Kurzbeschreibung

In einer Vorlage für das Politbüro werden dessen Mitglieder von Honeckers Besuch in der Bundesrepublik unterrichtet. In der abschließenden Wertung wird die historische internationale Bedeutung dieses Ereignisses herausgestellt und die Sachlichkeit der Berichterstattung in den westdeutschen Medien anerkannt.

Das Politbüro wird unterrichtet (15. September 1987)

Quelle

SED-Politbürovorlage vom 15. September 1987 über den offiziellen Besuch von Erich Honecker in der Bundesrepublik Deutschland vom 7. bis 11. September

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IV. Zusammenfassende Wertung:

1. Der erste offizielle Besuch des Genossen Erich Honecker in der BRD war ein bedeutender politischer Erfolg für die DDR, ein wichtiges Ergebnis ihrer Politik der Vernunft und des Realismus. Der Besuch ist das wichtigste Ereignis in den Beziehungen zwischen der DDR und der BRD seit Abschluß des Grundlagenvertrages. Er ist von weitreichender Wirkung und historischer Bedeutung. Neben dem Grundlagenvertrag und der Gemeinsamen Erklärung vom 12. März 1985 bildet das Gemeinsame Kommuniqué über den Besuch vom 8. September 1987 die Basis für die künftige Gestaltung der Beziehungen mit der BRD. Das Stattfinden des Besuches und die durchgesetzte politische und protokollarische Behandlung des Genossen Erich Honecker als Staatsoberhaupt eines anderen souveränen Staates dokumentierten vor aller Welt Unabhängigkeit und Gleichberechtigung beider deutscher Staaten, unterstrichen ihre Souveränität und den völkerrechtlichen Charakter ihrer Beziehungen. Damit wurde allen revanchistischen und „innerdeutschen“ Bestrebungen ein schwerer Schlag versetzt. Das konnten auch Äußerungen von Kohl und anderen über „Rechtspositionen“ und zur „Einheit der Nation“ nicht ändern.

Es ist bedeutungsvoll, daß gerade eine CDU/CSU-geführte Regierung gezwungen war, dem Besuch und seinem Ablauf in dieser Form zuzustimmen. Sie konnte nicht umhin, den Nachkriegsgegebenheiten in Europa und dem Willen der Mehrheit der BRD-Bevölkerung für Frieden, Entspannung und normale Beziehungen zur DDR Rechnung zu tragen.

Verlauf und Ergebnisse des Besuches des Genossen Erich Honecker widerspiegeln das gestiegene Ansehen der DDR, die Kraft ihrer Friedenspolitik und ihre gewachsene internationale Ausstrahlung.

2. Angesichts der komplizierten internationalen Lage hatten die Gespräche zwischen dem Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen Erich Honecker, und dem Bundeskanzler der BRD, Helmut Kohl, sowie anderen führenden Persönlichkeiten der BRD großes Gewicht, um den Frieden zu festigen und der Gefahr eines nuklearen Infernos entgegenzuwirken.

Ausgehend von der Rolle der BRD bei der Friedenssicherung in Europa war der Besuch ein bedeutungsvoller Schritt, um die BRD weiter an den Prozeß der friedlichen Koexistenz zu binden. Der Konfrontationspolitik der USA wurde entgegengewirkt. Dabei wurde an Interessenunterschiede der BRD gegenüber den USA angeknüpft. Damit leistete die DDR einen wichtigen Beitrag zur praktischen Umsetzung der Friedenspolitik der sozialistischen Staaten, insbesondere der bedeutsamen Initiativen von M. Gorbatschow und der Berliner Gipfelkonferenz des Warschauer Vertrages.

Der Besuch hatte herausragendes internationales Gewicht. Er ist ein bedeutungsvoller Beitrag zur Verbesserung des Klimas in Europa sowie zur weiteren Festigung der internationalen Stellung der DDR; er stärkt die DDR als gleichberechtigten Partner in den Beziehungen zu anderen kapitalistischen Industrieländern.

3. Durch sein offensives Auftreten leistete Genosse Erich Honecker einen entscheidenden Beitrag, um die Politik des sozialistischen deutschen Staates und der sozialistischen Staaten zu den Fragen des Friedens, der Abrüstung und Entspannung umfassend und überzeugend darzulegen, die Position realistisch eingestellter Kräfte innerhalb der herrschenden Kreise der BRD zu stärken, eine Koalition der Vernunft und des Realismus zu fördern und den Differenzierungsprozeß in der Regierungskoalition bis in die CDU/CSU hinein zu verstärken.

