Kurzbeschreibung

Im Sprachgebrauch des 16. Jahrhunderts wurde der Begriff des Nikodemismus auf Personen angewandt, die sich öffentlich zur offiziellen Konfession bekannten, privat jedoch eine andere oder gar keine praktizierten. Manchmal wurden auch solche Personen dazugezählt, die zwar fromm waren, sich jedoch weigerten, zwischen den christlichen Konfessionen zu wählen. Der Nikodemismus ist nach Nikodemus benannt, einem Pharisäer und Mitglied der Sanhedrin, der Jesus eines Abends besuchte, um seine Lehre zu hören (Joh. 3:1–21). Die Zusammenhänge zwischen Verheimlichung, religiöser Gleichgültigkeit und organisiertem Widerstand wurden damals ebenso wenig verstanden wie heute. Mit Ausnahme einiger früher Fälle von Verfolgung klagten Lutheraner und Katholiken einander allgemein nicht wegen Ketzerei an. Die Hauptgruppe der in den deutschen Territorien als Ketzer verfolgten waren die von ihren Gegnern als Wiedertäufer bezeichneten. Schätzungen zufolge wurden etwa 1000 Wiedertäufer in den deutschen Gebieten hingerichtet (zahlreiche weitere wurden angeklagt und freigesprochen), der Großteil der Hinrichtungen fand dabei zwischen den späten 1520er Jahren und 1580 statt. Die Furcht vor den Wiedertäufern resultierte aus einer durch die Erfahrung des Bauernaufstandes von 1525 genährten allgemeinen kulturellen Tendenz, Häresie mit Revolte gleichzusetzen. Während die scharfe Verfolgung der Wiedertäufer ab Mitte der 1530er Jahre abzuflauen begann, wurde die Überwachung der Einhaltung religiöser Regeln strenger. In den deutschen Gebieten traf dies besonders auf solche Orte zu, an denen sowohl der lutherische als auch der katholische Glauben etabliert waren. In Augsburg, dem größten dieser Orte und einer der prächtigsten Städte des Reiches, schrieb der Augsburger Religionsfrieden die Duldung beider Konfessionen vor.

Die folgenden Textauszüge stammen aus dem Protokoll der Verhöre des Goldschmieds David Altenstetter (1547–1617), des Kürschners Martin Küehnle und dessen Sohn Potiphar durch den Augsburger Stadtrat. Sie verraten einiges über die Beweglichkeit konfessioneller Identität um 1600. Die drei Verhörten hatten durch ihren unregelmäßigen Kirchgang Aufmerksamkeit erregt und wurden verdächtigt, geheime Versammlungen der Widertäufer zu besuchen, wobei unbekannt ist, ob es in Augsburg zu diesem späten Zeitpunkt noch irgendwelche Anhaltspunkte für eine Aktivität dieser Sekte gab. Die Verdächtigten scheinen von der Lehre des Spiritualismus beeinflusst gewesen zu sein, möglicherweise durch Kaspar Schwenckfeld, obwohl Küehnle bestreitet, im Besitz von dessen Schriften zu sein. Altenstetter besaß eine katholische Bibel aus der Zeit vor der Reformation sowie einige Schriften spätmittelalterlicher Mystiker und Erasmus’ Kommentar zum Neuen Testament. Ihre eidesstattlichen Aussagen machen deutlich, dass sie zwischen den Konfessionen lebten, Elemente von beiden annahmen, sich jedoch nie ganz zu einer bekannten.

Die Textausschnitte zeigen außerdem, wie wichtig die formale Predigt für den Prozess der Konfessionalisierung war und inwiefern die Qualität er Predigt die Wahl der Konfession beeinflusste. Während ihr persönlicher Glaube durch die zahlreichen religiösen Dispute der Zeit erschüttert wurde, mussten sich diese Handwerker letztlich zu einer der offiziellen Konfessionen bekennen. Altenstetter trat formal der lutherischen Kirche bei, doch hatten diese Verhöre keinerlei Konsequenzen für ihn oder die anderen.

Leben zwischen den Konfessionen—Nicodemismus in Augsburg (1598)

Quelle

Actum Freitags den 4ten Decembris Ao 1598 [].

[Fragen an David Altenstetter]

[Frage:] Wie er haiße? von wannen? und wie allt Er seye?

