Kurzbeschreibung

In diesem Artikel aus dem westdeutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel wird die Entscheidung dargestellt, mit der die israelische Regierung im Fall Eichmann konfrontiert war: seine Auslieferung zu beantragen, was rechtlich auf wackligen Füßen gestanden hätte, da er seine Verbrechen nicht in Israel begangen hatte und Eichmann die Möglichkeit zur Flucht hätte geben können (da das Auslieferungsverfahren langwierig war), oder Eichmann mit Gewalt zu entführen, was eine Verletzung des Völkerrechts darstellte. In einem Interview mit der New York Times rechtfertigte David Ben-Gurion seine Entscheidung, Eichmann ergreifen zu lassen und in Israel vor Gericht zu stellen, mit dem Argument, dass Israel das einzige Land sei, das die moralische Autorität besitze, Eichmann strafrechtlich zu verfolgen, da sein Ziel die Ausrottung des jüdischen Volkes gewesen sei. Er bestand ebenfalls darauf, dass der Prozess in Israel stattfinden müsse, um die jüngere Generation Israels an die Verbrechen zu erinnern, die gegen das jüdische Volk begangen worden waren. Schließlich vertrat er die Auffassung, dass Eichmann sich illegal in Argentinien aufgehalten habe und dass daher die Personen, die ihn aufgegriffen hätten, trotz des Verstoßes gegen das Völkerrecht einer höheren moralischen Verpflichtung unterlägen. Somit sei die Art und Weise, wie sie die Festnahme Eichmanns durchgeführt hätten, gerechtfertigt.

Adolf Eichmanns Flucht und Gefangennahme (1960)

Quelle

Eichmann, Der Endlöser

Die Hitze des palästinensischen Sommertags, die draußen über dem Asphalt flimmerte, war selbst im klimatisierten Plenarsaal zu spüren. Auf der Tagesordnung des Parlaments zu Jerusalem stand eine routinemäßige Budgetdebatte. Die Stimmung war lustlos. Lediglich einige militärisch-straffe Herren, die sich auf der Zuhörertribüne mehr durch Blicke als durch Worte unterhielten, schienen von einer geheimen Spannung erfüllt.

Es war Punkt 15.00 Uhr, als sich Israels großer alter Mann David Ben-Gurion zu einer Erklärung erhob. Zweimal warf er den Kopf mit der wilden weißen Mähne zurück, um zur Rede anzusetzen. Als dann die Worte fielen, kamen sie stockend: „Ich habe der Knesseth mitzuteilen – daß einer der größten nazistischen Kriegsverbrecher – Adolf Eichmann – der zusammen mit den Naziführern für die sogenannte Endlösung der jüdischen Frage – das bedeutet: für die Vernichtung von sechs Millionen europäischer Juden, verantwortlich war – sich in israelischem Gewahrsam befindet und seinem Prozeß in Israel entgegensieht.“

Der Ministerpräsident schien seinen eigenen Sätzen nachzulauschen. Mit einem Ächzen, das in der absoluten Stille bis zu den Türstehern hörbar war, brach ein Abgeordneter, der uralte Rabbi Nurock, ohnmächtig zusammen. Behutsam wandten sich die Herren auf der Tribüne, Offiziere des Abwehrdienstes der Armee, zum Gehen.

Das war das Ende der Stille: Der Plenarsaal glich einem brodelnden Kessel. Parlamentarier schrien, andere rannten exaltiert durch die Gänge, viele stierten murmelnd auf die Deckel ihrer Pulte.

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Sofort nach der Konstituierung Israels im Jahre 1948 wandelte sich die individuelle Suche einzelner Überlebender aus Eichmanns Mordmühlen in eine systematische, weltweite Treibjagd auf den flüchtigen Jäger: getragen jetzt von einem der besten Geheimdienste, dessen Stärke nicht in Apparat und Geldmitteln, sondern in der unübersehbaren Zahl unbeamteter, aber bereitwilliger Helfer in den fünf Erdteilen beruht; jeder Jude fühlte sich verpflichtet, das Seine, dazu beizutragen, daß sich Jahwes Gesetz wenigstens an den Henkern Israels erfülle.

Die Suche mußte dort einsetzen, wo sich die Spur des SS-Obersturmbannführers Eichmann am 3. Mai 1945 verloren hatte: im Salzburgischen. An jenem Tage stoppte der Sektionschef im Reichssicherheitshauptamt Eichmann mit seinem Troß vor Alt-Aussee, um sich bei Chef Kaltenbrunner zu melden, der in dem idyllischen Fremdenort letztes Hoflager hielt.

