Kurzbeschreibung

Emil Lehmann (1829–1898) war ein Dresdner Rechtsanwalt und der erste in das Dresdner Stadtverordnetenkollegium gewählte Jude (1865). Ab 1863 war er als Rechtsanwalt tätig und richtete sein Augenmerk verstärkt auf den Kampf für jüdische Rechte. Er wurde im Februar 1869 zum Gemeindevorsteher der Dresdner jüdischen Gemeinde gewählt. Lehmann unterstützte die Akkulturation der Juden in die deutsche Gesellschaft, ohne dass diese ihren Glauben aufgeben sollten. Seine Bemühungen hatten bereits erheblich zur (formalen) Gleichstellung der Juden in Sachsen am 3. Dezember 1868 beigetragen—das heißt, vor der Verabschiedung des „Gesetzes zur Gleichberechtigung der Konfessionen“ durch den Norddeutschen Reichstag (3. Juli 1869). In der hier auszugsweise wiedergegebenen Rede kommentiert Lehmann den Berliner Antisemitismusstreit. Er verspottet die Verfechter des Antisemitismus, darunter den Komponisten Richard Wagner (1813–1883), den Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) und den Berliner Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896), deren Namen er allerdings geflissentlich nicht erwähnt. Doch Lehmann sieht eine deutliche Gefahr in der Unterstützung, die Treitschke für seine öffentliche Erklärung erhalten hatte, dass die „Juden unser Unglück [sind].“ (November 1879) Er postuliert darüber hinaus die Absurdität der Vorstellung der Juden als „Semiten.“ Die Aussichten auf eine jüdische Assimilierung seien, so erklärt er in dramatischen Worten, gefährdet durch „[d]iese neuzeitliche Vivisektion des Judenthums—dieses Hineinschneiden unsrer Gegner in unseren lebendigen Leib []“ Trotzdem erklärt er in den letzten Sätzen, dass das deutsche Judentum solche Verletzungen ertragen müsse, um seine wahre Humanität und Vaterlandsliebe zu zeigen.

Emil Lehmann spricht zu den Leipziger Juden über die antisemitische Bewegung (11. April 1880)

  • Emil Lehmann

Quelle

Ueber die judenfeindliche Bewegung in Deutschland

(Referat erstattet auf dem dritten ordentlichen Gemeindetag zu Leipzig am 11. April 1880)

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Die neuere judenfeindliche Literatur nahm ihren Ausgangspunkt vom Culturkampfe. Aus dem Kreise derer, gegen welche dieser Kampf gerichtet war, wurden mit dem von Alters her bekannten Fanatismus der Dominikaner, „der Talmudjude“ und alle jene, den Talmud und die Juden dem allgemeinen Abscheu preisgebenden Schriften herausgegeben, die in unzähligen Nachahmungen noch heute, namentlich in der Hauptstadt Schlesiens, vervielfältigt werden. Auf anderer aber wahlverwandter Seite stimmten agrarische Schriftsteller in die Hep-Hep-Rufe.

Die Dritten im Bunde waren die sogenannten Christlich-Socialen, welche agrarische Tendenzen mit socialdemokratischen Maximen zu verquicken suchten. Als vierter trat ein Pessimist auf, ein Ultra-Radicaler, der unzufrieden war mit Allem, was sich in Deutschland zugetragen, dem keine politische Partei es recht gemacht, und der nun alle Schuld für die politischen und socialen Zustände in Deutschland den Juden zur Last legte. An diesen Pamphletisten schlossen sich andere Unzufriedene mit ähnlichen Geistesprodukten an.

Zuletzt kam noch ein streng nationalliberaler Professor, um in gewählteren Ausdrücken, in maßvollerer Sprache dem deutschen Volke zu verkünden, daß die Juden ein Unglück für Deutschland seien. So ist der Kampf auf allen Linien ausgebrochen. Die äußerste Rechte, die Hofpredigerpartei, das Centrum, Nationalliberale von der strengsten Observanz, Ultra-Radikale, haben das Feldgeschrei wider die Juden erhoben. Sabuni Kidevaurim.

