Kurzbeschreibung
Im Oktober und November 1870 wurde der relativ unbekannte 27-jährige
Maler Anton von Werner (1843–1915) nach Versailles eingeladen, um
Militärpersonal im Hauptquartier der preußischen Armee und des
Generalstabs zu skizzieren. Zu dieser Zeit war der Ausgang des
Deutsch-Französischen Kriegs im Grunde bereits entschieden (bei Sedan am
1.-2. September). Als der Bewegungskrieg sich allmählich verlangsamte,
entwickelte sich Versailles zum zentralen Ort der sozialen und
diplomatischen sowie militärischen Aktivitäten. Mit Empfehlungsschreiben
des Großherzogs und der Großherzogin von Baden in der Tasche wurde
Werner in dieser Umgebung von Offizieren willkommen geheißen, die zu
Recht glaubten, dass er möglicherweise ihre Rolle bei einem großen Sieg
aufzeichnen würde. Tatsächlich fängt Werner erfolgreich die
Schlossatmosphäre in dieser Vorstudie zu einem Gemälde ein, das bis Ende
1870 vollendet wurde. Zu sehen ist hier der 70-jährige Chef des
preußischen Generalstabs Helmuth von Moltke (1800–1891) in seinem
Arbeitszimmer in der Rue Neuve in Versailles. Moltkes unerschütterliches
Auftreten und seine Konzentrationsfähigkeit schimmern durch bei der
Lektüre von Briefen und Berichten aus einem geöffneten Umschlag am
Fußboden. Werners Entschlossenheit, die Einzelheiten des Zimmers mit
beinahe fotografischer Präzision darzustellen, verleiht der Leinwand
einen unruhigen Effekt, der wohl die ästhetische Wirkung mindert. Es
klingt plausibel, dass die militärischen Führer, Diplomaten und Fürsten,
die während dieser Monate in Versailles zusammentrafen, das Gefühl
hatten, die Malerei sei das einzige Medium mit gebührender Würde,
Tradition und Gravität, um ihren hoch eingeschätzten Platz in der
Geschichte aufzuzeichnen. Ironisch mutet es deshalb an, dass sie bei
einem Künstler Stammkunden waren, der darauf beharrte, auf seiner
Leinwand jedes Detail einzubeziehen und damit bereits auf das neuere und
weniger geachtete Medium der Fotografie vorauswies.