Die DKP, die Friedensbewegung und alle demokratischen, friedliebenden Kräfte in der BRD wurden unterstützt. Der Besuch hatte positive Wirkungen zur Unterstützung der Politik der SPD.

4. Genosse Erich Honecker stellte die gemeinsame Auffassung, wonach von deutschem Boden nie wieder Krieg, sondern stets nur Frieden ausgehen dürfe, in den Mittelpunkt des Besuches. Beiden deutschen Staaten erwachse die Verpflichtung, aktiv für Frieden, Abrüstung und Entspannung nach dem Prinzip der Gleichheit und gleichen Sicherheit einzutreten. Die DDR und die BRD müßten einen wichtigen Beitrag leisten, um die Abrüstung voranzubringen und die friedliche Zusammenarbeit in Europa zu fördern. Nur so würden sie der Verantwortungsgemeinschaft für den Frieden gerecht. Bundeskanzler Kohl mußte dem zustimmen.

Genosse Erich Honecker stellte die Notwendigkeit des Abschlusses einer Vereinbarung über die globale Beseitigung der Mittelstreckenraketen in den Mittelpunkt als Einstieg zur nuklearen Abrüstung und begründete die Vorschläge zur Schaffung eines kernwaffenfreien Korridors in Mitteleuropa und einer chemiewaffenfreien Zone in Europa.

Es wurde unterstrichen, daß sich die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD nicht von der internationalen Entwicklung abkoppeln lassen und daß beide Staaten zugleich aktiv und positiv darauf einwirken müssen. Für die DDR sei und bleibe die Friedensfrage die alles übergreifende Frage auch für die bilateralen Beziehungen.

Bundeskanzler Kohl konnte nicht umhin, den Willen der BRD zu betonen, zur Abrüstung und Entspannung beizutragen und die Unterstützung der globalen doppelten Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen zu bekräftigen. Noch vor dem Besuch war er zu der Erklärung über die Beseitigung der Pershing 1a gezwungen. Die dadurch möglich gewordene Übereinstimmung in der Unterstützung der globalen doppelten Null-Lösung durch beide deutsche Staaten ist ein entscheidendes Ergebnis des Besuches des Genossen Erich Honecker in der BRD.

5. Von beiden Seiten wurde der Grundlagenvertrag und die Gemeinsame Erklärung zwischen Erich Honecker und Helmut Kohl vom 12. März 1985 als die Basis für die Beziehungen bekräftigt.

Genosse Erich Honecker verwies darauf, daß

– die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen eine grundlegende Bedingung für den Frieden sind;

– der Kerngedanke des Grundlagenvertrages, daß beide deutsche Staaten gegenseitig Unabhängigkeit und Selbständigkeit in ihren inneren und äußeren Angelegenheiten respektieren, strikt eingehalten werden muß.

Die BRD-Seite mußte sich erneut zum Grundlagenvertrag und zur Gemeinsamen Erklärung vom 12. März 1985 bekennen sowie die Einhaltung der mit der DDR geschlossenen Vereinbarungen zusichern. Auf dieser Basis war es möglich, eine Verständigung über Schritte zur weiteren Normalisierung der Beziehungen zu treffen. Die Voraussetzungen für weitere Fortschritte in der Koexistenz- und Dialogpolitik wurden wesentlich verbessert.

An konkreten Ergebnissen des Besuches ist festzuhalten:

– Zusage der CDU/CSU/FDP-Koalition, an der Herstellung offizieller Kontakte zwischen Volkskammer und Bundestag zu arbeiten;

– Abschluß der drei Abkommen und Vereinbarungen zu den Fragen des Umweltschutzes, von Wissenschaft/Technik und des Strahlenschutzes; es wurde vereinbart, auf dem Gebiet des Umweltschutzes durch beide Seiten geeignete Objekte zu benennen und zu erörtern;

– Vereinbarung, kurzfristig Gespräche zur Bildung einer gemischten Kommission zur weiteren Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen aufzunehmen;

– Übereinstimmung, die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Kombinaten und Außenhandelsbetrieben der DDR und Unternehmen der BRD weiterzuentwickeln und dabei solche Kooperationsformen wie die Zusammenarbeit beim Export von Anlagen und Ausrüstungen, besonders auf dritten Märkten, sowie bei der Gestattungsproduktion[1] verstärkt zu entwickeln;

– Vereinbarung, kurzfristig Verhandlungen zum Abschluß von Regelungen und Vereinbarungen zum Ausbau und zur Elektrifizierung von Eisenbahnstrecken im Transitverkehr zwischen der BRD und Berlin (West) aufzunehmen;

– Übereinstimmung, hinsichtlich der Grunderneuerung bzw. des Ausbaus von Autobahnabschnitten, insbesondere im Transitverkehr BRD-Berlin (West), baldmöglichst Gespräche aufzunehmen; Kurzfristige Aufnahme von Gesprächen im Zusammenhang mit einer eventuellen weiteren Offenhaltung der G[renz]Ü[bergangs]ST[elle] Staaken über den 31.12.1987 hinaus.

