Kurzbeschreibung

Carl Theodor Welcker (1790–1869) war ein führender liberaler Publizist und Politiker des Vormärz; besondere Bekanntheit erlangte er dadurch, dass er gemeinsam mit Carl von Rotteck (1775–1840) die liberale Enzyklopädie Staats-Lexikon herausgab und dem Parlament des Staates Baden angehörte. Um die öffentliche Meinung zu beeinflussen und Druck auf konservative Regierungen auszuüben, publizierten Welcker und andere Liberale seiner Zeit wichtige Staatsdokumente und kommentierten sie. Als im Deutschen Bund um die Mitte der 1840er Jahre intensiver über Verfassungs- und Parlamentsreformen diskutiert wurde, stellte Welcker eine Sammlung solcher Dokumente und Kommentare zusammen, um auf die Diskussionen Einfluss zu nehmen. Diese Sammlung enthielt auch eine wegweisende Denkschrift, in der Friedrich Gentz zur Zeit der Karlsbader Beschlüsse den konservativen Standpunkt dargelegt und dafür plädiert hatte, Verfassungen und Repräsentativorgane nur in sehr begrenztem Umfang zuzulassen, und trug so dazu bei, die konservativen Machenschaften hinter den nach wie vor repressiven politischen Verhältnissen in den deutschen Staaten sichtbar zu machen. Welcker versah die veröffentlichte Fassung von Gentz‘ Denkschrift mit subversiven Anmerkungen und verfasste im Anschluss eine Gegenschrift, in der er Gentz‘ Argumentation Punkt für Punkt widersprach. Welcker argumentierte vor allem, dass traditionelle ständische Organe in der Vergangenheit bereits viel weiter reichende Befugnisse und eine stärker nationale Repräsentationsfunktion gehabt hatten als von Gentz behauptet. Die Auseinandersetzung macht deutlich, wie wichtig Interpretationen von Geschichte auch für zeitgenössische politische Debatten waren, da beide Seiten versuchten, ihre eigene Programmatik dadurch zu rechtfertigen, dass sie sich auf historische Präzedenzfälle beriefen.

Carl Welckers Kritik an Friedrich von Gentz (1844)

Quelle

Zusatz zu der Nebenbeilage des siebenten Protokolls.
Von C. Welcker

Friedrich v. Gentz war unstreitig ein mit so herrlichen beneidenswerthen Talenten ausgerüsteter Schriftsteller, seine früheren Schriften, auch diejenigen noch, die er als gereifter Mann und als Bewunderer von Burke und der britischen Verfassung schrieb, vertheidigen so überzeugend die edelsten britischen Grundsätze staatsbürgerlicher Freiheit, seine begeisternde Feder endlich hatte so kräftig gegen die Napoleonische Herrschaft gewirkt, daß es schwer ist, ohne Wehmuth die voranstehende Abhandlung desselben zu lesen. Es ist schmerzlich, es zu sehen, wie derselbe Mann später als Söldling der Machthaber seine göttlichen Kräfte mißbrauchte, um durch die scharfsinnigste aber verkehrteste Sophistik die Wahrheit zu verwirren, die wahre Befreiung seines Vaterlandes und die Erfüllung heiliger fürstlicher Zusagen rückgängig zu machen und so seinem deutschen und vor allem vielleicht seinem nächsten Vaterland die größten Nachtheile und Gefahren zu bereiten. (S. Staatslexicon: Gentz). So wirkte er zuerst geheim, dann öffentlich und namentlich in seiner, kurz vor dem Carlsbader Congreß geschriebenen, demselben sicherlich ebenfalls vorliegenden Abhandlung gegen die Preßfreiheit, und in diese Abhandlung gegen die repräsentative Verfassung.

Das historisch wie philosophisch und praktisch Bodenlose und Trügerische der Vermischung der im Artikel 13 versprochenen ständischen Verfassung mit bloß kastenmaßigen feudalaristokratischen Ständen, ist jetzt endlich beinahe allgemein durchschaut. Aber bei dem Mangel freier Presse und da leider die Leitung der Geschicke Deutschlands in großentheils weder historisch und philosophisch noch juristisch gebildete diplomatische Hände fiel, ja zuweilen von ganz kenntnißlosen und unklaren Höflingen bestimmt wurde, so hat diese Begriffsverwirrung meist im Geheimen unermeßlichen Schaden gestiftet, welcher noch jetzt besteht.

