Kurzbeschreibung

Helmut Kohl erinnert sich an die herzliche Begrüßung, die er während eines entscheidenden Besuchs in Dresden im Dezember 1989 von der dortigen Bevölkerung erfuhr. Er gibt Teile seiner Rede wieder, die er vor der Frauenkirche, die während alliierter Luftangriffe im Februar 1945 zerstört worden war, hielt. Überzeugt dass die Ostdeutschen den Kommunismus ablehnen und die deutsche Einheit herbeiwünschen, verspricht Kohl wirtschaftliche Hilfe und spricht von seinen Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft innerhalb eines vereinten Europa.

Helmut Kohls Empfang in Dresden (Rückblick, 2005)

  • Helmut Kohl

Quelle

Mein Schlüsselerlebnis im Prozess der deutschen Wiedervereinigung war der Besuch in Dresden am 19. Dezember 1989. Als ich mit meinen Begleitern auf der holprigen Betonpiste des Flughafens Dresden-Klotzsche landete, wurde mir schlagartig bewusst: Dieses Regime ist am Ende. Die Einheit kommt!

Tausende von Menschen erwarteten uns auf dem Flughafen, ein Meer von schwarzrotgoldenen Fahnen wehte in der kalten Dezemberluft – dazwischen eine fast vergessene weißgrüne Fahne des Landes Sachsen. Als die Maschine ausgerollt war, stieg ich die Rolltreppe hinab und sah Modrow, der mich etwa zehn Meter davon entfernt mit versteinerter Miene erwartete. Da drehte ich mich zu Kanzleramtsminister Rudolf Seiters um und sagte: „Die Sache ist gelaufen.“

Zehntausende säumten die Straßen, als wir in die Stadt fuhren, ganze Belegschaften waren der Arbeit ferngeblieben, ganze Schulklassen standen hier und jubelten uns zu. Auf den Transparenten stand: „Kohl, Kanzler der Deutschen“ oder: „Bundesland Sachsen grüßt den Kanzler“. Modrow, der neben mir im Auto saß, wirkte sehr befangen. Vor dem Hotel Bellevue wurden wir von einem Menschenmeer regelrecht eingeschlossen. Immer wieder wurde „Helmut, Helmut“ gerufen, „Deutschland, Deutschland“ oder „Wir sind ein Volk“, aber auch, ich solle zu den Menschen sprechen.

Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, eine Rede zu halten, doch jetzt stand für mich fest, dass ich zu den Menschen sprechen musste. Der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer schlug vor, ich könne vor der Ruine der Frauenkirche sprechen. []

Als ich die Treppe zur Holztribüne hinaufstieg, spürte ich, welch große Hoffnungen und Erwartungen die Menschen in mich setzten. Ich rief den Landsleuten einen herzlichen Gruß ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Bundesrepublik Deutschland zu. Schon bei diesen Worten kam großer Jubel auf. Mit einer Geste gab ich zu verstehen, dass ich weitersprechen wollte. Es wurde sehr still. Dann fuhr ich fort:

„Das zweite, was ich sagen möchte, ist ein Wort der Anerkennung und der Bewunderung für diese friedliche Revolution in der DDR. Es ist zum ersten Mal in der deutschen Geschichte, dass in Gewaltfreiheit, mit Ernst und Ernsthaftigkeit und in Solidarität die Menschen für die Zukunft demonstrieren. Dafür danke ich Ihnen allen sehr, sehr herzlich.“

Wieder kam tosender Applaus auf, wieder wurde es ganz still, als ich weitersprach. Es sei eine Demonstration für Demokratie, für Frieden, für Freiheit und für die Selbstbestimmung unseres Volkes, sagte ich, um anschließend fortzufahren:

„Und liebe Freunde, Selbstbestimmung heißt auch für uns in der Bundesrepublik, dass wir Ihre Meinung respektieren. Wir wollen und wir werden niemanden bevormunden. Wir respektieren, was Sie entscheiden für die Zukunft des Landes. [] Wir lassen unsere Landsleute in der DDR nicht im Stich. Und wir wissen – und lassen Sie mich das auch hier in diese Begeisterung, die mich so erfreut, hinein sagen –, wie schwierig dieser Weg in die Zukunft ist. Aber ich rufe Ihnen auch zu: Gemeinsam werden wir diesen Weg in die deutsche Zukunft schaffen.“

Anschließend trug ich den Hunderttausend die Ergebnisse meiner Gespräche mit dem DDR-Ministerpräsidenten vor und sagte, dass wir noch im Frühjahr einen Vertrag über die Vertragsgemeinschaft zwischen der Bundesrepublik und der DDR abschließen wollten. Außerdem sei eine enge Zusammenarbeit auf allen Gebieten geplant:

„Wir wollen vor allem auf dem Feld der Wirtschaft eine möglichst enge Zusammenarbeit mit dem klaren Ziel, dass die Lebensverhältnisse hier in der DDR so schnell wie möglich verbessert werden. Wir wollen, dass die Menschen sich hier wohl fühlen. Wir wollen, dass sie in ihrer Heimat bleiben und hier ihr Glück finden können. Entscheidend ist, dass in Zukunft die Menschen in Deutschland zueinander kommen können, dass der freie Reiseverkehr in beide Richtungen dauerhaft garantiert ist. Wir wollen, dass sich die Menschen in Deutschland überall, wo sie dies wollen, treffen können.“

