Quelle
I. Leopold von Ranke, Vorrede zu Geschichten der romanischen und germanischen Völker (1824)
Gegenwärtiges Buch kam mir freilich, wie ich nur bekennen will, ehe es gedruckt ward, vollkommener vor, als nun, nachdem es gedruckt ist. Indessen rechne ich auf geneigte Leser, die weniger auf seine Mängel, als auf seine etwaigen Tugenden aufmerksam sind. Um es nicht ganz seiner eigenen Wirkung anzuvertrauen, will ich nicht versäumen, eine kurze Erläuterung über seine Absicht, seinen Stoff und seine Form vorauszuschicken.
Die Absicht eines Historikers hängt von seiner Ansicht ab; von dieser ist hier zweierlei zu sagen. Zuvörderst, daß ihr die romanischen und germanischen Nationen als eine Einheit erscheinen. Sie entschlägt sich drei analoger Begriffe: des Begriffes einer allgemeinen Christenheit (dieser würde selbst die Armenier umfassen); des Begriffes von der Einheit Europa’s: denn da die Türken Asiaten sind, und da das russische Reich den ganzen Norden von Asien begreift, könnte ihre Lage nicht ohne ein Durchdringen und Hereinziehen der gesammten asiatischen Verhältnisse gründlich verstanden werden; endlich auch des analogsten, des Begriffes einer lateinischen Christenheit: slavische, lettische, magyarische Stämme, welche zu derselben gehören, haben eine eigenthümliche und besondere Natur, welche hier nicht inbegriffen wird. Der Autor bleibt, indem er das Fremde, nur wo es sein muß, als ein Untergeordnetes und im Vorübergehen berührt, in der Nähe bei den stammverwandten Nationen entweder rein germanischer oder germanisch-romanischer Abkunft, deren Geschichte der Kern aller neueren Geschichte ist, stehen. In der folgenden Einleitung soll versucht werden, hauptsächlich an dem Faden der äußeren Unternehmungen ins Licht zu setzen, inwiefern diese Völker sich in Einheit und gleichartiger Bewegung entwickelt haben. Das ist die eine Seite der Ansicht, auf welcher gegenwärtiges Buch beruht; nun die andere, die sich durch den Inhalt desselben unmittelbar ausspricht. Es umfaßt nur einen kleinen Theil der Geschichte dieser Nationen, den man wohl auch den Anfang der neueren nennen könnte; nur Geschichten, nicht die Geschichte; es begreift einerseits die Gründung der spanischen Monarchie, den Untergang der italienischen Freiheit, andererseits die Bildung einer zwiefachen Opposition, einer politischen durch die Franzosen, einer kirchlichen durch die Reformation, genug jene Spaltung unserer Nationen in zwei feindselige Theile, auf welcher alle neue Historie beruht. Es geht von dem Zeitpunkt aus, wo Italien in sich geeinigt wenigstens äußere Freiheit genoß und vielleicht selbst herrschend genannt werden darf, da es den Papst giebt; die Spaltung desselben, das Eindringen der Franzosen und der Spanier, den Untergang in einigen Staaten aller Freiheit, in anderen der Selbstbestimmung, endlich den Sieg der Spanier und den Anfang ihrer Herrschaft sucht es darzustellen. Ferner fängt es von der politischen Nichtigkeit der spanischen Königreiche an, und geht zu ihrer Vereinung, zu der Richtung der Vereinten wider die Ungläubigen und nach dem Innern der Christenheit fort; es sucht deutlich zu machen, wie aus jener die Entdeckung von Amerika und die Eroberung großer Königreiche daselbst, doch vor allem, wie aus dieser die spanische Herrschaft über Italien, Deutschland und die Niederlande hervorgegangen. Drittens geht es von der Zeit, wo Karl VIII. als ein Vorkämpfer der Christenheit wider die Türken auszieht, durch alles wechselnde Glück und Unglück der Franzosen bis zu der fort, wo Franz I. 41 Jahre später eben diese Türken wider den Kaiser zu Hülfe ruft. Indem es endlich den Gegensatz einer politischen Partei in Deutschland wider den Kaiser und einer kirchlichen in Europa wider den Papst in ihren Anfängen verfolgt, sucht es den Weg zu einer vollständigeren Einsicht in die Geschichte der großen Spaltung durch die Reformation zu bahnen. Diese Spaltung selbst soll in ihrem ersten Gang betrachtet werden. Alle diese und die übrigen hiemit zusammenhängenden Geschichten der romanischen und germanischen Nationen sucht nun dies Buch in ihrer Einheit zu ergreifen. Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen.
