Kurzbeschreibung

Der Autor betont die historische Bedeutung der Osterweiterung der Europäischen Union für die kulturelle und politische Zusammenführung Europas. Allerdings streiten sich die Experten über die wirtschaftlichen Konsequenzen für Deutschland. Während die einen befürchten, dass Arbeitsplätze in die Billiglohnländer abwandern werden, sehen andere in der Expansion des europäischen Marktes vor allem eine Chance für die deutsche Wirtschaft.

Hoffnungen und Befürchtungen am Vorabend der Osterweiterung (26. April 2004)

  • Michael Fröhlingsdorf

Quelle

Der Preis des neuen Europa

Die Osterweiterung wird die EU grundlegend verändern. Mit Billiglöhnen und Niedrigsteuern fordern die Beitrittsländer die etablierten Club-Mitglieder heraus. Deutschland muss sich darauf einstellen – oder es wird zu den Verlierern des neuen Europa zählen.

Gelsenkirchen hat schon bessere Tage gesehen, damals in den sechziger Jahren, als die Kohle Tausenden vermeintlich sichere Arbeitsplätze bot und die Stahlindustrie im Ruhrgebiet florierte. Heute, viele Jahre und etliche Zechenstilllegungen später, ist die Stadt mit einer Arbeitslosenquote von 17,7 Prozent trauriger Spitzenreiter im Westen Deutschlands. Und doch erscheint die Gegenwart geradezu golden – im Vergleich zu dem, was kommt.

Zwei der größten noch verbliebenen Arbeitgeber der Stadt, der Heizgerätehersteller Vaillant und der Automobilzulieferer TRW, wollen abwandern oder Produktionsteile verlagern – nach Tschechien oder in die Slowakei, wo die Löhne niedrig und die Arbeitszeiten flexibel sind. Insgesamt stehen in der einstigen Stadt der 1000 Feuer fast 1000 Arbeitsplätze auf dem Spiel.

„Hier werden Menschen auf die Straße gesetzt wie ein räudiger Hund, um an anderer Stelle noch ein paar Euro mehr zu machen“, attackierte Oberbürgermeister Oliver Wittke (CDU) die Pläne. Die Stadt stand auf, wie sie in der Vergangenheit immer wieder aufgestanden war – mit Menschenketten, Mahnwachen und Mutter-Kind-Protesten bei der Geschäftsführung. Einige ketteten sich sogar am Werkstor von TRW fest.

Der Betriebsrat des Autozulieferers beauftragte zwei Gutachter damit, den tatsächlichen Lohnkostenvorteil einer Verlagerung zu untersuchen und möglichst kleinzurechnen. Aber einem Monatslohn, der ein Fünftel des deutschen beträgt, ist selbst mit höherer Mathematik schwer beizukommen. „Das Gutachten kam zu dem Schluss, die Verlagerung sei begründet“, sagt Betriebsrat Bernd Otto. Die Belegschaft will nun anbieten, freiwillig 40 Stunden zu arbeiten.

Ob das reicht? Oder müssen sie auch noch die Löhne senken? Und wenn ja, wie weit? Auf tschechisches, polnisches, slowakisches Niveau? Aber wie soll ein Mensch mit solchen Löhnen in einem Land mit deutschen Mieten und deutschen Preisen leben?

Fragen wie diese treiben in diesen Tagen und Wochen viele um: Arbeiter, die um ihre Jobs fürchten, Manager, die über die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen nachdenken, Professoren, die sich um den Standort Deutschland sorgen.

Und den Kanzler, der auf diese komplizierten Fragen eine verblüffend einfache Antwort hat: Wer Jobs ins Ausland verlagert, handelt unpatriotisch. Basta.

Aber so einfach ist die Welt nicht, und am 1. Mai wird sie noch ein wenig komplizierter. Dann werden zehn neue Mitgliedstaaten aus Mittel-, Süd- und Osteuropa in die Europäische Union aufgenommen. Sobald Polen, die Tschechische und die Slowakische Republik, Ungarn, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen sowie Malta und Zypern integriert sind, ist die größte Erweiterungsrunde in der Geschichte der EU vollzogen. Und auch die gewagteste.

Denn bisherige Erweiterungen betrafen Länder, in denen zunehmend westliche Lebensstandards und westliche Wertesysteme herrschten, die acht osteuropäischen Staaten aber waren noch vor anderthalb Jahrzehnten tief im sozialistischen Wirtschaftssystem verhaftet. Seither haben diese Länder ihre Industrie fast vollständig privatisiert, sie haben den Kapitalverkehr und den Handel liberalisiert.

Der 1. Mai 2004 markiert eine historische Zäsur: Die europäische Teilung gehört der Vergangenheit an und damit auch das alte Europa mit all seinen Ritualen und bequemen Gewohnheiten.

Nun wächst zusammen, was – historisch und kulturell – zusammengehört. Mit einem Schlag vermehrt die EU die Zahl ihrer Einwohner von 380 Millionen auf über 450 Millionen. Im neuen Europa werden mehr Menschen leben als in den Vereinigten Staaten von Amerika und Japan zusammen.