Diese Abhandlung schiebt gleich im Beginne in der schulgerechten Form einer Definition, mit einer wirklich überkecken Dreistigkeit der ganzen weiteren Darlegung über die versprochene landständische und die allgemein von der Nation gewollte repräsentative Verfassung historisch und juristisch unwahre Grundbegriffe unter. Sie enthält zu Gunsten ihres Zweckes, die landständische Verfassung in Deutschland in wirkungslos veraltete Feudalstände zu verwandeln, eine ganze Reihe von historischen Unrichtigkeiten, welche jetzt als solche fast allgemein anerkannt sind, und deren völlige Grundlosigkeit insbesondere auch in den Abhandlungen: deutsche Geschichte, deutsches Bundesstaatsrecht, Grundvertrag und Beeten im Staatslexicon, so wie auch oben S. 16 ff. und S. 67 ff. urkundlich vollständig nachgewiesen wurde.

Es handelte sich bei den fürstlichen Zusagen in den Befreiungskriegen und in allen Verhandlungen über den Bund und den Art. 13 der Bundesacte nach den urkundlichsten Belegen (S. Abschnitt 1 und 2) von einer zeitgemäßen Wiederherstellung der deutschen Freiheitsrechte der Nation und ihrer Volksstämmme. Und nur in diesem Sinne, und ohne irgend an die veralteten, erloschenen, unzeitgemäßen feudalistischen Ständeabtheilungen und Corporationen zu denken, oder sie auch nur jemals mit einem Hauche zu erwähnen, versprach man Landstände.

Man dachte überall an zeitgemäße Volksrepräsentationen und constitutionelle repräsentative Verfassung, welche wie die Hannöverische Bevollmächtigten in Beziehung auf den 13. Artikel ausdrücklich und mit Hinweisung auf die englische Verfassung erklärten, durch das geschichtliche deutsche Recht begründet ist, welche die Fürsten, z.B. die Könige von Preußen, Baiern, und Würtemberg ihren Völkern förmlich und gesetzlich und wiederholt zusagten, welche alle Fürsten in der Wiener Congreßacte im ersten Art. ausdrücklich selbst den besiegten Polen zusicherten, welche auf Anrathen der Fürsten die besiegten Franzosen, Belgier und Holländer damals erhielten. Nur den siegenden guten Deutschen will sie H. v. Gentz zum Lohne ihrer höchsten Treue und Gutmüthigkeit nun hintennach mit Verdrehung des Fürstenworts und mit täuschenden Phantasmagorien wieder entziehen, und sie in Feudalstände oder Postulatenlandtage verwandeln, die schlechter sind, als gar keine Stände und Landtage!

Grundfalsch ist es ferner, daß, „so lange es eine deutsche Sprache und Geschichte gibt“, die gemeinschaftliche Handhabung der Bürger- oder Freiheits-Rechte, am Reich und durch die landständische Verfassung der einzelnen deutschen Länder, deren Wiederherstellung die Fürsten verheißen und demgemäß in der Bundesacte garantirt hatten, nur in den Feudalständen des Hrn. von Gentz bestanden. Seine Landstände bestehen nämlich nur in den völlig veralteten und in morsche Trümmer versunkenen späteren Feudalständen der Prälaten, Ritter und Städte. Dieses ist nach ihm die Verfassung, „welche unmittelbar Gott selbst machte“, die aus den besonderen Corporationsrechten der Stände hervorgegangen ist, und welche ausschließlich nur diese, keineswegs aber alle Bürger, oder das ganze Land und Volk und ihre Rechte und Interessen vertreten sollte!“

Die älteren deutschen Landstände sollen nach ihm einen absoluten Gegensatz bilden gegen die Repräsentations-Verfassungen, gegen ihre wenigstens theilweise staatsbürgerlichen Wahlen, und gegen ihre Vertretung des ganzen Reiches oder Landes oder seiner staatsbürgerlichen Gesammtheit, gegen ihre angebliche Entstehung nur durch Gewalt und Willkühr, und gegen ihre und aller Staatsgrundverträge, unmonarchische und zerstörende Folgen.

Vielmehr aber gingen alle deutschen reichs- und landständischen Verfassungen, alle Reichs- und Landtage oder Reichs- und Landstände hervor aus den altgermanischen, vertragsmäßigen Friedensgenossenschaften oder Gesammtbürgschaften aller Freien für Freiheit und Eigenthum, aus ihrer gemeinschaftlichen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Vertheidigung (s. oben S. 16 ff.). Die deutschen Landstände insbesondere gingen hervor aus denselben Genossenschaften in den einzelnen Gauen oder Grafschaften, Herzogthümern, Provinzen oder Ländern, welche ursprünglich selbstständiger waren, sich später als Unterabtheilungen des Reiches demselben unterordneten und mit Ausbildung der Landeshoheit, und vollends mit Verwandlung des Reiches in einen Bund wieder selbstständiger wurden.