Woher aber konnte dies neu erforscht werden? Die Grundlage vorliegender Schrift, der Ursprung ihres Stoffes sind Memoiren, Tagebücher, Briefe, Gesandtschaftsberichte und ursprüngliche Erzählungen der Augenzeugen; andere Schriften nur alsdann, wo sie entweder aus jenen unmittelbar abgeleitet, oder durch irgend eine originale Kenntniß ihnen gleich geworden schienen. Jede Seite zeigt an, welches diese Werke gewesen; die Art der Forschung und die kritischen Resultate wird ein zweites Buch vorlegen, das mit gegenwärtigem zugleich ausgegeben wird.
Aus Absicht und Stoff entsteht die Form. Man kann von einer Historie nicht die freie Entfaltung fordern, welche wenigstens die Theorie in einem poetischen Werke sucht, und ich weiß nicht, ob man eine solche mit Recht in den Werken griechischer und römischer Meister gefunden zu haben glaubt. Strenge Darstellung der Thatsache, wie bedingt und unschön sie auch sei, ist ohne Zweifel das oberste Gesetz. Ein zweites war mir die Entwickelung der Einheit und des Fortgangs der Begebenheiten. Statt daher, wie erwartet werden kann, eine allgemeine Darstellung der öffentlichen Verhältnisse Europa’s vorauszuschicken, was den Gesichtspunkt wenn nicht verwirrt, doch zerstreut haben würde, habe ich vorgezogen, von jedem Volk, jeder Macht, jedem Einzelnen, wie sie gewesen, erst dann ausführlicher zu zeigen, wenn sie vorzüglich thätig oder leitend eintreten: unbekümmert darüber — denn wie hätte ihre Existenz immer unberührt bleiben können? — daß schon vorher hie und da ihrer gedacht werden mußte. Hiedurch konnte wenigstens die Linie, die sie im allgemeinen halten, die Straße, die sie nehmen, der Gedanke, der sie bewegt, desto besser gefaßt werden.
Endlich, was wird man von der Behandlung im Einzelnen sagen, einem so wesentlichen Stück historischer Arbeiten? Wird sie nicht oft hart, abgebrochen, farblos, ermüdend erscheinen? Es giebt für dieselbe edle Muster, alte und — man verkenne es nicht — auch neue; doch habe ich sie nicht nachzuahmen gewagt: ihre Welt war eine andere. Es giebt für sie ein erhabenes Ideal: das ist die Begebenheit selbst in ihrer menschlichen Faßlichkeit, ihrer Einheit, ihrer Fülle; ihr wäre beizukommen: ich weiß, wie weit ich davon entfernt geblieben. Man bemüht sich, man strebt, am Ende hat man’s nicht erreicht. Daß nur niemand darüber ungeduldig werde! Die Hauptsache ist immer, wovon wir handeln, wie Jakobi sagt, Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich: das Leben des Einzelnen, der Geschlechter, der Völker, zuweilen die Hand Gottes über ihnen.
II. Notizen über Geschichte und Philosophie, Auszug aus Weltgeschichte (1881-88)
[…]
„Es ist oft,“ so heißt es daselbst, „ein gewisser Widerstreit einer unreifen Philosophie mit der Historie bemerkt worden. Aus apriorischen Gedanken hat man auf das geschlossen, was da sein müsse. Ohne zu bemerken, daß jene Gedanken vielen Zweifeln ausgesetzt seien, ist man daran gegangen, sie in der Historie der Welt wiederzusuchen. Aus der unendlichen Menge der Thatsachen hat man alsdann diejenigen ausgewählt, welche jene zu beglaubigen schienen. Dies hat man wohl auch Philosophie der Geschichte genannt. Einer von den Gedanken, mit welchen die Philosophie der Historie als mit unabweislichen Forderungen immer wiederkehrt, ist, daß das Menschengeschlecht in einem ununterbrochenen Fortschritt, in einer stetigen Ausbildung zur Vollkommenheit begriffen sei. Fichte, einer der ersten Philosophen in diesem Fach, nimmt fünf Epochen an; wie er sagt, einen Weltplan: Vernunft durch Instinkt herrschend; Vernunft durch das Gesetz herrschend; Befreiung von der Autorität der Vernunft; Vernunftwissenschaft; Vernunftkunst — oder: Unschuld, anhebende Sünde, vollendete Sündhaftigkeit, anhebende, vollendete Rechtfertigung; Epochen, die in dem Leben eines Einzelnen vorkommen können. Wäre dies oder ein ähnliches Schema einigermaßen wahr, so würde die allgemeine Geschichte den Fortschritt zu verfolgen haben, den das Menschengeschlecht in der bezeichneten Richtung von dem einen Zeitalter zum anderen genommen; sie würde mit einer Entwicklung derartiger Begriffe in ihrer Erscheinung, in ihrer Darstellung auf der Welt ihr ganzes Gebiet erfüllen. Doch ist dem bei weitem nicht so. Einmal nämlich sind die Philosophen selbst über die Art und Auslese jener angeblich herrschenden Ideen außerordentlich verschiedener Meinung. Sodann aber fassen sie wohlweislich nur einige wenige Völker der Weltgeschichte ins Auge, während sie das Leben aller übrigen für ein Nichts, gleichsam eine bloße Zugabe erachten. Sonst könnte keinen Augenblick verborgen sein, daß die Völker der Welt von Anfang an bis auf den heutigen Tag in dem allerverschiedensten Zustande gewesen sind.