Nun soll sich aber auch zusammenfügen, was – vor allem wirtschaftlich – gegensätzlicher kaum sein kann: Die saturierten Wohlstandsstaaten des alten Europa und die jungen Aufsteiger, die noch immer schwer an der Last ihrer staatskapitalistischen Vergangenheit zu tragen haben. Das birgt Chancen – und jede Menge Gefahren.

Die Freude über das epochale Ereignis, das viele Jahrzehnte lang undenkbar schien, wird jedenfalls vielerorts getrübt durch die Angst vor den ökonomischen Folgen. Plötzlich nämlich gehören jene Staaten zur EU, die sich in den vergangenen Jahren als größte Konkurrenten gerade des Standorts Deutschland profilierten. Die mit Billiglöhnen, flexiblen Arbeitern und Dumping-Steuern Unternehmen mitsamt ihren Arbeitsplätzen abwarben.

Ab dem 1. Mai fallen weitere Hindernisse, die gerade kleinere und mittlere Unternehmen bisher noch zögern ließen, dem Drang nach Osten zu folgen. Stufenweise werden jenseits der Oder die gleichen Rechte und Normen eingeführt. Die Währungen sollen innerhalb eines festen Korridors um den Euro schwanken, bis dann schließlich, beginnend frühestens in zwei Jahren, in Osteuropa nach und nach die europäische Einheitswährung eingeführt wird.

Rechtssicherheit, Währungsstabilität und, für außereuropäische Investoren wichtig, der freie Zugang zum europäischen Markt – das macht die Beitrittsländer, neben niedrigen Lohnkosten und Steuern, für Unternehmen besonders attraktiv. Und für den Standort Deutschland besonders gefährlich.

Wird Deutschland also zu den Verlierern der großen EU-Erweiterung zählen, weil die Arbeit in bisher unbekanntem Ausmaß abwandert?

Ja, sagen Pessimisten wie der Münchner Professor Hans-Werner Sinn, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo), er prophezeit eine lang anhaltende Niedriglohnkonkurrenz. Das aber bedeutet niedrigere Einkommen, weniger Wachstum und Wohlstand: Eine Spirale nach unten käme in Gang.

Nein, sagen Optimisten wie der Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, er prophezeit eine „Win-win-Situation“, also eine Entwicklung, von der alle profitieren, die Beitrittsländer und die etablierten Industriestaaten, allen voran Deutschland.

Nach dieser Theorie treibt das Wachstum in Osteuropa die gesamte europäische Wirtschaft an: durch vermehrte Exporte in die aufstrebenden Länder und auch durch die Verlagerung von Jobs. Mit im Ausland produzierten Zulieferungen für die deutschen Konzerne bleiben deren weltweit begehrte „Made in Germany“-Produkte überhaupt erst wettbewerbsfähig.

Die bisherige Entwicklung stützt die These der Optimisten. Die Öffnung Osteuropas erwies sich für die deutsche Wirtschaft als Glücksfall, sie eroberte neue Märkte und erschloss sich kostengünstige Zulieferungen. Hunderttausende Arbeitsplätze wurden so geschaffen oder gesichert – hier zu Lande wohlgemerkt.

Fünf Prozent aller deutschen Auslandsinvestitionen fließen in die Reformländer Osteuropas, bis 2001 waren es 33,6 Milliarden Euro. Deutsche Unternehmen kauften sich in privatisierte Branchen wie Telekommunikation und Energie ein, deutsche Handelsketten breiteten sich aus. Die Filialen von Metro, Deichmann, Rossmann oder Lidl säumen die Einfallstraßen der großen Städte. Auch die Verlage haben den neuen Markt im Osten entdeckt. Der Springer-Verlag brachte eine polnische Ausgabe von Newsweek auf den Markt, sein Boulevardblatt Fakt entwickelte sich binnen weniger Monate zur größten Zeitung Polens.

Schon heute sind die Beitrittskandidaten zusammengenommen noch vor Frankreich und den Vereinigten Staaten der wichtigste Handelspartner der Bundesrepublik. Sowohl die Importe als auch die Exporte haben seit Beginn der neunziger Jahre kontinuierlich zugenommen, zum Teil mit Zuwachsraten von 16 Prozent im Jahr.

Seit 1993 hat sich der Wert der gehandelten Waren verfünffacht, wobei die Deutschen meist mehr exportierten als importierten. In manchen Jahren betrug der Exportüberschuss über sechs Milliarden Euro. „Made in Germany“ hat im Osten einen guten Klang, deutsche Autos und Maschinen sind begehrt. Inzwischen hat sich der Außenhandelssaldo wegen des Aufbaus der dortigen Industrie leicht umgekehrt.