Nach allen drei Richtungen hin – der religiösen, der politischen, der sozialen, wird in dieser feindseligen Literatur gegen uns gewühlt; und mit den einander widersprechendsten Gründen obendrein. Die Einen versichern, daß sie es gar nicht mit der Religion und mit den Personen, nur mit dem Volksstamme zu thun haben. Die Anderen greifen die Religion, namentlich den Talmud, auch das alte Testament an. Hierin gehen sonderbarerweise die auf dem konfessionell strengsten Standpunkte Stehenden mit den konfessionslosesten Allesverneinern Hand in Hand. Eine und dieselbe Nummer eines mitteldeutschen offiziellen Blattes brachte Ende November 1879 als Leitartikel einen Stoßseufzer gegen den religiösen Liberalismus, im Feuilleton ein freudestrahlendes Referat über die Zerfleischung des alten Testaments und der alten Hebräer, die in der neuesten „Kulturgeschichte des Judenthums“ vom radikalsten, konfessionslosesten Standpunkte aus versucht wird.

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Man hat in dem scheinbar wissenschaftlichen Ausdrucke „Semiten“ ein neues Schibolet oder Schimpfwort aufgefunden, und seiner bedienen sich auch die, welchen die Erzählung von den drei Söhnen Noah’s eine Mythe ist, auch die, welche die Eintheilung der Menschen in drei Klassen oder Rassen als unwissenschaftlich verwerfen.

Alles das geschah unter der Herrschaft eines Gesetzbuchs, das mit Strafen bedroht denjenigen, der in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt, (§ 130) wie denjenigen, der öffentlich eine mit Korporationsrechten innerhalb des Bundesgebietes bestehende Religionsgesellschaft oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche beschimpft (§ 166).

Alles das ist auch ohne Privatanklage vom Staate direkt zu bestrafen. Gleichwohl hat noch kein Staatsanwalt von Amtswegen die Verfasser, Verleger und Verbreiter jener judenfeindlichen Schriften angeklagt, hat keine Polizeibehörde Anstoß genommen an den verlockenden Aushängeschildern in Buchhändlerläden mit der Inschrift „Zur Judenfrage“ und den zahllosen darunter liegenden Pamphleten. Als ob es der gesetzlich ausgesprochenen Gleichberechtigung gegenüber heutzutage noch eine Judenfrage geben könne!

Wir haben seit dem 21. Oktober 1878 das bekannte Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie. Aber obschon ein guter Theil jener Schriften die Juden nur zum Anlaß und Ausgangspunkt nimmt, um sozialdemokratische Angriffe und Verunglimpfungen gegen unsere deutschen Zustände zu richten, obwohl sie zumeist den Gegensatz zwischen den angeblich mühelos Erwerbenden und den angeblich Ausgebeuteten zu schüren bestimmt sind – das Sozialistengesetz kam auf jene Schriften nicht zur Anwendung. Nur ein Staatsanwalt, der in Bremen, hat unter Hinweis auf jene strafgesetzlichen Bestimmungen vor der Errichtung von Antisemitenvereinen gewarnt.

Der Ausschuß des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes hat die Frage der strafgerichtlichen Verfolgung wiederholt zum Gegenstand seiner eingehenden Erwägungen gemacht. Ich erachte es unter unserer Würde, im Wege der Privatanklage auf jene Hetzschriften hinzuweisen. Aufgabe der Regierungen ist es, von selbst dagegen einzuschreiten. Und wo dies nicht geschieht, da hilft auch eine Privatanklage blutwenig. Eine Freisprechung, ein matter Strafantrag seitens der von Privatanklägern angerufenen Staatsanwaltschaft – und auch das wurde erlebt – wirkt schlimmer als eine Strafvollstreckung, die Märtyrer schafft.

In den wenigen Fällen, in denen der Ausschuß des Gemeindebundes trotzdem Strafanträge gestellt, hat er theils – vor längerer Zeit – Bestrafung erzielt, theils – in neuester Zeit – staatsanwaltschaftliche Ablehnungen erlitten. Schriften, die in der Reichshauptstadt, zur Zeit der Wahlen erschienen waren, und vor jüdischen Abgeordneten gewarnt hatten, enthielten nach Ansicht des Staatsanwalts keine Anreizung zu Gewaltthätigkeiten, in ihrem beschimpfenden Hinweis auf Juden in Galizien vermißte er den Thatbestand einer Aufreizung verschiedener Klassen deutscher Bevölkerung, obschon die betreffenden Schriften in Deutschland und offenbar nur für Deutsche geschrieben, offenbar nur gegen die Juden in Deutschland gerichtet sind. Die Juden, sagt er weiter, seien nicht als Religionsgesellschaft, sondern als Rasse und Volksstamm ins Auge gefaßt. Spöttische und sarkastische Bemerkungen seien nicht zu verwechseln mit beschimpfenden Aeußerungen.