Menschliche Dinge kennen zu lernen, giebt es eben zwei Wege: den der Erkenntniß des Einzelnen und den der Abstraktion; der eine ist der Weg der Philosophie, der andere der der Geschichte. Einen anderen Weg giebt es nicht, und selbst die Offenbarung begreift beides in sich: abstrakte Sätze und Historie. Diese beiden Erkenntnißquellen sind also wohl zu scheiden. Demohnerachtet irren auch diejenigen Historiker, welche die ganze Historie lediglich als ein ungeheures Aggregat von Thatsachen ansehen, das man ins Gedächtniß zu fassen sich das Verdienst erwerben müsse; wodurch geschieht, daß Einzelnes an Einzelnes gehängt und nur durch eine allgemeine Moral zusammengehalten wird. Ich bin vielmehr der Meinung, daß die Geschichtswissenschaft in ihrer Vollendung an sich selbst dazu berufen und befähigt sei, sich von der Erforschung und Betrachtung des Einzelnen auf ihrem eigenen Wege zu einer allgemeinen Ansicht der Begebenheiten, zur Erkenntniß ihres objektiv vorhandenen Zusammenhanges zu erheben.
Um den wahren Historiker zu bilden, sind meines Bedünkens zwei Eigenschaften erforderlich: erstlich eine Theilnahme und Freude an dem Einzelnen an und für sich. Hat man eine wirkliche Neigung zu dem Geschlecht dieser vielgestaltigen Geschöpfe, aus welchem wir selber sind, zu diesem Wesen, das immer das alte und immer wieder ein anderes, das so gut und so bös, so edelgeistig und so thierisch, so gebildet und so roh, so sehr auf das Ewige gerichtet und dem Augenblick unterworfen, das so glücklich und so unselig, mit Wenigem befriedigt und voll Begier nach Allem: hat man Neigung zu der lebendigen Erscheinung des Menschen schlechthin, so wird man ohne allen Bezug auf den Fortgang der Dinge sich daran erfreuen, wie er allezeit zu leben gesucht; man wird mit Aufmerksamkeit die Tugenden, denen er nachgetrachtet, die Mängel, die an ihm zu spüren, sein Glück und Unglück, die Entwicklung seiner Natur unter so mannigfaltigen Bedingungen, seine Institutionen und Sitten, und um alles zu fassen, auch die Könige, unter denen die Geschlechter gelebt, die Reihenfolge der Begebenheiten, die Entwicklung der Hauptunternehmungen zu verfolgen suchen — alles ohne weiteren Zweck, bloß aus Freude an dem einzelnen Leben; so wie man sich der Blumen erfreut, ohne daran zu denken, in welche Klasse des Linnäus, oder zu welcher Ordnung und Sippe Oken’s sie gehören; genug: ohne daran zu denken, wie das Ganze in dem Einzelnen erscheint.
