Quelle
Was man mit dem Namen „Kulturkampf“ bezeichnet, das war die Mobilmachung des konfessionellen Gegensatzes gegen den Katholizismus, die Aufbietung der Staatsgewalt in ihren höheren und niederen Organen, der Aufwand aller Machtmittel, die Bildung und Besitz gewähren, gegen alles, was katholisch hieß oder mit der katholischen Kirche auch nur entfernt zusammenhing.
Wie eine vergiftende Atmosphäre, wie eine Art Krankheit lag es in jenen Tagen über unserem Vaterlande. Katholik und Reichsfeind, katholisch und vaterlandslos, ultramontan und vaterlandsfeindlich, Zentrumsanhänger und Gegner jeder Kulturbestrebung waren nach landläufiger Auffassung gleichwerte Begriffe. Es gehörte gewissermaßen zum guten Ton, den Katholiken ihre politische und gesellschaftliche Minderwertigkeit möglichst deutlich zum Ausdruck zu bringen und ihnen im öffentlichen und privaten Leben die Gleichberechtigung abzusprechen. Es galt – wie der Abg. Hänel am 12. Jan. 1882 im Reichstage sagte, als man sich dieser Zustände zu schämen begann – „als notwendig, korrekt und patriotisch, ja sogar um in höherer Gesellschaft zulässig zu sein, als Bedingung, daß man kulturkämpfte. Da mußte man mit Entschiedenheit allen Anforderungen, welche die Regierung und die Konservativen in bezug auf die Kirchengesetzgebung erhoben, blindlings folgen, sonst war man immerhin politisch etwas anrüchig.“[1] Wobei man aber nicht vergessen darf, daß Fortschritt und Nationalliberale es mitunter noch ärger trieben, als die Konservativen.
Die konfessionellen und politischen Gegensätze waren so groß, daß ein klaffender Riß durch die Gesellschaft ging, der Spaltung und Zwietracht bis in den Schoß der Familie hinein trug. Ein überzeugungstreuer Katholik galt tatsächlich nur als Bürger zweiter Klasse. Ja, selbst die katholischen Männer, die sich der Zentrumspartei nicht anschlossen, vielmehr in den Reihen der Gegner politisch ihre Stellung nahmen, wurden nicht für voll angesehen und begegneten einem gewissen Mißtrauen, wenn sie nicht durch ganz besondere Rücksichtslosigkeit im Kampfe gegen ihre Glaubensgenossen sich auszeichneten.
Namentlich in den kleineren und mittleren Städten waren die Katholiken aus den gesellschaftlichen Kreisen und vom freundschaftlichen Verkehr mit Nichtkatholiken nahezu ausgeschaltet. Sogar die geschäftlichen Beziehungen wurden durch das politische Parteiprogramm und die konfessionelle Frage beeinflußt.
In einzelnen Städten, so in M.Gladbach und Düsseldorf, wurden sogenannte „schwarze Listen“ gedruckt und in den Kreisen der liberalen Parteigenossen verbreitet, in der Absicht, dadurch auf die „ultramontanen“ Geschäftsinhaber einen Druck auszuüben oder sie seitens der liberalen Kundschaft boykottieren zu lassen. Wenn gar politische oder kommunale Wahlen die Leidenschaften noch mehr aufgewühlt hatten, war die Entlassung von Arbeitern und Privatbeamten, die ihrer Ueberzeugung nach für Zentrumskandidaten ihre Stimme abgegeben hatten, durchaus keine Seltenheit. Am 25. September 1882 sagte Windthorst in einer Wählerversammlung zu Krefeld u. a.: „Es hat mich mit innigem Schmerze erfüllt, als ich früher schon und heute wieder vernahm, daß es hier Fabrikherren gegeben hat – hoffentlich gibt’s deren heute nicht mehr – welche ihre Arbeiter wegen freier Ausübung des Wahlrechts materiell bedrückt, ja aus dem Dienste entlassen und wenigstens momentan brotlos gemacht haben. Das erachte ich für eine Schmach!“
Daß die mittelbaren und unmittelbaren Staatsbeamten der unteren Kategorien von der höheren Stelle bei öffentlichen Wahlen auf ihre Abstimmung geprüft wurden, fand selbst die Mehrheit des Abgeordnetenhauses ganz in der Ordnung.
Wie hoch und heiß in solchen Wahlkämpfen bei politischen und noch mehr bei Gemeindewahlen das Feuer des konfessionellen Hasses aufloderte, läßt sich in unseren Tagen kaum mehr begreifen. Wurde doch vom Düsseldorfer liberalen Wahlkomitee das Ergebnis der Landtagswahl, bei welcher dank einer geradezu raffinierten Wahlkreisgeometrie der Zentrumspartei zwei Mandate entrissen und der liberalen Partei überliefert worden waren, dem Reichskanzler mit den Worten telegraphiert: „Ein schöner Wahlkreis ist dem Vaterland wiedererobert!“ Ueber amtliche und private Wahlbeeinflussungen wissen die Akten der Wahlprüfungskommission aus jenen Tagen geradezu unglaubliche Dinge zu erzählen.
Was sich selbst in katholischen Gegenden namentlich die unteren Beamten den Katholiken gegenüber erlaubten, hält man heute kaum noch für möglich.
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Nicht einmal die Rechtsprechung, deren Unabhängigkeit bis dahin Preußens Stolz gewesen war, blieb vom Kulturkampfe ganz unberührt. Der Justizminister hatte die Oberstaatsanwälte unterm 15. Juli 1874 durch eine besondere Verfügung angewiesen, den Blättern der Zentrumspartei eine erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden und mit Beschlagnahme und Anklage überall da vorzugehen, wo der Tatbestand einer strafbaren Handlung zu finden sei. Welchen Erfolg eine solche Aufforderung an eine Behörde haben mußte, die ohnehin gewissermaßen von Amts wegen geneigt ist, Handlungen strafbar zu finden, läßt sich denken. Die Preßprozesse gegen die „ultramontane“ Presse mehrten sich in auffälligster Weise, und die untergeordneten Organe der Justiz und der Polizei ließen sich in vielen Fällen offenbare Gesetzesverletzungen bei Beschlagnahmen und Haussuchungen zuschulden kommen. Selbst liberale Blätter gestanden ein, daß auf solche Weise alle Preßfreiheit vernichtet werden könne. In manchen Fällen wurden die Blätter der Zentrumspartei für Artikel bestraft, die in den liberalen Blättern desselben Ortes straflos zum Abdruck gelangt waren. Der Abgeordnete Dr. Lieber stellte das am 23. Februar 1875 im Abgeordnetenhause ausdrücklich fest und rügte das Vorgehen der Gerichte in seiner temperamentvollen Art. Die amtlichen Blätter reizten die Gemüter in einer Weise auf, die nur darüber erstaunen lasse, daß das in der bayrischen Kammer gefallene Wort: „Mit den Ultramontanen unterhandelt man nicht, man schlägt ihnen die Köpfe ein!“ noch nicht in die Tat übersetzt sei; gleichwohl habe man bisher diese Aufreizungen unbehelligt gelassen.
Anmerkungen
Quelle: Eduard Hüsgen, Ludwig Windthorst. Köln, 1907, S. 222–23, 226; abgedruckt in Gerhard A. Ritter, Hrsg., Das Deutsche Kaiserreich 1871–1914. Ein historisches Lesebuch, in Bd. 4, Reichsgründung: Bismarcks Deutschland, 1866–1890. 5. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992, S. 199–201. © Vandenhoeck & Ruprecht. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.