Ein anderer Staatsanwalt versagte die Verfolgung eines Artikels, in welchem in schmählichster Weise die Juden angegriffen, der Fahneneid eines Juden als Geschäftsformel, das Reserveoffizierspatent als Gegenstand jüdischer Geschäftsspekulation dargestellt war, weil die Beleidigung des jüdischen Volksstammes nicht ohne Weiteres jedes einzelne Glied desselben treffe.

Und dennoch! Wir Juden fühlen es am besten, daß mit den judenfeindlichen Angriffen wir Alle bedroht, wir Alle berührt sind. Und jeder Christ, der befangene wie der unbefangene, wird zugeben, daß in diesen Schriften nicht der Jude Meyer, sondern die Mehrzahl aller Juden gemeint ist.

Wenn irgendwie das Sprichwort calumniare audacter, semper aliquid haeret, verleumde keck, es bleibt immer etwas hängen, sich als Wahrwort zeigt – so gegenüber den Juden. Die Wurzeln der Abneigung liegen tief. Sie hängen mit den frühsten Schulerinnerungen zusammen, in den Gemüthern der Urtheilslosen und Vorurtheilsvollen glimmt der Funke; durch derlei Hetzschriften wird er genährt.

Und nicht blos in den Gemüthern der Urtheilslosen. Wenn die Regierungen, wenn die Staatsanwälte nicht energisch gegen Derartiges vorgehen – obwohl in ihnen Vorurtheilsfreiheit und Gerechtigkeitssinn herrscht, obschon von allerhöchster Stelle im deutschen Reiche aus wiederholt in entschiedenster Weise die Mißbilligung jener Schmähschriften zum Ausdruck gelangt ist – so beweist das eben, daß man einem allzusehr verbreiteten Vorurtheile gegenüber Bedenken trägt, die volle Schärfe des Gesetzes zur Anwendung zu bringen.

Unbedenklich, ungefährlich sind diese Schriften keineswegs. Für verhältnißmäßig minder gefährlich erachte ich indes die schon in ihrem Tone als reine Ausgeburten des Hasses und des Neides und der niedrigsten Leidenschaften, wo nicht der reinen Spekulation sich kundgebenden Schmähschriften pessimistischen, ultramontanen, agrarischen, christlich-sozialen Gepräges. Sie gehen an ihren eignen Uebertreibungen unter. Auch die große Masse, an welche sie sich wenden, hat trotz allen Vorurtheils, doch Gerechtigkeitsgefühl und gesunden Sinn genug, um schließlich dieser Aufhetzungen müde zu werden.

Anders und schlimmer steht es mit der von dem oftgenannten Historiker vertretenen Richtung. Freilich gerade in seiner hier einschlagenden Polemik hat er sich nicht als Historiker erprobt. Denn was er von dem Gegensatz zwischen portugiesischen und deutschen Juden, von der heutzutage hervorragenderen Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit der ersteren, von der polnischen Abstammung der letzteren sagt, ist unhistorisch; unhistorisch auch seine Behauptung, daß das deutsche Volk ein christliches Volk; unlogisch seine Unterscheidung zwischen christlichem Staat, den er ablehnt, und dem christlichen Volke, als das er – ohne Rücksicht auf den religiösen Standpunkt – ja mit Einschluß der Ungläubigen – die Deutschen bezeichnet. Beiläufig bemerkt: Wie kommt es doch, daß jener Historiker den französischen, den englischen Juden ein so befriedigendes Zeugniß abzugeben sich veranlaßt sieht?

Weil diese viele Jahrzehnte länger im Besitze der Rechte sind, die uns erst verhältnißmäßig kurze Zeit gegeben sind.

Dort also – das giebt man selbst von dieser Seite zu – hat sich in längerer Dauer bewährt, was man hier in einer Uebergangszeit in Frage stellen will.

