Kurzbeschreibung

Im deutschen Kaiserreich wurden formal Bundesstaaten zusammengeschlossen, deren besondere Interessen und Befindlichkeiten zu respektieren waren. Das galt vor allem für Bayern, den nach Preußen zweitgrößten Einzelstaat. In diesem Brief Ende November 1870 überzeichnet Bismarck gekonnt Bayerns Bedeutung, indem er dem bayerischen König Ludwig II. (1864–1886) nahelegt, persönlich die Initiative zu ergreifen und Wilhelm I. von Preußen als zukünftigen deutschen Kaiser vorzuschlagen. Bismarcks tiefere Beweggründe sind unschwer zu erkennen: Es war sein fester Entschluss, dass Deutschlands „Fürsten“ und nicht etwa die Parlamentarier als Vertreter des „Volkes“ die „freiwillige Übertragung“ der Untertanentreue an den preußischen Monarchen einleiten sollten. Nachdem man Bismarcks Willen entsprochen hatte, wurde die Vorstellung eines Kaisertums „durch Gottes Gnaden“ durch den Gedanken gestützt, dass Deutschland auf einem Privatabkommen unter souveränen Herrschern beruhe (diese Vereinbarung schloss ein geheimes Bestechungsgeld an Ludwig selbst ein, das den Bau von Märchenschlössern wie Neuschwanstein finanzierte).

Die Verhandlungen über das Kaisertum: Schreiben Bismarcks an Ludwig II. von Bayern (27. November 1870)

  • Otto von Bismarck

Quelle

Versailles, 27. November 1870

Allerdurchlauchtigster Großmächtigster König!

Für die huldreichen Eröffnungen, welche mir Graf Holnstein[1] nach Befehl Eurer Majestät gemacht hat, bitte ich Allerhöchstdieselben den ehrfurchtsvollen Ausdruck meines Dankes gnädig entgegennehmen zu wollen. Mein Gefühl der Dankbarkeit gegen Eure Majestät hat einen tieferen und breiteren Grund als den persönlichen, in der amtlichen Stellung, in welcher ich die hochherzigen Entschließungen zu würdigen berufen bin, durch welche Eure Majestät bei dem Beginn und bei dem bevorstehenden Ende dieses großen National-Krieges der Einigkeit und der Macht Deutschlands den Abschluß gegeben haben. Aber es ist nicht meine, sondern die Aufgabe des deutschen Volkes und seiner Geschichte, dem durchlauchtigen Bairischen Hause für Eurer Majestät deutsche Politik und für den Heldenmuth Ihres Heeres zu danken. Ich kann nur versichern, daß ich, so lange ich lebe, Eurer Majestät in ehrfurchtsvoller Dankbarkeit anhänglich und ergeben sein und mich jederzeit glücklich schätzen werde, wenn es mir vergönnt wird, Eurer Majestät zu Diensten sein zu können.

Bezüglich der deutschen Kaiserfrage ist es nach meinem ehrfurchtsvollen Ermessen vor allem wichtig, daß deren Anregung von keiner andern Seite wie von Eurer Majestät und namentlich nicht von der Volksvertretung zuerst ausgehe. Die Stellung würde gefälscht werden, wenn sie ihren Ursprung nicht der freien und wohlerwogenen Initiative des mächtigsten der dem Bunde beitretenden Fürsten verdankte. Ich habe mir erlaubt, dem Grafen Holnstein den Entwurf einer etwa an meinen allergnädigsten König und, mit den nöthigen Änderungen der Fassung, an die anderen Verbündeten zu richtenden Erklärung auf seinen Wunsch zu übergeben. Demselben liegt der Gedanke zu Grunde, welcher in der That die deutschen Stämme erfüllt: der deutsche Kaiser ist ihr Landsmann, der König von Preußen ihr Nachbar; nur der deutsche Titel bekundet, daß die damit verbundenen Rechte aus freier Übertragung der deutschen Fürsten und Stämme hervorgehn. Daß die großen Fürstenhäuser Deutschlands, das Preußische eingeschlossen, durch das Vorhandensein eines von ihnen gewählten deutschen Kaisers in ihrer hohen europäischen Stellung nicht beeinträchtigt würden, lehrt die Geschichte.

In tiefer Ehrfurcht ersterbe ich Eurer Majestät untertänigster treugehorsamster Diener,
v. Bismarck

Anmerkungen

[1] Max Graf von Holnstein aus Bayern (1835–1895), vertrauter Ratgeber König Ludwigs II. [Information aus Ernst Rudolf Huber, Hrsg., Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, 3. neubearb. Aufl. Stuttgart: W. Kohlhammer, 1978, Bd. 2, S. 348.]

Quelle: Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, herausgegeben von Gerhard Ritter und Rudolf Stadelmann, Friedrichsruher Auflage, 15 Bde. Berlin, 1924–1932, Bd. 6b, Nr. 1932; abgedruckt in Ernst Rudolf Huber, Hrsg., Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, 3. neubearb. Aufl. Stuttgart: W. Kohlhammer, 1978, Bd. 2, S. 348–49.