Quelle
Reden wir mal drüber
Die Euro-Krise dominiert die politischen Abläufe in Berlin, und das schon seit zwei Jahren. Andere Themen sind dadurch in den Hintergrund gerückt – es fehlt die Zeit für Debatten.
Kürzlich stand die Finanzierung der Krankenhäuser auf der Tagesordnung des Bundestages. Für eine alternde Gesellschaft wie die deutsche ist das ein Riesenthema. Aufgerufen wurde es gegen 23.30 Uhr, als kaum mehr jemand zuhörte. Die Beratungszeit belief sich auf eine halbe Stunde. Für Jens Spahn, den gesundheitspolitischen Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, ist der Vorgang ein Beispiel dafür, dass durch die Euro-Krise andere wichtige Themen in den Hintergrund treten, an Aufmerksamkeit verlieren, sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in den parlamentarischen Gremien.
Ähnlich wie CDU-Mann Spahn argumentiert sein Gegenüber bei der SPD-Fraktion, deren gesundheitspolitischer Sprecher Karl Lauterbach. Zwar beschwert er sich nicht, denn er bekommt genug Aufmerksamkeit für seine Themen. Doch kommt ihm die Diskussion über Grundsatzfragen wie die Zukunft der privaten Renten- oder Krankenversicherung derzeit zu kurz: „Wir lassen vieles liegen, was langfristig für das Land mindestens so wichtig ist wie die Euro-Krise“, sagt Lauterbach. Er findet es richtig, dass so intensiv über die Lage im Euroraum gesprochen wird. Doch kommt er zu dem Schluss, dass der „öffentliche Diskussionsraum“ geringer geworden sei – auch in der Fraktion.
Keiner weiß, wann sich das ändern wird
Die Euro-Krise dominiert die Politik wie kaum ein Thema je. Einfache Abgeordnete empfinden das ebenso wie die Bundesregierung und die Verwaltung. Unter Mitarbeitern des Bundestages, die sich um Europa kümmern, gibt es viele, deren Arbeitstage mindestens zur Hälfte, oft zu zwei Dritteln nur noch um dieses Thema kreisen. Manchmal frisst es auch noch mehr Zeit. Das geht nun schon seit mehr als zwei Jahren so. Und keiner weiß, wann sich das ändern wird.
Der Bundestag hat eine Datenbank, die sich „Dokumentations- und Informationssystem“ nennt. Mit ihrer Hilfe lässt sich die Dimension der Allgegenwart des Euro-Themas am ehesten in Zahlen fassen. Gibt man das Suchwort „EWWU“ für „Europäische Wirtschafts- und Währungsunion“ ein, so finden sich für die laufende Legislaturperiode knapp 400 parlamentarische Vorgänge der unterschiedlichsten Art. Das geht von der mündlichen Anfrage bis zur Regierungserklärung der Kanzlerin. Allein 19 Gesetzgebungsverfahren weist die Statistik seit 2010 aus, als Griechenland in Schieflage geriet. Das reicht vom Gesetz zum Erhalt der Finanzstabilität in der Währungsunion bis zur Regelung der finanziellen Beteiligung Deutschlands am Stabilitätsmechanismus ESM. In der vorigen Wahlperiode, als es noch keine Euro-Krise gab, mussten die Abgeordneten über kein einziges Gesetz zu diesem Thema beraten.
Zwar ist im Bundestag in den zurückliegenden zwei Jahren nicht nur die Krise im Euroraum erörtert worden. Es kamen auch andere Themen zu ihrem Recht. Doch fällt auf, dass über Euro-Stabilität, Finanztransaktionssteuer, Bankenabgabe und Ähnliches bevorzugt zur besten parlamentarischen Redezeit gesprochen wird, also Donnerstag- und Freitagvormittag.
Das Thema beherrscht die internen Sitzungen der Bundestagsfraktionen noch mehr als die des Bundestagsplenums. Bei den 23 Treffen der Unionsfraktion im vergangenen Jahr stand die Krise vierzehnmal auf der Tagesordnung, in den elf Zusammenkünften dieses Jahres schon neunmal. Die Sitzungen verlaufen nach dem immer gleichen Muster: Erst gibt der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder seinen Bericht ab, in dem das Thema beständig auftaucht. Danach spricht die Bundeskanzlerin zum Stand der Krisenbekämpfung. Dabei pflegt sie darauf hinzuweisen, dass die Lage außerordentlich ernst ist und entschlossenes Handeln erfordere. Sie macht klar, dass es um alles oder nichts geht. Der Druck, den sie aufbaut, ist hoch.
Erst einige Kritiker, dann zwei, drei Befürworter
Es folgen die Auftritte von Norbert Barthle, dem haushaltspolitischen Sprecher der Fraktion, und Michael Meister, der als stellvertretender Fraktionsvorsitzender für Finanz-, Haushalts- und Wirtschaftspolitik zuständig ist. Fast in jeder Sitzung berichtet einer von ihnen über den Fiskalpakt, über die Bankenkrise in Spanien oder über die Euro-Rettungsschirme.
