusätzliche Listen über Nazi-Kriegsverbrecher zugeleitet. Die Listen enthalten 350 Namen. Sie sollen den Justizbehörden, in der Bundesrepublik übergeben werden.

Quelle: „Israel gibt die Festnahme Eichmanns in Argentinien zu“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Juni 1960, S. 1, 4.