Indessen ist es damit nicht gethan; es ist nothwendig, daß der Historiker sein Auge für das Allgemeine offen habe. Er wird es sich nicht vorher ausdenken, wie der Philosoph; sondern während der Betrachtung des Einzelnen wird sich ihm der Gang zeigen, den die Entwicklung der Welt im Allgemeinen genommen. Diese Entwicklung aber bezieht sich nicht auf allgemeine Begriffe, die in diesem oder jenem Zeitalter vorgeherrscht hätten, sondern auf ganz andere Dinge. Es ist auf der Erde kein Volk, das ohne Berührung mit anderen geblieben wäre. Dieses Verhältniß, welches von der ihm eigenthümlichen Natur abhängt, ist es, in welches es zur Weltgeschichte tritt, und welches in der allgemeinen Historie hervorgehoben werden muß. Nun sind einige Völker vor den anderen auf dem Erdboden mit Macht ausgerüstet gewesen; sie vor allen haben eine Wirkung auf die übrigen ausgeübt. Von diesen also werden vornehmlich die Umwandlungen herrühren, welche die Welt zum Guten oder zum Bösen erfahren hat. Nicht auf die Begriffe demnach, welche einigen geherrscht zu haben scheinen, sondern auf die Völker selbst, welche in der Historie thätig hervorgetreten sind, ist unser Augenmerk zu richten; auf den Einfluß, den sie auf einander, auf die Kämpfe, die sie mit einander gehabt; auf die Entwicklung, welche sie inmitten dieser friedlichen oder kriegerischen Beziehungen genommen. Denn unendlich falsch wäre es, in den Kämpfen historischer Mächte nur das Wirken brutaler Kräfte zu suchen und somit einzig das Vergehende der Erscheinung zu erfassen: kein Staat hat jemals bestanden ohne eine geistige Grundlage und einen geistigen Inhalt. In der Macht an sich erscheint ein geistiges Wesen, ein ursprünglicher Genius, der sein eigenes Leben hat, mehr oder minder eigenthümliche Bedingungen erfüllt und sich einen Wirkungskreis bildet. Das Geschäft der Historie ist die Wahrnehmung dieses Lebens, welches sich nicht durch Einen Gedanken, Ein Wort bezeichnen läßt: der in der Welt erscheinende Geist ist nicht so begriffsgemäßer Natur: alle Grenzen seines Daseins füllt er aus mit seiner Gegenwart; nichts ist zufällig in ihm, seine Erscheinung ist in allem begründet.“
[…]
III. Auszug aus Rankes Vorlesungen zur Weltgeschichte (1854)
ERSTER VORTRAG VOM 25. SEPTEMBER 1854
Einleitung (Ausgangspunkt und Hauptbegriffe)
Zum Behufe der gegenwärtigen Vorträge ist es vor allem nötig, sich über zweierlei zu verständigen: 1. über den Ausgangspunkt, den man dabei zu nehmen haben wird, 2. über die Hauptbegriffe. Was den Ausgangspunkt für diese Vorträge betrifft, so würde es uns für den vorliegenden Zweck viel zu weit führen, wenn wir uns mit der Anschauung in ganz entfernte Zeiten, in ganz abgelegene Zustände versetzen wollten, welche zwar immer noch einen Einfluß auf die Gegenwart ausüben, aber nur einen indirekten. Wir werden also, um uns nicht ins rein Historische zu verlieren, von der römischen Zeit ausgehen, in welcher eine Kombination der verschiedensten Momente zu finden ist.
Hiernächst haben wir uns zu verständigen: 1. über den Begriff des Fortschrittes im allgemeinen; 2. über das, was man im Zusammenhang damit unter „leitenden Ideen“ zu verstehen habe.
1. Wie der Begriff „Fortschritt“ in der Geschichte aufzufassen sei
Wollte man mit manchen Philosophen annehmen, daß die ganze Menschheit sich von einem gegebenen Urzustande zu einem positiven Ziel fortentwickelte, so könnte man sich dieses auf zweierlei Weise vorstellen: entweder, daß ein allgemein leitender Wille die Entwickelung des Menschengeschlechtes von einem Punkt nach dem anderen förderte, oder daß in der Menschheit gleichsam ein Zug der geistigen Natur liege, welcher die Dinge mit Notwendigkeit nach einem bestimmten Ziel hintreibt. Ich möchte diese beiden Ansichten weder für philosophisch haltbar noch für historisch nachweisbar halten. Philosophisch kann man diesen Gesichtspunkt nicht für annehmbar erklären, weil er im ersten Fall die menschliche Freiheit geradezu aufhebt und die Menschen zu willenlosen Werkzeugen stempelt, und weil im anderen Falle die Menschen geradezu entweder Gott oder gar nichts sein müßten.
