Quelle
/von Weizsäcker: So erleben wir den heutigen Tag als Beschenkte. Die
Geschichte hat es diesmal gut mit uns Deutschen gemeint. Umso mehr haben
wir Grund zur gewissenhaften Selbstbesinnung. /Sprecher: Guten Abend,
meine Damen und Herren. Die Deutschen leben wieder in einem souveränen,
freien und geeinten Land. 45 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg endete in
der vergangenen Nacht die deutsche Teilung. Die DDR und die
Bundesrepublik vereinigten sich zu einem Staat. Die Einheit wurde in
Berlin und anderen Städten mit bewegenden Zeremonien und fröhlichen
Volksfesten gefeiert. In die Freude mischte sich aber auch
Nachdenklichkeit. Aus dem Ausland kamen Glückwünsche von zahlreichen
Staats- und Regierungschefs. In den ausländischen Zeitungen war neben
Zustimmung zur deutschen Einheit auch Skepsis spürbar über die künftige
Rolle Deutschlands in Europa und der Welt.
In einem Staatsakt am
Tag der Einheit hat Bundespräsident von Weizsäcker alle Deutschen zur
Solidarität aufgerufen. Sich zu vereinen, heiße Teilen zu lernen. Bei
der Zeremonie in der Berliner Philharmonie würdigte Weizsäcker noch
einmal den Mut der Menschen, die vor einem Jahr für ihre Freiheit auf
die Straße gegangen waren und so die friedliche Revolution eingeleitet
hatten.
Er erinnerte wie die anderen Redner daran, dass die Einheit
ohne den Beitrag der Polen und Ungarn und ohne die Unterstützung aus der
Sowjetunion nicht möglich gewesen wäre. Weizsäcker fügte hinzu, mit dem
heutigen Tage finde die Vereinte deutsche Nation ihren anerkannten Platz
in Europa. /von Weizsäcker: Zum ersten Mal bilden wir Deutschen keinen
Streitpunkt auf der europäischen Tagesordnung. Unsere Einheit wurde
niemandem aufgezwungen, sondern friedlich vereinbart. Sie ist Teil eines
gesamteuropäischen geschichtlichen Prozesses, der die Freiheit der
Völker und eine neue Friedensordnung unseres Kontinents zum Ziel hat.
Diesem Ziel wollen wir Deutschen dienen, ihm ist unsere Einheit
gewidmet. [Beifall]
Ich bin gewiss, dass es uns gelingt, alte und
neue Gräben zu überwinden. Wir können den gewachsenen
Verfassungspatriotismus der einen mit der erlebten menschlichen
Solidarität der anderen Seite zu einem kräftigen Ganzen zusammenfügen.
Wir haben den gemeinsamen Willen, die großen Aufgaben zu erfüllen, die
unsere Nachbarn von uns erwarten. Wir wissen, wie viel schwerer es
andere Völker auf der Erde zurzeit haben. Die Geschichte gibt uns die
Chance, wir wollen sie wahrnehmen mit Zuversicht und mit Vertrauen. Und
die Freude, wir haben es gestern Abend gehört, die Freude, die wir
empfinden, sie ist ein Götterfunke.
/Reporter: Starker Beifall für
den ersten Präsidenten des vereinigten Deutschlands. Vor ihm hatten
Berlins Regierender Bürgermeister Momper, Bundestagspräsidentin Süssmuth
und die erste frei gewählte Präsidentin der Volkskammer, Bergmann-Pohl,
gesprochen.
/Bergmann-Pohl: Dieser Tag bedeutet Abschied und
Aufbruch. Abschied von einer belasteten und belastenden Vergangenheit,
Aufbruch zu einem Deutschland, das mit sich selbst versöhnt ist und das
mit seinen Nachbarn die Versöhnung sucht. Es ist der glücklichste Tag
der Deutschen. Wir müssen uns jetzt von den Begriffen "mein"
und "dein", "wir" und "ihr"
lösen.
/Süssmuth: Das Teilen ist die eine Seite. Gewiss muss, wer
Gemeinschaft bilden will, auch teilen können, doch ist es jetzt ebenso
wichtig, durch gemeinsame Arbeit Gemeinschaft zu stiften. Wenn wir jetzt
nicht die Solidaritätsprüfung im Innern, im Eigenen, ja im Kleinen
bestehen, wer sollte uns dann abnehmen, dass wir zu Solidarität in ganz
Europa und dem Nord-Süd Konflikt bereit und fähig sind?
/Momper:
Ohne Politiker, die die Zeichen der Zeit erkannten, wäre der Wandel
nicht so schnell eingetreten. Ich nenne allen voran den sowjetischen
Staatspräsidenten Michail Gorbatschow. [Beifall]
Michail
Gorbatschow hat den Weg für Reformen in Osteuropa freigegeben. Und ich
nenne die Repräsentanten der westlichen Demokratien, die den Weg zur
Abrüstung und Sicherheitspartnerschaft mitformuliert haben.
[Beifall]
Quelle: Tagesschau 3. Oktober
1990.
tagesschau.de
https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-ts-50602.html