Quelle
Es muß an die Nachfolge Bismarcks gedacht werden. Da mir nun Roggenbach erzählt, er habe diese Sache schon mal mit Ihnen besprochen, ich aber seinen Ansichten gar nicht beitreten kann, wohl aber denen Miquels, der den Dingen von uns am nächsten steht, so bin ich so dreist, Ihnen das Ergebnis meines Denkens in der Angelegenheit mitzuteilen, ohne von Ihnen eine Antwort oder Erwiderung zu erwarten.
1. Der Nachfolger des Kanzlers muß einfach in die ganz ungeschmälerte Machtstellung rücken, welche Bismarck inne hat, und eine Minderung dieser Macht im Lauf der Zeit darf nicht ins Auge gefaßt werden.
2. Der Nachfolger des Kanzlers muß Soldat sein.
3. Er muß so unbedingt das Vertrauen des Kaisers besitzen, daß jedermann es weiß.
4. Um dem Kapital Bismarck von Anfang an das Gleichgewicht zu halten, bedarf es beim Antritt des Amts im Landtag und im Reichstag der Erklärung, daß es die Absicht sei, auf dem begonnenen Wege zu bleiben.
Zur Ausführung und Begründung dieser vier Sätze sei folgendes gesagt:
ad 1. Die Einigkeit der deutschen Fürsten muß den Grundpfeiler der deutschen Einheit bilden, und die deutschen Fürsten ertragen viel leichter einen mächtigen Kanzler wie einen mächtigen Kaiser. Nur wenn die Fürsten einig, besitzt die Reichsregierung Macht, zumal dem Reichstag und dessen mehr oder minder liberalen Neigungen gegenüber. Der Reichstag gewährt durch die Öffentlichkeit (es ist die best- und meistgehörte Stimme im Land) das sicherste Mittel zur Bewältigung partikularistischer Neigungen, aber wenn die Reichsregierung unabhängig vom Reichstag bleiben will, darf sie den letzteren nicht zur Behauptung ihrer Stellung notwendig haben. Alle deutschen Fürsten, ich glaube, es darf keiner ausgenommen werden, haben den Verlust der Souveränität noch nicht verschmerzt. Dem Wortlaut der Verfassung gemäß sind sie nur Verbündete des Königs von Preußen; sie sind dabei untertan dem Reich, und diese Untertänigkeit wird ertragen im Bundesrat unter dem Kanzler, nicht in der Beziehung des Fürsten zum König von Preußen, dem Kaiser. Ist die Herrschaft des Kanzlers im Bundesrat,
d. h. in den Reichsregierungsangelegenheiten, keine starke, dann wird auch da die Reichsgewalt locker und der Auflösungsprozeß beginnt. Die Fürsten fesselt der Kaiser äußerlich, wirklich gebunden werden sie durch ihre Minister und die Landesinteressen, und diese ganz vom Reich abhängig zu machen, das ist Aufgabe des Kanzlers. Wie der Kanzler es früher verstanden, Personen zu fördern und die kleinen Wünsche der Staaten zu berücksichtigen, zu lohnen und zu strafen, kann hier nur angedeutet werden. Die Einführung der Schutzzölle bot in dieser Beziehung reiche Gelegenheit. Wie der Kaiser heute Bismarck mit Gnaden und Freundlichkeit überhäuft und diesen dadurch mächtig unter sich drückt, ganz von demselben Gesichtspunkt muß der Kaiser gegenüber den Fürsten ausgehen. Er muß diese durch Gleichstellung zwingen, die eigene Unterstellung möglichst hervortreten zu machen. Das Gewaltantun ist allein Sache des Kanzlers in einzelnen Akten sowohl als auch im Herausfordern der öffentlichen Meinung in der Presse und zumal im Reichstag.