So schief und so widerlegbar, so trefflich widerlegt auch diese seine Behauptungen sind – Eins dürfen wir uns nicht verschweigen: sie sind nicht die Behauptungen eines Einzelnen, sie sind der Ausdruck einer Stimmung Vieler, die das Leben – mindestens der Juden – nur vom grünen Tische aus ansehen. Der christlich-germanische Staat, der Arierstolz spielt seit alter Zeit eine Rolle in vielen wissenschaftlich gehaltenen Schriften. Ich brauche hier kaum an die noch lebenden Schriftsteller, Dichter und Komponisten zu erinnern, die ihren Schöpfungen Vorreden und Einzelschriften gegen die Juden beigaben, der Eine, weil ein jüdischer Tondichter pietätvoll die Manen seines Bruders durch eine Ouverture zu dessen Trauerspiel Struensee geehrt und damit dem gleichnamigen, später erstandenen Drama des Anklägers eine Konkurrenz bereitet, der Andere – nun das ist ja im „Judenthum in der Musik“ nachzulesen. Ein dritter Kulturschriftsteller findet dies und das an uns auszusetzen, ein vierter, auch ein Historiker und zwar ein namhafter, bezweifelt unsere politische Organisationsfähigkeit, dann kommen Aerzte, Männer der Wissenschaft mit mißliebigen Bemerkungen über jüdische Aerzte, Krankenpflege, Studirende. Wer sich die Mühe nehmen wollte, jahrein, jahraus alle die feindseligen Aeußerungen gegen Juden und Judenthum zusammenzustellen, wie sie in Schriften und zwar in wissenschaftlichen Werken, in Zeitschriften, von Gebildeten für gebildete Kreise, wie sie in Gesellschaften ausgesprochen worden – er würde sehr umfangreiche Schattenbilder zur Kulturgeschichte der Menschheit erlangen. Die Götterdämmerung der Humanität ist noch lange nicht gekommen. Die Jünger Lessings, Alexander von Humboldt’s, Schleiden’s sind dünn gesät – in den Kreisen der Gebildeten wurzelt noch viel Antipathie gegen uns. Der oftgenannte Historiker, der kürzlich noch ein umgekehrtes „Hep-Hep-Geschrei“ gehört haben will, hat, wie er selbst einräumt, schon ein Jahrzehnt – nämlich in seinen Vorlesungen – der Abneigung gegen jüdisches Wesen Ausdruck gegeben. Seine jüngsterschienenen drei Aufsätze sind für ihn keine Nova, nehmen von ihm nicht Wunder. Nur das gab ihnen Bedeutung und den Vorzug vielseitiger Widerlegung, daß man sie als den Ausdruck einer in gebildeten Kreisen herrschenden Stimmung ansehen mußte. Sie waren das Ventil, durch das die vorhandene Mißstimmung ausströmte.

Sie geben namentlich die Auffassung jener Chauvinisten wieder, die, wie einstens die Romantiker, von urgermanischer Blutreinheit fabeln und damit das bekunden, was sie uns vorwerfen: Rassendünkel. Jener Historiker gesteht selbst zu, daß er Juden kenne, die er ausnehme, und so machen es diese Herren Alle. Die ihnen bekannten und befreundeten Juden nehmen sie aus, aber den großen ihnen unbekannten Haufen verdammen sie, das heißt, jeder Jude hat das Vorurtheil gegen sich, so lange er nicht Gnade vor ihren Augen gefunden.

Es ist nicht „Empfindlichkeit“, wie jener Historiker einem widerlegenden Kollegen vorhielt, was die Hervorragenderen aus unserer Mitte zwang gegen ihn aufzutreten. Es ist Gerechtigkeitsgefühl. Noch sind wir nicht so weit, daß der jüdische Gelehrte dem christlichen gleichstände in Bezug auf Amt und Berufung. Und wenn auch in den letzten Jahren hierin eine Besserung eingetreten, vor Jahrzehnten war es anders. Darum wäre es nicht zu verwundern, wenn – wie jener Historiker vermeint – die Leistungen jüdischer Gelehrter hinter denen christlicher zurückträten. Es ist aber nicht der Fall. Die Schriftsteller dritten Ranges, von denen er spricht, finden sich unter den Bekennern aller Religionen. Aber auch solche ersten und zweiten Ranges sind jüdischen Geistes und Ursprungs. So widerlegbar alle jene Argumente, so beherzigenswerth ist doch die Polemik selbst für uns.