Der wahre historische und juristische Kern und die Wesenheit der deutschen Freiheitsrechte und des deutschen Rechtszustandes bestand von jeher in jenen obigen Rechten aller freien Bürger, der Nation oder des Reiches und der Gau- und Provinzgenossenschaft der Landesgemeinde oder des Landes, in der freien rechtlichen Persönlichkeit des Ganzen und der Glieder, in ihrer freien Berathung und Bewilligung ihrer Rechtsverhältnisse, insbesondere auch ihrer Abgaben und Gesetze.

Diese Rechte übten bei allen germanischen Völkern, namentlich auch in Deutschland, früher gewöhnlich alle Freien in den Provinz- und Gau- und Zehntversammlungen unmittelbar selbst aus. So geschah es auch in Deutschland, selbst in späteren Zeiten noch vielfach in den freien Gerichten oder Aemtern, z. B. in den sächsischen und friesischen Ländern, in Tyrol und auch in den Städten.[1]

Sie übten sie aber auch schon frühe häufig durch Repräsentation aus, und zwar durch freigewählte Repräsentanten, wie die Schöffen in den Volksgerichten, wie die Repräsentanten auf den altsächsischen Landtagen oder auch wie die der freien Männer, welche sich bei hereinbrechendem Faustrecht einem Schutzherren anvertrauten und die nun, wie schon das uralte Ripuarische Gesetz (de homine ingenue repraesentando) ausdrückt, von ihm in Beziehung auf die Volksgemeinde repräsentirt wurden. Dagegen handhabten auch sie ihre Rechtsverhältnisse gegen die Schutzherren und untereinander, unmittelbar selbst in freien Hof- und Männer- und Bauernsprachen und Genossenschaften, in völliger vertragsmäßiger Weise.[2]

Die Noth und die Gewalt des Faustrechts und der Feudalanarchie vermehrten nun zwar allerdings die Privatschutzverbindungen, gaben ihnen selbst eine erbliche Dauer und verminderten daher die unmittelbaren Theilnehmer in den Reichs- wie in den Provinz- oder Landesversammlungen. Sie veranlaßten auch jene unmittelbaren Theilnehmer so wie überhaupt die Staatsbewohner zu gemeinschaftlicher Schützung und Ausübung ihrer Rechte in neue Genossenschaften zu treten, welche sich zum Theil zu corporativen Ständen ausbildeten, und sich solchergestalt durch ihre Einigungen, durch besondere Lebensbeschäftigungen und besondere Rechte in der Gesellschaft unterschieden. So unterschieden sich die Unmittelbaren und die Hintersäßigen, die freien und unfreien Bauern, die Städter, die Zünfte, Ministerialen, Vasallen, Ritter, Doctoren, Prälaten, Grafen und Fürsten. Allein bei einer allmählig reisenden höheren Cultur erwachte wiederum das Bedürfniß, die alten nationalen Freiheitsrechte wieder vollständiger und in einer freien Gestalt des staatlichen Gemeinwesens auszuüben. Und gerade dieses Bedürfniß und die ächten historischen deutschen Rechtsgrundsätze zerstörten so die vorübergehenden Erscheinungen des Faustrechts, der Feudal-Anarchie und Despotie, die Hintersäßigkeit, die kastenmäßige Ständeabsonderung und auch die in dieser Uebergangsperiode vorübergehend zuweilen auf den Ruinen der alten Feudalfomen entstandene fürstliche Schrankenlosigkeit. Jenes Faustrecht und sein Wesen, die aristokratische Feudal-Anarchie und Despotie – die Vorrechte jenes Feudaladels, welcher in allen germanischen Staaten mehr als alle übrigen Stände zusammengenommen nicht blos die Bürger bedrückte, sondern Kaiser, Könige und Fürsten entthronte und ermordete, dies will jetzt Herr v. Gentz, der scharfsinnige Berather und Protokollführer der fürstlichen Congresse, als unmittelbar von Gott selbst gegründet darstellen! Er will, daß die menschliche Macht sie, nachdem sie von der Geschichte und von der durch göttlichen Geist geleiteten freien Bestrebung der gesitteten Nationen überwunden worden, wiederherstellen! [sic]

Völlig unwahr, eben so unhistorisch als unjuristisch sind auch alle weiteren, zu Gunsten der Restauration veralteter Standesunterschiede und Privilegien und gegen die zeitgemäße freie Staatsentwicklung und land- und reichsständische Repräsentation, aus jener verschwundenen Uebergangsperiode entnommenen Argumente.