Auch historisch sind diese Ansichten nicht nachweisbar. Denn fürs erste findet sich der größte Teil der Menschheit noch im Urzustande, im Ausgangspunkt selbst. Und dann fragt es sich: was ist Fortschritt? Wo ist der Fortschritt der Menschheit zu bemerken? — Es gibt Elemente der großen historischen Entwickelung, die sich in der römischen und germanischen Nation fixiert haben. Hier gibt es allerdings eine von Stufe zu Stufe sich entwickelnde geistige Macht. Es ist in der ganzen Geschichte eine gleichsam historische Macht des menschlichen Geistes nicht zu verkennen. Das ist eine in der Urzeit gegründete Bewegung, die sich mit einer gewissen Stetigkeit fortsetzt. Allein, es gibt in der Menschheit doch nur ein System von Bevölkerungen, welche an der allgemein historischen Bewegung teilnehmen, und andere, die davon ausgeschlossen sind. Wir können aber im allgemeinen die in der historischen Bewegung begriffenen Nationalitäten nicht als im stetigen Fortschritt befindlich ansehen.
Wenden wir zum Beispiel unser Augenmerk auf Asien, so sehen wir, daß dort die Kultur entsprungen ist und daß dieser Weltteil mehrere Kulturepochen gehabt hat. Allein, dort ist die Bewegung eine mehr rückgängige gewesen. Denn die älteste Epoche der asiatischen Kultur war die blühendste, die zweite und dritte Epoche aber, in welcher das griechische und römische Element dominierte, war schon nicht mehr so bedeutend, und mit dem Einbrechen der Barbaren (Mongolen) fand die Kultur in Asien vollends ein Ende. Geographisch kann also dieser Begriff nicht festgestellt werden, und ich muß mich von vornherein dagegen erklären, wenn man behauptet, wie zum Beispiel Peter der Große, die Kultur mache die Runde um den Erdball, sie sei vom Osten gekommen und kehre dahin wieder zurück.
Fürs zweite ist hierbei ein anderer Irrtum zu vermeiden, nämlich der, als ob die fortschreitende Entwickelung der Jahrhunderte zu gleicher Zeit alle Zweige des menschlichen Wissens und Könnens umfaßte. Die Geschichte zeigt uns, um beispielsweise nur ein Moment hervorzuheben, daß in der neueren Zeit die Kunst im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts am meisten geblüht hat; dagegen ist sie aber am Ende des 17. und in den ersten drei Vierteln des 18. Jahrhunderts am meisten heruntergekommen. Geradeso verhält es sich mit der Poesie. Auch hier sind es nur Momente, wo diese Kunst wirklich hervortritt. Es zeigt sich aber nicht, daß sich dieselbe im Laufe der Jahrhunderte zu einer höheren Potenz steigert.
Wenn wir somit das geographische Element ausschließen, wenn wir annehmen müssen, wie uns die Geschichte lehrt, daß Völker zugrunde gehen können, bei denen die Entwickelung nicht stetig alles umfaßt, so haben wir gefunden, worin die fortdauernde Bewegung der Menschheit besteht.
Sie beruht darauf, daß die großen geistigen Tendenzen, welche die Menschheit beherrschen, sich bald auseinanderheben, bald aneinanderreihen. In diesen Tendenzen ist aber immer eine bestimmte partikuläre Richtung, welche vorwiegt und bewirkt, daß die übrigen zurücktreten. – So war zum Beispiel in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts das religiöse Element so überwiegend, daß das literarische vor demselben zurücktrat. Im 18. Jahrhundert hingegen gewann das Utilisierungsbestreben ein solches Terrain, daß vor diesem die Kunst und die Literatur weichen mußten.
In jeder Epoche der Menschheit äußert sich also eine bestimmte große Tendenz, und der Fortschritt beruht darauf, daß eine gewisse Bewegung des menschlichen Geistes in jeder Periode sich darstellt, welche bald die eine, bald die andere Tendenz hervorhebt und in derselben sich eigentümlich manifestiert.
Wollte man im Widerspruch mit der hier geäußerten Ansicht annehmen, dieser Fortschritt bestehe darin, daß in jeder Epoche das Leben der Menschheit sich höher potenziert, daß also jede Generation die vorhergehende vollkommen übertreffe, mithin die letzte die bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der nachfolgenden wären, so würde das eine Ungerechtigkeit der Gottheit sein. Eine solche gleichsam mediatisierte Generation würde an und für sich eine Bedeutung nicht haben. Sie würde nur insofern etwas bedeuten, als sie die Stufe der nachfolgenden Generation ist und würde nicht in unmittelbarem Bezug zum Göttlichen stehen. Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst. Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie, einen ganz eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden muß und der Betrachtung höchst würdig erscheint.