– Erwartung, daß die konkreten Fragen zum Bezug und zur Lieferung von Elektroenergie zwischen der DDR und der BRD unter Einbeziehung von Berlin (West) auf der kommerziellen Ebene gelöst werden und die entsprechenden Verhandlungen zum Abschluß langfristiger Vereinbarungen führen.

– Übereinstimmung, daß Fortschritte in den weiteren Verhandlungen zur Reduzierung der Salzbelastung der Werra möglich sind, wenn Einvernehmen über den Einsatz des in der BRD vorhandenen Verfahrens zur umweltschonenden Aufbereitung von Kali-Salzen unter Berücksichtigung der ökonomischen Interessen beider Seiten erzielt wird.

– Vertrauliche Zusicherung H. Kohls und E. Albrechts, sich für eine einvernehmliche Regelung der Frage der Elb-Grenze einzusetzen.

Erklärung E. Honeckers, in diesem Fall neben dem Abschluß der bereits weitgehend ausgehandelten Vereinbarungen zum Binnenschiffsverkehr, Sportbootverkehr, Hochwasserschutz und zur Fischerei Verhandlungen über den Gewässerschutz der Elbe aufzunehmen sowie Hannover, Hamburg und Kiel in den grenznahen Verkehr einzubeziehen.

– Zusage der DDR, einige Erleichterungen im Reise- und Besucherverkehr, einschließlich Berlin (West), einzuführen (Veränderungen bei den Einfuhrbestimmungen, Gestattung der Einreise für ehemalige DDR-Bürger, die vor dem 1. Januar 1982 die DDR verlassen haben, sofern es sich nicht um unerwünschte Personen handelt, Mitführung von Fahrrädern als Reisegebrauchsgegenstände). Absicht, intern und informell über einige mit Westberlin zusammenhängende Fragen weiter zu sprechen.

– Übereinstimmung, bei der Bekämpfung von AIDS noch enger zusammenzuarbeiten.

Bedeutungsvoll ist, daß zum ersten Mal eine Begegnung zwischen den beiden Außenministern auf deutschem Boden, im Amtszimmer von BRD-Außenminister Genscher, stattfand und weiter derartige Begegnungen vereinbart wurden.

6. Der Besuch leitete damit eine neue Etappe in den bilateralen Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten ein. Es wurde deutlich, daß neue positive Ergebnisse auf dem Weg der Normalisierung der Beziehungen zum Wohl der Völker in Europa und in beiden Staaten möglich sind, wenn von der realen Lage ausgegangen wird, d. h. von der Tatsache, daß im Ergebnis des zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung zwei souveräne, voneinander unabhängige deutsche Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung und Bündniszugehörigkeit entstanden sind.

7. Der Besuch des Genossen Erich Honecker fand international und in den Medien der BRD ein außergewöhnlich großes Echo. In allen Weltagenturen und bedeutenden Zeitungen wurden der Besuch, sein Verlauf und seine Ergebnisse als bedeutendes Ereignis der Nachkriegsgeschichte hervorgehoben, mit dem der Entwicklung nach 1945 Rechnung getragen wurde. In der BRD war die Berichterstattung ausführlich, überwiegend sachlich und korrekt. Der Besuch gab eine breite Möglichkeit, die internationale und die Öffentlichkeit der BRD mit dem Standpunkt der DDR zu internationalen Grundfragen, ihrer Friedenspolitik und ihrem konstruktiven Verhalten in den bilateralen Beziehungen vertraut zu machen. []

Anmerkungen

[1] Verschiedenen westdeutschen Firmen wurde es „gestattet“, in der DDR Waren herzustellen. Deshalb der Begriff Gestattungsproduktion – Hrsg.

Quelle: SED-Politbürovorlage vom 15. September 1987 über den offiziellen Besuch von Erich Honecker in der Bundesrepublik Deutschland vom 7. bis 11. September, SAPMO-Bundesarchiv, DY 30/1 IV 2/2A/3054; abgedruckt in Andreas Herbst et al., Hrsg., Die SED. Geschichte, Organisation, Politik. Ein Handbuch. Berlin, 1997, S. 788–94.