Wir müssen die Dinge und die Menschen nehmen wie sie sind, nicht wie sie sein sollten, wir müssen mit ihnen rechnen. Diese neuzeitliche Vivisektion des Judenthums, dieses Hineinschneiden unsrer Gegner in unseren lebendigen Leib hat – wie Alles was Gott schickt – auch sein Gutes. Wir sagen mit dem alten Rabbi gam su letaubo, auch das ist zum Guten. Denn wie der Krankheitsstoff, der seit langer Zeit im Körper sich angesammelt, endlich durch die Krankheit sich absondert und dadurch die Genesung herbeiführt, so dient auch diese Polemik dazu, den lange Zeit im deutschen Körper vorhandenen Stoff des morbus antijudaicus, der Judenfeindschaft, zum Ausbruch zu bringen und damit die Genesung herbeizuführen.

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Ist es nun vollends zu verwundern, wenn in einer Uebergangszeit, wie der unsern, da die Gesetzgebung vielfach neue Bahnen gewandelt, da die Nachwehen gewaltiger Kriege, überstürzter Geschäftsunternehmungen, sich jahrelang fühlbar machten, da weniger Parteien als Interessen sich grimmig befehden, die Unzufriedenheit sich Luft macht, und, unvermögend den tieferen Quellen nachzuspüren, oberflächlich auf die losschlägt, gegen die zu allen Zeiten bei allgemeinen Unglücksfällen der Ingrimm sich zuerst Luft machte?

Uns aber, die wir gewohnt sind Gott zu danken, wie für das Gute, so für das Böse, uns soll diese Polemik zur Prüfung, zur Warnung, zur Mahnung dienen.

Zur Prüfung: sind wir aller Orten den hehren Idealen der Sittlichkeit und Rechtschaffenheit, die unser Judenthum – hierin voll übereinstimmend mit dem Christenthum – lehrt, treu geblieben? Haben wir die Segnungen der neuen Zeit allseitig so angewendet wie wir sollen und müssen? Sind wir treue Mitbürger, tüchtige Mitarbeiter, echte Söhne unsrer deutschen Heimath, unsres deutschen Vaterlandes geworden?

Ohne den Vorwurf der „Selbstgerechtigkeit“ zu fürchten, den jener Historiker uns zuschleudert, darf ich für die Mehrheit unsrer Glaubensgenossen diese Frage bejahen. In dem Maße und Verhältnisse, in dem unsre christlichen Mitbürger alle diese Pflichten erfüllen, geschieht es auch in jüdischen Kreisen. Aber reicht das aus? Liegt nicht vielleicht manchem von dem, was in jenen Schriften gegen uns vorgebracht ward, namentlich, soweit es einzelne Vorkommnisse anlangt, doch etwas Wahres zu Grunde? Hierzu rechne ich insbesondere den frivolen, witzelnden Trieb, die Reklame, die Zudringlichkeit, die Prahlerei, den Wucher, den Hang nach mühelosem Erwerbe.

Frivolität ist dem Juden von Haus aus fremd. Unsre erhabene Literatur, unsre Geschichte bezeugt es. Erst die französirende Aufklärungsperiode des vorigen Jahrhunderts importirte diese Neigung in halbgebildete Kreise, jüdische wie christliche. Auch das Haschen nach Witz ist keine ursprünglich jüdische Eigenthümlichkeit. Aus dem Talmud, diesem uns Allen mehr oder minder unbekannten Buche, sind uns nur die Sprüche der Väter geläufig, die jedes Gebetbuch zieren und in der That zu dem Herrlichsten gehören, was die Spruchweisheit an tiefer Ethik hervorgebracht. Darin ist von Witzen und Witzeln keine Spur. Diese Eigenthümlichkeit entwickelte sich erst im Drucke des Ghetto. Der Witz ist die geistige Waffe des Verfolgten. Wenn aber der sonst so verdienstvolle jüdische Geschichtsschreiber, Professor Grätz, dem jener Historiker die scharfen, obschon durch die Verfolgungen und Zurücksetzungen erklärbaren Ausdrücke gegen Deutschland mit Recht zum Vorwurf macht, an dem edelsten und hervorragendsten aller deutschen Juden, Gabriel Rießer, bemängelt, daß er nicht witzig geschrieben – dann ist es Zeit hervorzuheben, daß wir den Witz als jüdische Sonderheit nicht in Anspruch nehmen, daß uns der Ernst, die Wahrhaftigkeit, die Gesinnung vor allem werth ist.