Der Historiker hat also sein Hauptaugenmerk erstens darauf zu richten, wie die Menschen in einer bestimmten Periode gedacht und gelebt haben, und dann findet er, daß, abgesehen von gewissen unwandelbaren ewigen Hauptideen, zum Beispiel den moralischen, jede Epoche ihre besondere Tendenz und ihr eigenes Ideal hat. Wenn nun aber auch jede Epoche an und für sich ihre Berechtigung und ihren Wert hat, so darf doch nicht übersehen werden, was aus ihr hervorging. Der Historiker hat also fürs zweite auch den Unterschied zwischen den einzelnen Epochen wahrzunehmen, um die innere Notwendigkeit der Aufeinanderfolge zu betrachten. Ein gewisser Fortschritt ist hierbei nicht zu verkennen. Aber ich möchte nicht behaupten, daß sich derselbe in einer geraden Linie bewegt, sondern mehr wie ein Strom, der sich auf seine eigene Weise den Weg bahnt. Die Gottheit – wenn ich diese Bemerkung wagen darf – denke ich mir so, daß sie, da ja keine Zeit vor ihr liegt, die ganze historische Menschheit in ihrer Gesamtheit überschaut und gleich wert findet. Die Idee von der Erziehung des Menschengeschlechtes hat allerdings etwas Wahres an sich, aber vor Gott erscheinen alle Generationen der Menschheit als gleich berechtigt, und so muß auch der Historiker die Sache ansehen.
2. Was von der sogenannten leitenden Idee in der Geschichte zu halten sei
Die Philosophen, namentlich aber die Hegelsche Schule, haben hierüber gewisse Ideen aufgestellt, wonach die Geschichte der Menschheit wie ein logischer Prozeß in Satz, Gegensatz, Vermittelung, in Positivem und Negativem sich abspinnt. In der Scholastik aber geht das Leben unter, und so würde auch diese Anschauung von der Geschichte, dieser Prozeß des sich selbst nach verschiedenen logischen Kategorien entwickelnden Geistes auf das zurückführen, was wir oben bereits verwarfen.
Nach dieser Ansicht würde bloß die Idee ein selbständiges Leben haben. Alle Menschen aber wären bloß Schatten oder Schemen, welche sich mit der Idee erfüllten. Der Lehre, wonach der Weltgeist die Dinge gleichsam durch Betrug hervorbringt und sich der menschlichen Leidenschaften bedient, um seine Zwecke zu erreichen, liegt eine höchst unwürdige Vorstellung von Gott und der Menschheit zugrunde; sie kann auch konsequent nur zum Pantheismus führen. Die Menschheit ist dann der werdende Gott, der sich durch einen geistigen Prozeß, der in seiner Natur liegt, selbst gebiert.
Ich kann also die leitenden Ideen nicht anders bezeichnen, als daß sie die herrschenden Tendenzen in jedem Jahrhundert sind. Diese Tendenzen können indessen nur beschrieben, nicht aber in letzter Instanz in einem Begriff summiert werden. Sonst würden wir auf das oben Verworfene neuerdings zurückkommen.
Der Historiker hat nun die großen Tendenzen der Jahrhunderte auseinanderzunehmen und die große Geschichte der Menschheit aufzurollen, welche eben der Komplex dieser verschiedenen Tendenzen ist. Vom Standpunkt der göttlichen Idee kann ich mir die Sache nicht anders denken, als daß die Menschheit eine unendliche Mannigfaltigkeit von Entwickelungen in sich birgt, welche nach und nach zum Vorschein kommen, und zwar nach Gesetzen, die uns unbekannt sind, geheimnisvoller und größer, als man denkt.
Quelle: I. Leopold von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514. Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber. Dritte Auflage. Leipzig: Verlag von Duncker und Humblot, 1885, S. V–VIII; II. Weltgeschichte. Von Leopold von Ranke. Erste bis dritte Auflage, herausgegeben von Alfred Dove und Georg Winter. Band IX, Teil II. Leipzig: Verlag von Duncker & Humblot, 1888, S. VII–XI; III. Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Historisch-kritische Ausgabe, herausgegeben von Theodor Schieder und Helmut Berding. München und Wien: R. Oldenbourg Verlag, 1971, S. 53–67.