Unrichtig ist es, daß auch nur im Mittelalter der Wirklichkeit und vollends dem Grundsatz nach die deutschen Reichs- und Landstände, in einem wahren absoluten Gegensatz von einer wirklichen Reichs- und Landesrepräsentation, nur blos aus den besonderen Ständen der Gesellschaft, Geistlichkeit, Adel, Städte hervorgegangen, und daß sie ausschließlich als ihre oder ihrer eigenen Stände, Rechte und Interessen vertretend, an den öffentlichen Verhandlungen der Landesangelegenheiten Theil genommen hätten.

Vielmehr beruhten anerkannt und auch nach dem berühmten, von den Landesherren für sich angerufenen Rechtssprichwort: „dasselbe was der Kaiser im Reich vermag, dasselbe vermag der Fürst im Land“, die landständischen Verfassungen ganz auf denselben Rechtsgrundlagen wie die reichsständische Verfassung. Beide beruhten ganz auf denselben altdeutschen Rechten der Freien (s. oben S. 16 ff.). Die gemeinschaftliche höhere Reichsverfassung wurde daher um so natürlicher und organischer der Grundtypus für die Landesverfassung. Kein Mensch aber, der auch nur den hundertsten Theil aller deutschen reichs- und landständischen Grundverträge und reichs- und landständischen Verhandlungen mit eignen Augen ansah, wird als ehrlicher Mann folgende Sätze läugnen können:

Der erste besteht in dem repräsentativen Charakter auch der früheren germanischen und deutschen Stände. Er besteht darin, daß die Reichs- und Landstände als Vertreter des ganzen Vaterlandes,der deutschen Nation“ „des Reiches“ „des lieben deutschen Vaterlandes“ oder des besonderen „baierischen, würtembergischen Landes“, auftraten und sprachen, daß sie sich den Regenten wählten und zwar in vielen Ländern, z. B. in Holstein, Lauenburg, Böhmen noch sehr spät, bei den Kaisern, und bei dem Aussterben der mitgewählten Erben stets, daß sie die Succession bestätigten, oder zwischen den um die Succession Streitenden entschieden, Landesgrundverträge abschlossen und änderten, Landes-Beschwerden vorbrachten und wie es so oftmals heißt: „Recht und Wohl aller Einwohner dieses Landes“ oder „Alle, sie seien edel oder unedel, Bürger oder Bauer“ zu vertheidigen schwuren, oder sich berechtigt und verpflichtet erklärten, daß sie den Landesherrn wegen Verletzung der Grundverträge und wegen eines Mißbrauchs der Regierungsgewalt oder der Landeshoheit bei den Reichsgerichten verklagten; daß sie endlich auch oftmals geradezu Repräsentanten, so z. B. die altwürtembergischen Landstände das corpus repraesentativum des Landes, genannt wurden.[3]

Der zweite Grundsatz besteht in der nun anerkannten grundvertragsmäßigen Rechtsgrundlage und Bestimmung der Regierungs- wie der landständischen und Unterthanenrechte. Diese nicht blos in allen deutschen reichs- und landständischen, sondern allen germanischen Verfassungsgesetzen klar ausgesprochene juristische Vertragsgrundlage, den Vertrag selbst da wo vielleicht die erste factische Entstehung auf Gewalt beruht hatte, oder wo auch die religiöse Weihe und das von Gottes Gnaden hochgehalten wurde – diese kann vollends Niemand läugnen, der nur irgend als competent erscheinen will, über germanische und deutsche Geschichte und staatsrechtliche Verhältnisse auch nur mitzureden. Nur erst in unserer neuesten Zeit haben einige mißverständliche Auffassungen der Vertragsgrundlage die Unwissenden und auch einige Schriftsteller irre geführt. Doch haben auch jetzt meißt nur schwärmerische Träumer jene allgemeinste urkundliche Wahrheit aller germanischen und deutschen, ja aller freien Völker der Erde abläugnen wollen.[4]

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Anmerkungen

[1] S. die urkundlichen Beweise im Artikel Landesstaatsrecht im Staatslexikon.
[2] S. den Art. Allodium im Staatslexikon.
[3] S. d. urkundlichen Beweise in der Abhandlung deutsches Landesstaatsrecht im Staatslexikon.
[4] S. d. Beweise Art. Grundvertrag im Staatslexikon und oben S. 16 ff.

Quelle: Johann Ludwig Klüber und Karl Welcker, Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation mit eigenhändigen Anmerkungen von Johann Ludwig Klüber, Aus dessen Papieren mitgetheilt und erläutert von C. Welcker. Mannheim: Verlag von Friedrich Bassermann, 1844, S. 230–36. Online verfügbar unter: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10559817-5