Des Kaisers Machtstellung kann nur als eine diskretionäre bezeichnet werden und ist allein auf militärischem Gebiet als zu positiven Akten berechtigt zu erachten. So mißfällig von partikularistischer Seite die Alarmierung in Darmstadt angesehen wurde, so hat sich doch keine Stimme dagegen vernehmen lassen. Solch militärisches Vortreten des Kaisers muß deshalb als immer wünschenswert bezeichnet werden. Der Ausspruch des Kaisers 'meine Reichslande' hat auch einigen Fürsten die Zornesader schwillen machen, aber man scheute sich zu klagen. Des Kaisers Grundlage liegt in einem starken Preußen und in einer vollständigen Übereinstimmung der Bestrebungen Preußens mit denen des Reiches. Nichts ist gefährlicher für die Einheit des letzteren wie der Partikularismus Preußens. Bismarck versuchte seinerzeit sich zu entlasten, indem er Roon zum preußischen Ministerpräsidenten werden ließ. In kürzester Zeit erkannte B. den hierin gemachten Fehler und machte ihn bald rückgängig. Die Unsicherheit, ob die preußische Stimme auch unbedingt zu des Kanzlers Verfügung sei, machte diesen schwach. Der Kanzler muß preußischer Ministerpräsident sein, wenn er die einigende Kraft im Reich sein soll. Und gerade das Diskretionäre der Kaisergewalt fordert, daß die verfassungsmäßig starke Stellung des Kanzlers unangetastet bleibt, sollen die partikularistischen und die revolutionären Elemente, mit denen sich das Zentrum zu verbinden sucht, nicht zu dem Ziele, der Zerstörung des Reiches, kommen. Deshalb ist auch der Gedanke von Reichsministern zu verwerfen. Die Feinde der Einheit sind viel zu stark, als daß man eine Vielköpfigkeit an die Spitze der Regierung stellen könnte. Allein möglich wäre ein Reichskriegsministerium, weil hier die Einheit des Reiches verfassungsmäßig gesichert; aber wenn man ein Reichsarmeeoberkommando einrichtete, würde der Einheit genügt, ohne daß die partikularen Kriegsminister Schaden verursachen könnten. Eine Selbständigkeit des Auswärtigen Amts ist ganz unzulässig, da gerade hier auch in Friedenszeit dauernd die Macht und die Einheit des Reiches nicht nur nach außen, sondern auch gegen die Staaten des Reiches zur Geltung gebracht wird.
Die heutige Machtstellung ist ein Bedürfnis des Reiches.
ad 2. Die Kriegerkaste hat von jeher die Welt regiert. Es ist deshalb wunderbar, daß wir einen bürgerlichen Gouverneur im Elsaß haben, doch das gehört nicht hierher. Die Stellung des Deutschen Reiches nach außen ist ihrem Charakter nach eine militärische, und Bismarck hat nicht ohne Grund stets sich der Welt als Soldat gezeigt. Der letztere steht als solcher auch dem Kaiser am nächsten. Dazu kommt aber noch, daß der Soldat nicht nur im Reichstag, sondern auch im Bundesrat, im Ministerium über den Parteien steht. Gerade bei der großen Macht des Kanzlers muß der letztere nicht jenen die Herrschaft erstrebenden parlamentarischen oder bürokratischen Elementen entstammen, sondern nur aus des Kaisers Leuten.
ad 3. Nur wenn der Kanzler ganz des Kaisers Mann, ist seine große Macht erträglich und möglich. Nur wenn dieser Schlußstein der deutschen Einheit, der Reichskanzler, sicher und unverrückbar in seiner Lage, ist das Reichsgewölbe stark genug, alle gegen das Reich gerichteten Geschosse abzuhalten. Wäre es möglich, beim Kaiser gegen den Kanzler zu intrigieren, könnte man bei Vorlagen usw. annehmen, daß Kaiser und Kanzler nicht ganz einverstanden seien, dann ist letzterer ohnmächtig und müßte möglichst rasch entfernt werden.
ad 4. Das unerschütterliche Verhältnis zwischen Kaiser und einem neuen Kanzler würde auch denjenigen Maßregeln den notwendigen Stempel aufdrücken, welche notwendig erachtet werden, um dem Nachfolger Bismarcks eine breite Basis in der öffentlichen Meinung zu verschaffen. Ohne eine solche würde die Macht etwas schattenhaft werden.
Der Kanzler hat in den letzten Jahren trotz aller fortbestehenden Anerkennung seiner Verdienste um Vergangenheit und Zukunft in der öffentlichen Meinung sowohl als in der freiwilligen Unterordnung seiner Untergebenen verloren, weil er ein Hemmschuh in der inneren Entwicklung des Reiches und Preußens geworden ist. Das Alter hat ihn egoistisch und arbeitsscheu gemacht. Wo seine Interessen mitspielen, wie z. B. bei der Veränderung der Einkommensteuer, verhindert er den Weitergang der Dinge. Wo es einer eigenen Arbeitskraft, ja selbst nur des Hervortretenlassens einer großen fremden, ihn in den Schatten stellenden Arbeitskraft bedarf, um ein Gesetz zu schaffen, verhält er sich negativ;
z. B. das Inslebenrufen des das Recht in Deutschland einigenden Zivilgesetzbuches kommt nicht von der Stelle. — Legt der Nachfolger Bismarcks den Zauberstab der Macht sofort an diese versäumten und ersehnten Dinge, so darf er sich der freudigen Zustimmung der Wohlgesinnten Deutschlands zu seiner Wahl versichert halten.
Quelle: Aus dem Briefwechsel des Generalfeldmarschalls Alfred Grafen von Waldersee, hrsg. von Heinrich Otto Meisner. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1928, Bd. 1, S. 336–38; abgedruckt in Hans Feske, Hrsg., Im Bismarckschen Reich 1871–1890. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1978, S. 451–54.