Manchmal bekommt Barthle auch gleich zwei Tagesordnungspunkte hintereinander zugesprochen oder teilt sich einen mit Bundesfinanzminister Schäuble. Kürzlich erging er sich derart in den europäischen Angelegenheiten, dass er auch noch über den Beitritt Serbiens zur Europäischen Union sprach, ein Thema, das keineswegs zum täglichen Brot des Haushälters gehört. Es müssen schon sehr aktuelle Anlässe sein, die die Euro-Krise von ihrem Stammplatz verdrängen. Im November vorigen Jahres war das einmal die Neonazi-Mordserie, im März dieses Jahres das Gesetz zur Organspende.
Nach den Ausführungen zum Euro pflegt die Fraktion über dieses Thema zu diskutieren, häufig mit ähnlichem Ablauf. Erst äußern sich einige der Kritiker des Rettungskurses, dann zwei, drei Befürworter. Das Ganze dauert etwa eine Dreiviertelstunde, manchmal auch länger. Über keinen anderen Punkt wird so viel debattiert.
Gremium als „Vorhof der Hölle“
Zwar wird lange geredet, die Führung gibt alle Zeit dafür. Auch bleibt die Kanzlerin regelmäßig vom Anfang bis zum Ende dabei. Damit will sie zeigen, dass sie die Fraktion ernst nimmt. Kürzlich bezeichnete sie das Gremium sogar als „Vorhof der Hölle“, um ihren Respekt zu dokumentieren. Doch wagen es viele Abgeordneten wohl nicht, in aller Offenheit über die immer monströseren Rettungsmanöver zu diskutieren. Das berichten zumindest kritische Sitzungsteilnehmer. Das dürfte zum einen daran liegen, dass das Riesenthema aus sich heraus enormen Druck erzeugt. Da will niemand etwas Falsches tun. Davor warnt die Kanzlerin ja auch deutlich genug. Zudem ist die ganze Sache so kompliziert, dass viele Abgeordnete sich mit ihren Stellungnahmen zurückhalten. Einer aus der Union erzählt, einige hätten sogar schon Angst, in Veranstaltungen zu gehen, in denen es ausdrücklich um den Zustand der Währungsunion gehe, weil sie fürchteten, auf Bürger zu stoßen, die mehr von den komplizierten Sachverhalten verstünden als sie selbst. Zum Ausgleich reden sie sich bei gesellschaftspolitischen Themen oft die Köpfe heiß.
Die SPD-Fraktion befasst sich genauso intensiv mit der Krise. Bei den Sozialdemokraten heißt es, im Bereich Haushalt nehme das Thema etwa die Hälfte der Arbeitszeit in Anspruch, „das übliche steuer- und haushaltspolitische Geschehen“ sei „in den Hintergrund gerückt“. Bei den Europapolitikern sind es sogar 60 Prozent. Die Fraktion hielt zwischen dem Mai 2010 und dem Juni 2012 allein zwölf Sondersitzungen ab, in denen es um die Entwicklung in Europa ging, in zwölf weiteren – regulären, Sitzungen wurde ausdrücklich darüber diskutiert, in weiteren Treffen geschah das außerhalb der Tagesordnung.
Lob von der Opposition
In der Regierung gibt es drei Häuser, die sich intensiv mit Europa befassen, oft in Konkurrenz. Das sind das Kanzleramt, das Auswärtige Amt und das Finanzministerium. Da die Entwicklung in der Europäischen Union sich seit einigen Jahren fast nur noch ums Geld dreht, ist es wenig erstaunlich, dass neben der Kanzlerin vor allem Finanzminister Schäuble in den Vordergrund rückt. Er dürfte in etwa die Hälfte seiner Arbeitszeit den Entwicklungen im Euroraum widmen. In seinem Ministerium wurden in den zuständigen Abteilungen mehr als 30 zusätzliche Stellen zur Krisenbewältigung bewilligt.
Der Finanzminister unterrichtet nicht nur seine, also die Unionsfraktion ausgiebig, sondern ist auch häufig Gast in den zuständigen Ausschüssen des Bundestages, vor allem demjenigen für Europa und dem für den Haushalt. Das wird von der Opposition gelobt: Die Vorsitzende des Haushaltsausschusses, die SPD-Politikerin Petra Merkel, sagt, Schäuble komme seit dem Beginn der Krise öfter in den Ausschuss. Sie fühle sich vom Minister gut unterrichtet.
Doch nicht nur die Minister, auch die Verantwortlichen in den Ausschüssen müssen sich in diesen außergewöhnlichen Zeiten ständig zur Verfügung halten. Und sie müssen zu ungewöhnlichem Einsatz bereit sein. So erzählt Petra Merkel von einer Telefonkonferenz mit Schäuble und den Obleuten der Fraktionen, die spontan stattfinden musste, als sie gerade auf Teneriffa war. Weil das Mobilfunknetz schlecht, die Sache aber wichtig war, kletterte die Vorsitzende des Haushaltsausschusses kurzentschlossen auf eine Müllhalde, von der aus sie besseren Empfang hatte. Die Krise lässt grüßen.
Quelle: Eckart Lohse, „Reden wir mal drüber“, Frankfurter Allgemeine, 24. Juni 2012. Online verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/euro-krise-reden-wir-mal-drueber-11797141.html