Kaltenbrunner zeigte dem Henker die kalte Schulter: „Der Kerl kompromittiert uns bei den Amerikanern.“

Der Obersturmbannführer Eichmann verschwand – und tauchte erst am Vormittag des 23. Mai 1960 wieder auf, als er, ein hagerer Mann mit Halbglatze, abstehenden Ohren und ausgelaugtem Dutzendgesicht, in einem alten Hause der israelischen Hafenstadt Jaffa vor dem Bezirksrichter Jadid-Halewi erklärte: „Jawohl, ich bin Adolf Eichmann.“

Im Salzburgischen fingen die Amerikaner am 8. Mai 1945 lediglich den Luftwaffengefreiten Hirtl. Seine Papiere, erzählte dieser Hirtl, habe er befehlsgemäß vernichtet. Später gab sich Eichmann, um nicht wegen seiner Blutgruppentätowierung aufzufallen, im Gefangenenlager als Leutnant der Waffen-SS aus und schlug sich nach Norddeutschland zu dem Bruder eines SS- Kameraden durch, der ihm – nichtsahnend – Arbeit als Holzfäller gab.

Der professionelle Menschenjäger Eichmann war klug genug, jeder Verbindung mit seiner Familie in Linz zu entsagen. Im Jahre 1950 verschaffte er sich einen Flüchtlingsausweis des Roten Kreuzes und reiste nach Argentinien, wo Evita und ihr Perón damals noch den alten Kämpfern bereitwilligst Asyl gewährten.

Alsbald ließ der Emigrant seine Frau Vera und die drei Söhne Klaus, Adolf und Dieter nachkommen. In Tucuman erhielt er einen Personalausweis auf den Namen Ricardo Clement. Frau Eichmann, geborene Liebl, mietete in Buenos Aires eine bescheidene Wohnung auf den Namen Catalina Clement. Im Frühjahr 1960 bezog die Familie ein mehr oder minder selbstgebasteltes Schreberhaus im Vorort San Fernando.

Zuerst werkelte Ricardo Clement – bis das Unternehmen Bankrott machte – für die deutsch-argentinische Firma Capri, die Gutachten für Industrie-Niederlassungen anfertigte. Die Firma, die unter Leitung eines ehemaligen SS-Offiziers namens Fuldner stand, war nach dem Grundsatz „Unsere Ehre heißt Treue“ lediglich geschaffen worden, um alte SS-Kameraden zu versorgen.

Kümmerlich schlug sich Eichmann durch. Schließlich konnte er bei „Mercedes-Benz-Argentina“ unterschlüpfen, wo ihn israelische Agenten im Februar 1960 ausfindig machten.

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Nachdem es gelungen war, Eichmann in Buenos Aires zu identifizieren, standen die Israelis vor der Alternative,

– entweder unter Nachweis der Identität von Ricardo Clement mit Adolf Eichmann und unter Berufung auf einen der in Nürnberg geschaffenen (weltrechtlichen) Tatbestände der Kriegsverbrechen um die Auslieferung des Nazihenkers nachzusuchen
– oder aber unter grober Verletzung des Völkerrechts sich des Adolf Eichmann mit Gewalt zu bemächtigen.

Israel entschied sich für den zweiten Weg. Zum einen deshalb, weil die Begründung des Auslieferungsantrags formaljuristisch nicht eben einfach gewesen wäre – Eichmann hatte seine Verbrechen weder auf israelischem Boden, ja nicht einmal gegen den Staat Israel als solchen begangen.

Zum anderen: Selbst wenn es gelungen wäre, das Auslieferungsbegehren durchschlagend zu begründen, so war doch mit einer langwierigen Prozedur zu rechnen. Während dieser Zeit hätte Eichmann neuerlich untertauchen können, zumindest mußte mit dieser Möglichkeit gerechnet werden.

Im übrigen wußten die Israelis, daß man sich in Buenos Aires mit der Auslieferung deutscher Kriegsverbrecher Zeit zu lassen pflegt – selbst dann, wenn die Rechtslage absolut eindeutig ist. So erließ am 5. Juni 1959 das Amtsgericht Freiburg im Breisgau Haftbefehl gegen den deutschen Staatsangehörigen Dr. phil. et med. Josef Mengele, geboren am 16. März 1911 in Günzburg (Bayern), „früher wohnhaft gewesen in Freiburg im Breisgau, Sonnenhalde Nummer 87, jetzt wohnhaft in Virrey Ortiz 970 Vicente Lopez - FCNGBM Pcia de Buenos Aires … wegen dringenden Verdachts des vollendeten und versuchten Mordes“. Dem Doktor Mengele warf der Freiburger Staatsanwalt vor, als SS-Hauptsturmführer in Auschwitz ungezählte Menschen durch medizinische Experimente getötet zu haben.

Die Vorwürfe waren in jeder Weise substantiiert. Dennoch reagierte die argentinische Regierung auf das wiederholte Auslieferungsersuchen der Bundesrepublik bis heute nicht. Inoffizielle Begründung: Es handele sich um ein politisches Delikt.

Ben-Gurion entschloß sich, den Eichmann holen zu lassen.

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Quelle: „Eichmann, Der Endlöser“, Der Spiegel, Nr. 25/1960, S. 20-33. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-32417089.html