Der Wucher, die Reklame, der mühelose Gewinn – diese Zeitübel wurzeln nicht ausschließlich, kaum verhältnißmäßig auf jüdischem Boden, zu ihnen haben Genossen aller Religionen ihr Kontingent geliefert. Aber unsre Pflicht ist es, unsre Glaubensgenossen vor allem zu mahnen, selbst all’ das zu meiden und ihre Kinder ehrenvollen, nützlichen Berufen zuzuführen. Und in dieser Richtung hat der Ausschuß des Gemeindebundes wiederholt seine Schuldigkeit gethan.

Man wird uns zwar trotz alledem noch einhalten, wir vertreten – wie jener Historiker sagt – eine Doppelnationalität. Das aber ist einfach unwahr und unhistorisch. Die jüdischen Deutschen sind Deutsche wie die christlichen Deutschen. Ihr Judenthum verhält sich zu ihrem Deutschthum grade so, wie das Freimaurerthum, die evangelische Allianz. Das Freimaurerthum ist über die ganze Welt verbreitet, kein Urtheilsfähiger wird aber deshalb einen deutschen Freimaurer einen schlechten Deutschen nennen. Im Gegentheil, wer das Freimaurerthum kennt, und wer das Judenthum kennt, wird sagen, die Deutschen, die ihnen anhängen, gehören, wenn sie deren Lehren befolgen, zu den besseren Deutschen.

Man sollte heutzutage, in einer Zeit des erbitterten Kampfes der Pessimisten und Materialisten gegen alles Ideale, eher dahin trachten, die Juden, gleichviel welcher religiösen Richtung, als Genossen im idealen, religiösen Streben anzuerkennen und heranzuziehen, statt sie abzuweisen.

Uns aber, die wir Deutsche sind, deutsch denken und deutsch fühlen, die wir mit allen Wurzeln unsrer Kraft auf deutschem Boden stehen, uns werden alle jene Angriffe nicht hindern, unser deutsches Vaterland und unsre Heimath zu lieben, gemeinnützig mit unsern Mitbürgern zu wirken und durch unser Leben die judenfeindlichen Angriffe zu widerlegen. Die besten Erwiderungen auf jene Flugschriften sind nicht Worte, nicht Schriften, sondern Thaten – unser Leben.

Die Mahnung jener Polemik gilt aber vorzugsweise den Juden, die es nur noch dem Namen nach sind. Sie haben sich entwöhnt mitzufühlen, mitzurathen, mitzuthaten bei Allem, was die Juden berührt. Sie meinten, die Zeit der Glaubensunterschiede sei vorüber. Nur ungern ließen sie sich daran erinnern, daß sie Juden seien. Ihre Kinder erzogen sie konfessionslos. Ihnen erschien das Judenthum wie ein überwundener Standpunkt. Viele unter ihnen ließen ihre Kinder nur am christlichen Religionsunterricht theilnehmen, unbekümmert darum, was daraus werden solle. Empfindlicher als alle anderen sind diese Glaubensgenossen durch die moderne Polemik betroffen worden. Sie wurden in unsanftester Weise daran erinnert, daß sie auch Juden seien, daß ihre Isolirung ihnen nichts helfe. Die Zeit der Glaubensunterschiede ist nicht vorüber, die positiven Religionen haben ihre Geltung nicht verloren. Der Jude bleibt Jude, so lange er nicht Christ wird – und auch der getaufte Jude unterliegt noch der Abneigung. So mahnen denn jene erneuten Angriffe die Juden zur Einkehr in sich, zur Besinnung auf sich, zur Hebung, Kräftigung und Läuterung ihrer religiösen Einrichtungen, zur Förderung dessen, was den Juden wie den Christen gemeinsam: des religiösen Sinnes, zur Prüfung der eigenen Schätze, zur Beschäftigung mit der jüdischen religionswissenschaftlichen und geschichtlichen Literatur, um aus ihr Kraft, Muth und Ueberzeugung dafür zu schöpfen, daß das Judenthum eine Religion sei, die ihre aufrichtigen Bekenner zur reinsten Humanität, zur echten Menschenliebe, zur treuesten Pflichterfüllung leitet, daß der wahre Jude auch ein guter Mensch und ein braver Patriot ist.

Quelle: Emil Lehmann, „Ueber die judenfeindliche Bewegung in Deutschland.“ Referat erstattet auf dem dritten ordentlichen Gemeindetag zu Leipzig am 11. April 1880, in Emil Lehmann, Gesammelte Schriften. Berlin, 1899, S. 215–24, hier S. 217–24. Online verfügbar unter: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/titleinfo/856147.