Das baden-württembergische Unternehmen Schuler in Göppingen zum Beispiel, Weltmarktführer bei der Produktion von Metallpressen, stattete 1999 eine komplette Fertigungshalle für Karosserien bei Skoda in Tschechien aus. Anfang des Jahres erhielten die Göppinger zudem die Aufträge, Pressmaschinen für Peugeot in der Slowakei sowie für Renault in Slowenien zu liefern. Allein im vergangenen Geschäftsjahr konnte das 4000-Mann-Unternehmen Bestellungen im Wert von rund 560 Millionen Euro akquirieren, wobei ein Großteil auf Osteuropa fiel.

Einträgliche Geschäfte mit Osteuropa machen sogar kleine und mittelständische Familienunternehmen. C. H. Erbslöh, ein Handelsunternehmen für Spezialchemikalien, eröffnete 1997 das erste Verkaufsbüro in Polen. „Wenn die osteuropäische Wirtschaft konkurrenzfähig werden will, kommt sie gar nicht umhin, in Deutschland Qualitätsprodukte einzukaufen“, sagt Geschäftsführer Carl Hugo Erbslöh.

Einen regelrechten Boom prophezeien Ökonomen den Ländern Osteuropas nach dem EU-Beitritt, mancher spricht gar von einem zweiten Wirtschaftswunder. Und doch wird es Jahrzehnte dauern, bis die neuen Länder wirtschaftlich Anschluss an das alte Europa gefunden haben.

Das Gefälle zwischen West und Ost innerhalb der neuen EU ist entsprechend groß: ob Wirtschaftskraft, soziale und ökologische Standards oder Infrastruktur – zur Europäischen Union gehören nun Staaten, die sich gravierend von den bisherigen Mitgliedern unterscheiden.

Von den östlichen Beitrittsländern erwirtschafteten nur Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn ein Bruttoinlandsprodukt (BIP), das, gemessen in Kaufkraft, über 50 Prozent des bisherigen EU-Durchschnitts von etwa 24 000 Euro liegt. Zum Vergleich: Die neuen Bundesländer, deren Aufbau 14 Jahre nach der Wiedervereinigung durchaus als gescheitert gelten kann, erreichen 70 Prozent des EU-Schnitts – allerdings sind seit der Wende auch 1250 Milliarden Euro in den Osten Deutschlands geflossen.

Allein diese Zahlen zeigen, welche Dimension der neue Aufbau Ost hat. Die Probleme sind durchaus vergleichbar, der Lösungsansatz aber könnte kaum unterschiedlicher sein: Ostdeutschland bekam nicht nur die D-Mark eins zu eins – sondern auch das westdeutsche Sozialsystem, während die Wirtschaft auch wegen der schnellen Anpassung der Löhne an das Westniveau schlagartig zusammenbrach. Seither hängt der Osten Deutschlands am Tropf des Westens.

Auch die EU wird durch die Osterweiterung – statistisch betrachtet – erst einmal schwächer und ärmer, das durchschnittliche BIP sinkt dramatisch. Die bisherigen Mitglieder werden in diesem Jahr voraussichtlich ein BIP von 9600 Milliarden Euro erwirtschaften, die ehemaligen Ostblockländer bringen gerade mal 450 Milliarden hinzu. Nimmt man alle Beitrittsländer, inklusive Slowenien, Zypern und Malta, steigt das BIP um rund neun Prozent. An Fläche und Bevölkerung gewinnt die neue EU dagegen rund ein Drittel hinzu.

Besonders bei den Ländern, die jahrzehntelang jenseits des Eisernen Vorhangs lebten, wird es mindestens eine Generation dauern, bis sie sich dem EU-Standard auch nur annähern. Das Wohlstandsgefälle ist gewaltig, in Polen oder der Slowakei sind beinahe 20 Prozent der Menschen arbeitslos.

Klar ist, dass die neuen Ossis finanzielle Transfers, wie sie nach der Wiedervereinigung nach Ostdeutschland flossen, nicht zu erwarten haben. Aber ohne Hilfe aus dem alten Europa wird es auch nicht gehen – und auch nicht ohne Streit, wie und welche Region künftig gefördert wird.

Zwischen 2007 und 2013 will die EU-Kommission insgesamt 336 Milliarden Euro für den Ausgleich der Lebensverhältnisse innerhalb der EU ausgeben. Allein 80 Prozent davon entfallen auf die Förderung jener Regionen, deren Pro-Kopf-Einkommen unter 75 Prozent des EU-Durchschnitts liegt.

Dieser Wert aber sinkt durch die Osterweiterung von rund 16 800 auf 15 300 Euro. 17 von 50 bisher geförderten EU-Regionen würden deshalb nach letztem Datenstand künftig leer ausgehen, darunter fast alle Regionen Ostdeutschlands – obwohl sich an den Lebensverhältnissen dort überhaupt nichts geändert hat.

Andererseits haben in den 10 neuen Ländern 36 von insgesamt 41 Regionen Anspruch auf Hilfe aus Brüssel. In ihnen leben 69 Millionen Menschen, 92 Prozent der Bevölkerung aller Beitrittsstaaten.

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Quelle: Michael Fröhlingsdorf, et al., „Der Preis des neuen Europa“, Der Spiegel, 26. April 2004, S. 100 ff.