Kurzbeschreibung

Aus Anlass der Verhaftung von Mitgliedern der Friedensbewegung wandte sich die DDR-Gruppe „Frauen für den Frieden“ an die Kirchenleitungen in Sachsen, Berlin-Brandenburg und Anhalt. Sie erinnerte diese an die besondere Rolle der Kirche im Umgang mit den staatlichen Behörden der DDR und bat um sofortige Hilfe.

Christliche Friedensbewegung in der DDR (1983)

Quelle

Die Verhaftung von Frau Kathrin Eigenfeld hat uns tief getroffen. Fassungslos stehen wir vor der Tatsache, daß dies zu einem Zeitpunkt geschah, als wir uns mitten in den Vorbereitungen zu einem Kinder-Friedensfest befanden, einen Tag vor dem Weltfriedenstag.

Weiterhin hat man zwei junge Männer, die eng in den organisatorischen Teil einbezogen waren, am Weltfriedenstag selbst vorübergehend festgenommen. Es ist zu betonen, daß es sich um eine kirchliche Veranstaltung handelte. Wie durch die Kirchenleitung Halle bekannt wurde, wird Frau Eigenfeld der Paragraph 106 des Strafgesetzbuches [staatsfeindliche Hetze] zur Last gelegt, ein im Moment häufig strapazierter Paragraph. Unter „staatsfeindlich“ verstehen wir in erster Linie „verfassungsfeindlich“. Wir erinnern aber an die Verfassung, Artikel 19, Abs. 3: „Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfältige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten in vollem Umfang zu entwickeln, seine Kräfte aus freiem Entschluß zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten. So verwirklicht er Freiheit und Würde seiner Persönlichkeit.“ Der Artikel 21 Abs. 3 bestätigt es noch einmal beeindruckend, wenn dort geschrieben steht: „Die Verwirklichung des Rechts der Mitbestimmung und der Mitgestaltung ist zugleich eine hohe moralische Verpflichtung für jeden Bürger.“

Wir sehen keinen Verfassungsbruch in der Tatsache, uns mit Wort und Tat für den Frieden und die Umwelt zu engagieren. Es geschieht in voller Verantwortung für die Menschen in unserer Gesellschaft. Man kann es auch noch deutlicher sagen, gerade aus dieser Verantwortung heraus. [Der Schriftsteller] Stephan Hermlin sagte über den Wert der „Berliner Begegnung“ [im Dezember 1981]: „Sie sollten Bürger der DDR und anderer Staaten laut nachdenken lassen, Menschen, die nicht nur verschiedenen Ländern und Gesellschaftssystemen angehören, sondern auch in vielen Fällen sehr persönliche Meinungen zu den wichtigen Fragen unserer Zeit haben.“ („Neues Deutschland“, 7.12.1981)

Dieses laute Nachdenken wird uns leider selten möglich gemacht. Dürfen von der offiziellen Meinung abweichende Gedanken zum Frieden ausreichen, um diskriminiert zu werden? In diesem Zusammenhang sehen wir die extreme Anwendung des Paragraphen 106 im Widerspruch zur Verfassung.

Ein Miteinander ist von den Anhängern der christlichen Friedensbewegung immer wieder angestrebt worden. „Vertrauen wagen“ ist immer noch unser Anliegen, denn wir wollen hier etwas für unsere Gesellschaft und ihr Überleben tun. Wir haben keinen Ausreiseantrag gestellt und streben diesen auch nicht an. Wir möchten aber das uns verfassungsmäßig und völkerrechtlich verbriefte Recht auf freie Meinungsäußerungen wahrnehmen können, ohne gerichtlich belangt zu werden. Uns ist aber bewußt, daß wir ständig gegen Artikel 23, Abs. I der Verfassung verstoßen; denn wir sind Pazifisten. Aus dieser Grundhaltung heraus werden alle unsere Friedensaktivitäten in Wort und Handeln bestimmt. Pazifismus wird öffentlich als verfassungsfeindlich abgelehnt (siehe SED-Politbüromitglied Werner Walde, „Neues Deutschland“, 21.11.1981).

Also ist alles, was wir unter diesem Aspekt sagen und tun, verfassungsfeindlich, also staatsfeindlich, und fällt unter den Paragraphen l06, der so umfassend gehandhabt wird. Der Unterschied einer Anklage gegen Frau Eigenfeld oder uns kann nur in der Verhältnismäßigkeit des Strafmaßes bestehen. Immer deutlicher wird die Tatsache, daß jeder unter einem Vorwand inhaftiert werden kann, der dem Staat unliebsam auffällt. Nur im Raum der Kirche ist ein offenes Wort möglich. Damit wird der Kirche und uns Christen eine eindeutige Verantwortung übergeben.

Wir denken, die Kirchenleitungen müssen sich dieser Verantwortung bewußt werden und können sich nicht mehr auf den 6. März 1978 allein verlassen, als die DDR-Führung den Christen eine gleichgeachtete und gleichberechtigte Stellung in der Gesellschaft zusagte. Ein Bekenntnis, das oft von seiten der Basis erbracht wird, muß durch die Kirchenleitungen getragen werden, sonst werden eines Tages alle friedensfordernden Christen und nichtchristlichen Pazifisten hinter Gefängnismauern verschwinden.

Mit uns wollen die staatlichen Stellen nicht reden. Aber die Kirche ist eine Institution, mit der gerechnet werden muß. Wir sehen darin die Möglichkeit, etwas gegen die Willkür der Ausdehnung des Gesetzes zu tun. Wir bitten die Kirchenleitungen, sofort etwas zu unternehmen.

Quelle: Frauen für den Frieden, Christen und Pazifisten in der DDR – Staatsfeinde? (1983); abgedruckt in Bernhard Pollmann, Hrsg., Lesebuch zur Deutschen Geschichte, Band 3, Vom deutschen Reich bis zur Gegenwart. Dortmund, 1984, S. 268–70.