Ich hatte den Eindruck, dass die vor der Ruine der Frauenkirche Versammelten schon auf ein vereintes Deutschland blickten. Diese Möglichkeit begeisterte sie und weniger die Ergebnisse meiner Verhandlungen. So brandete zwar großer Beifall auf, als ich von den freien Wahlen sprach, die alsbald in der DDR abgehalten werden sollten, aber die Begeisterung, als ich den Menschen die sich dadurch eröffnenden Perspektiven aufzeigte, war geradezu unbeschreiblich:

„Sie werden eine frei gewählte Regierung haben. Dann ist der Zeitpunkt gekommen zu dem, was ich konföderative Strukturen genannt habe – das heißt gemeinsame Regierungsausschüsse, damit wir mit möglichst viel Gemeinsamkeit in Deutschland leben können. Und auch das lassen Sie mich hier auf diesem traditionsreichen Platz sagen: Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation. Und, liebe Freunde, ich weiß, dass wir dieses Ziel erreichen können und dass die Stunde kommt, wenn wir gemeinsam dafür arbeiten, wenn wir es mit Vernunft und mit Augenmaß tun und mit Sinn für das Mögliche.“

Um die Begeisterung auf dem Platz nicht überborden zu lassen, sprach ich wie schon am 10. November in Berlin nun überaus nüchtern von dem schwierigen, langwierigen Weg in diese gemeinsame Zukunft:

„Wir, die Deutschen, leben nicht allein in Europa und in der Welt. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass alles, was sich hier verändert, Auswirkungen auf alle unsere Nachbarn haben muss, auf die Nachbarn im Osten und auf die Nachbarn im Westen. Es hat keinen Sinn, wenn wir nicht zur Kenntnis nehmen, dass viele unserer Nachbarn diesen Weg mit Sorge und manche auch mit Ängsten betrachten. Aus Ängsten kann nichts Gutes erwachsen.

Und doch müssen wir als Deutsche unseren Nachbarn sagen: Angesichts der Geschichte dieses Jahrhunderts haben wir Verständnis für mancherlei dieser Ängste. Wir werden sie ernst nehmen. Für uns heißt das, wir wollen unsere Interessen als Deutsche vertreten. Wir sagen Ja zum Selbstbestimmungsrecht, das allen Völkern dieser Erde gehört – auch den Deutschen. Aber, liebe Freunde, dieses Selbstbestimmungsrecht macht für die Deutschen nur einen Sinn, wenn wir auch die Sicherheitsbedürfnisse der anderen dabei nicht aus den Augen lassen. Wir wollen in eine Welt hinein, die mehr Frieden und mehr Freiheit hat, die mehr Miteinander und nicht mehr Gegeneinander sieht. Das Haus Deutschland, unser Haus, muss unter einem europäischen Dach gebaut werden. Das muss das Ziel unserer Politik sein. []

Aber, liebe Freunde, wahrer Friede ist ohne Freiheit nicht möglich. Deswegen kämpfen Sie, demonstrieren Sie für die Freiheit in der DDR, und deswegen unterstützen wir Sie, und deswegen gehört Ihnen unsere Solidarität []. Jetzt kommt es darauf an, dass wir diesen Weg in der Zeit, die vor uns liegt, friedlich, mit Geduld, mit Augenmaß und gemeinsam mit unseren Nachbarn weitergehen. Für dieses Ziel lassen Sie uns gemeinsam arbeiten, lassen Sie uns gegenseitig in solidarischer Gesinnung helfen. Ich grüße hier von Dresden aus alle unsere Landsleute in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland.“

Zum Abschluss rief ich der Menge zu: „Gott segne unser deutsches Vaterland!“

Ich war sehr ergriffen und hatte deshalb alle Mühe, meine Rede zu beenden. Was würde jetzt geschehen? Doch die Menschen blieben besonnen. Allerdings machte keiner Anstalten, den Platz zu verlassen. Da ereignete sich etwas, das wie das Signal zum Heimgehen wirkte. Eine ältere Frau stieg zu mir aufs Podium, umarmte mich, fing an zu weinen und sagte mit leiser Stimme: „Wir alle danken Ihnen!“

Die Mikrofone waren noch eingeschaltet, und jeder konnte es hören. Nun strömten die Menschen auseinander. Erschöpft und glücklich eilten wir durch das Spalier von Menschen zu den Autos, die uns auf das gegenüberliegende Elbufer zurückbrachten.

[]

Weit nach Mitternacht gingen wir zu Fuß zum Hotel Bellevue, wo ich unsere kleine Delegation noch zu einem Umtrunk auf mein Zimmer einlud. Gemeinsam zogen wir ein erstes Resümee der zurückliegenden Stunden, und ich sagte noch einmal: „Ich glaube, wir schaffen die Einheit. Das läuft. Ich glaube, das ist nicht mehr aufzuhalten, die Menschen wollen das. Das Regime ist definitiv am Ende.“

Quelle: Helmut Kohl, Erinnerungen 1982–1990. München, 2005, S. 1020–28.