[Antwort:] sagt er sej Burger alhie, seines Alters 48 Jar.

[F.:] Was sein thon sey, davon Er sich erhallte?

[A.:] Er seie seines Handwerks ein Goldschmied, dasselb treib Er.

[F.:] Was Religion Er seye, und zu was Confession Er sich bekhenne, solle Er mit Grundt und Wahrheit anzaigen?

[A.:] Er sej der Religion halben biß hero frej gewesen, dann ob er gleichwol an einem catholischen ort geborn, so sej er doch darnach inn Schweitz khommen, da die zwinglisch Lehr im Brauch. Nachdem er aber sich alhie her begeben, hab er underweilen die Predicanten der Augspurgischen Confession, underweilen auch die Catholische Prediger [] gehört. Sei doch weder der einen noch andern Religion aller dings anhängig, aber da er sich je zu einer bekennen solt, wolt er die catholisch annemen; müest doch zuvor nottürfftigen bericht darinn empfahen.

[F.:] Wie es khome, das Er vil Jar hero die Kirchen Augspurgischer Confession nit besuechet? und was er daran für mengel hab.

[A.:] Sagt wie ob. Sej underweilen in die Kirchen der Augspurgischen Confession, doch mehrertails in Domstifft gangen, in Ansehung die Catholisch Religion ime etwas anmuetiger sej und der Domprediger ime besser gefallen hab, denn die Predicanten der Augspurgischen Confession.

[F.:] Aus was Ursachen Er die Kirchen, Lehr und Ceremonien der Augspurgischen Confession, wie auch das hiesig Ministerium nit guet hallte, sondern verachte?

[A.:] Er laß die Kirchen, Lehr und Ceremonien der Augspurgischen Confession bei jrem werth und thun bleiben, wölle auch das hiesig Ministerium weder loben noch schelten. Sej biß hero der Religion halben frej gewesen [].

[F.:] Was Er von den Heyligen Sacramenten, sonderbar von der Tauff hallte?

[A.:] Diser Zeit und biß dz ime Gott ferner Gnad und Erkanntnus gibt, glaub er dz zway Sacramenten seien, nemblich der Tauf und Nachtmal, und sonderlich das das Sacrament der Tauf zu Erlangung der Seligkeit hoch von nötten – wie er dan dasselb Sacrament in seiner Jugent einmal und sonsten nie empfangen; dasselb auch, da ime unser Hergot Kinder beschert hett, an denselben nit wolt underlassen haben. Und in gemain so glaub er auch das die hailigen Sacramenten gehaimnussen Gottes seien.

[F.:] Weylen Er khain Kirchen, noch Predig besueche, was er dann an den Sonn: und Feyertägen thüe? oder wo Er Predigen höre?

[A.:] Sagt nochmal hierauf, wie hieoben beim dritten [Fragstück] gemelt. Aber whar sei es, das er an Son: und Feiertägen bißweilen weder die ein, noch andere Kirchen besuecht, sonder entweder dahaim blieben oder in: und ausser der Statt, nachdem er etwan geselschafft antroffen, spacirn gangen seie, welches dann zu Sommers Zeiten vil geschehen. []

[F.:] Ob man nit vil Jar hero, vasst alle Sonn: und Feyertäge in deß Alltenstetters Haus, auch bißweilen im Gärtlin [] morgens zwischen 7 und 8 Uhren zusamenkhomen und Altenstetter solche Conventicula und Zusamenkhonfften bißhero gehalten und gestattet?

[A.:] Er hab ainiche Conventicula oder Zusamen kunfften gefragter gestalt weder in seinem Hauß noch Gärtlin nie gehalten oder gestatet. []

[F.:] Ob Sy nit jerlich, im Aprilj oder Maio und im Herbst usser der Stat inn Höltzeren zusamen khomen und von den Baumen herab sonderbare Predigten hallten? wo es beschehe? und wer solches thüe?

[A.:] Er wiß von disem nichts [].

[Fragen an Martin Küenle]

[F.:] Was sein thon sey, davon Er sich erhallte?

[A.:] sagt er sei Burger alhie, seines Alter bej 65 Jarn. [] sei ein Kirschner, dessen behelf er sich.

[F.:] Was Religion Er seye []?

[A.:] Er sei underweilen in die Kirchen der Augspurgischen Confession, doch nit strengs gangen; und sei sonsten nit ohn, das er etwan dahaim Schwenckfeldische und Luterische Büecher gelesen, und hab auch etlich mal den jetzigen Domprediger Herrn Gregorium gehört. Und Meldet hiebei das Im die Schwenckfeldisch Lehr am besten gefallen, von wegen dieselb vor andern uf ein christlich Leben und Frömbkeit dringt [].

Actum Montags, den 7ten Decembris Ao. etc. 98

[Aus dem zweiten Verhör David Altenstetters]

[F.:] Man wisse, das Er den Grundt in allem nit angezaigt, darwegen soll Er es noch thon und mehrern Ernst nit verursachen. Weylen Er jungst selbsten bekhennt, das Er weder der catholischen Religion noch der Augspurgischen Confession allerdings zugethon seye, derowegen soll Er lautter anzaigenb, zu was Religion Er sich dann bekhenne?

[A.:] Nach Fürhaltung des ersten [Fragstücks] sagt er ufs ander, dieweil die Theologj der Catholischen Religion und Augspurgischen bißhero an einander zum hefftigisten zu wider, sei er weder dem einen, noch andern tail beigefallen, sonder sej gleichsam frej gewesen und hab dahaim zu Hauß aller hand christliche Büecher gelesen, als nemblich den Taulerum[1] Nachfolgung Christi[2], die Außlegung Erasmi uber dz new Testament und dann ein alte Bibel, welche vor 100 Jarn zu Nürnberg getruckt worden, daneben aber sei er underweilen in die catholische und bisßweilen auch in die luterische Kirche gangen [] und ob er gleichwol an dem ainen Ort sowol als an dem andern bißweilen gehört, das Jme nit gefallen, so sej doch nit ohn, das er offt in beiden Kirchen vil guets hab hören predigen []. Und ob er gleichwol verhof, man solt Jne noch so eilends weder zu der ainen noch andern Religionen auß obgemelten nit tringen, sonder Jme etwas Zeit lassen, damit er sonderlich den Herrn Gregorium etwas bessers hören kan und der Catholischen Religion halben der Sachen mit mehrerm nachgedencken kündt: Jedoch woher Jme solches abgeschlagen wurde, so müest er sich zu der Augspurgischen Confession bekhennen, auß Ursachen er bißhero jn der Catholischen Religion nit genugsamen Bericht hab. []

[Erneute Fragen an Martin Küenle]

[F.:] Weylen Er wisse, das alain 2 Religionen, die Catholisch und Augspurgisch Confession alhie zugelassen, deren khainer Er zuegethon, und doch jungst angezaigt, Er wisse von khainem Irrthumb darinnen Er sey, dowegen soll Er sein Confession oder Glauben lautter bekhennen.

[A.:] Der Schwenckfeldisch Glauben gefall Jme am besten.

[F.:] Man wisse [] das Er und seine mitglaubensgenossen, sonderbare Zusamenkhonfften an Feyr: und Sonntägen zwischen 7 und 8 Uhren morgens gehabt [].

[A.:] Er sej bei der gleichen Versamblungen nie gewesen, wiß auch von kainer zu sagen; und was in den Schwenckfeldischen Büchern und Schrifften gelesen, das hab er allain und in der Stille für sich selbsten verricht, und so gar auch sein Gesindt nit dazu gewisen, mit vermelden, das seine Leut und Ehehalten tails jn die catholisch (wie dann darunder sein Baß[3] sej) und tails in die luterisch Kirchen gehen. []

Anmerkungen

[1] 1 Johannes Tauler (Tauweler), um 1300–61; Dominikaner, Verfasser mystischer Predigten. Alle Fußnoten stammen aus: Bernd Roeck, Hrsg., Gegenreformation und Dreißigjähriger Krieg 1555-1648. Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, herausgegeben von Rainer A. Müller, Band 4. Stuttgart: P. Reclam, 1996, S. 105-09.
[2] 2 Das dem Thomas von Kempen (1379/80 –1471) zugeschriebene Werk De imitatione Christi.
[3] 3 Base

Quelle: Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Urgichtensammlung, 179; abgedruckt in Bernd Roeck, Hrsg., Gegenreformation und Dreißigjähriger Krieg 1555–1648. Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, herausgegeben von Rainer A. Müller, Band 4. Stuttgart: P. Reclam, 1996, S. 105–09.