Kurzbeschreibung

Kurt Karl Doberers (1904-1993) Kindheitserinnerungen schildern den Lebensalltag einer Familie aus den unteren Mittelschichten, die fest im sozialdemokratischen Milieu verwurzelt war und hart daran arbeitete, die eigene Lebenssituation zu verbessern. Der Bericht macht deutlich, dass sich der Stadtbevölkerung wachsende Bildungsmöglichkeiten eröffneten, und bezeugt zudem die hochgradige Komplexität des industriellen Arbeitslebens und der technologischen Entwicklungen.

Kurt Karl Doberer, „Der Pfennig war das Mark der Währung“ (Rückblick, 1980er Jahre)

  • Kurt Karl Doberer

Quelle

Meine frühesten Erinnerungen stammen aus der Zeit, als ich fünf Jahre alt war, es dürfte also um das Jahr 1909 gewesen sein. Wir wohnten in der Schweinauer Straße, die parallel zur eigentlichen Verkehrsader aus Nürnberg heraus von Sankt Leonhard nach Schweinau führte.

Auf ihr konnten sich die Hochradfahrer produzieren. Es war die Gelegenheit, wo ich so ein ausgefallenes Fahrzeug wahrscheinlich zum ersten- und letztenmal sah. Aber auch die gewöhnlichen Fahrräder wurden von der Stadtverwaltung noch mit großem Mißtrauen betrachtet. Man mußte einen richtigen Führerschein haben. Der wurde allerdings gegen Entrichtung der Gebühr ohne Fahrprüfung ausgestellt. Darin war auch die Nummer des Fahrrades aufgeführt. Mein Vater besaß einen solchen Führerschein für sein Fahrrad, dessen Nummer wie beim Auto, aus Blech gestanzt, an prominenter Stelle vorn und hinten angebracht und für die Polizei leicht leserlich sein mußte. Ob Autos zu dieser Zeit auch solche Nummern führen mußten, kann ich nicht sagen, denn ich kann mich nur an ein einziges Auto erinnern, das sich einmal in unsere Straße verirrt hatte.

Verkehr wurde in der Schweinauer Straße ausschließlich durch Pferdefuhrwerke dargestellt – in Form von Lieferwagen, Müllfahrzeugen, die die kleinen Kehrichtkübel entleerten, und im Sommer durch den Sprengwagen. Besonders der Sprengwagen sorgte für das Vergnügen der Kinder. Die Hosen hochgekrempelt, die Röcke geschürzt, so liefen wir hinterher, um uns vom ausströmenden Wasser die nackten Beine und manchmal auch ein bißchen mehr besprühen zu lassen.

Bei dieser Gelegenheit hatte ich auch mein erstes Liebesabenteuer. Ein Mädchen, das auf der anderen Straßenseite wohnte, nahm mich nach Hause mit. Im langen Gang, den die Wohnung hatte, hatten die Eltern eine Schaukel an die Decke geschraubt, und da schaukelten wir und schaukelten.

Mein Vater war Sozialist und Kassierer beim Sanitätsverein. In den Angestelltenstatus war er dadurch geraten, daß er bei der Firma Schuckert entlassen worden war, weil er hartnäckig den 1. Mai als Feiertag betrachtet hatte.

Er war Funktionär bei der Partei, hatte einen vollen Bücherschrank und arbeitete im Heine-Club an seiner Fortbildung. Er lernte Geschichte und Englisch. Das letztere lernte die ganze Familie mit. Ich weiß noch genau, wie meine Mutter zu mir sagte: „Drink good milk“, so einfach war diese Sprache.

Wir wohnten im vierten Stock. Im dritten lebte eine kleine Beamtenwitwe mit zwei musikalischen Töchtern und einem Logierherrn. In dieser Zeit, da die Wohnungen ziemlich groß und die Gehälter ziemlich klein waren, hatten viele Familien einen Logierherrn, mit dessen Miete die Familienfinanzen aufgebessert wurden.

Im zweiten Stock, also schon in den etwas vornehmeren Etagen, wohnte die Familie Hamburger. Von Frau Hamburger bekam ich ab und zu selbstgebackenen Mazzes. Obwohl ich seitdem nie mehr welchen gesehen habe, weiß ich heute noch, wie er schmeckt und wie er aussieht.

Im ersten Stock war die Familie Geissler zu Haus. Sie hatte im Hinterhaus einen Metallbetrieb. Frau Geissler nahm mich häufig mit in ihren Garten am Ludwigskanal. Sie züchtete Nelken, deren Duft mir nach achtzig Jahren immer noch in der Nase liegt. Sie steckte mir Nelken in alle meine Knopflöcher und auf den Tiroler Hut, und so marschierte ich stolz nach Hause. Wie man sieht, wurde ich von den Frauen des ganzen Hauses verwöhnt. Es war eine friedliche, freundliche Zeit.

Schon früh steuerte mich mein Vater zur Technik. Mit fünfeinhalb Jahren besaß ich eine kleine Dampfmaschine und einen Eisenbahnzug, der von einer richtigen, mit Spiritus geheizten Lokomotive gezogen wurde.

Der große Traum für Jungen, die kleinen und die halbwüchsigen, war um 1910 der Flugzeugbau. Viele dachten daran, ein Flugzeug zu bauen, auch wir im Hinterhof der Schweinauer Straße. Modelle lieferten die Bilderserien, die mit Liebigs Fleischextrakt geliefert wurden. Sie wurden eifrig studiert. Es mußte eine Entscheidung zwischen einem Aeroplan vom Typ Blériot und dem Farman-Doppeldecker getroffen werden. Inzwischen bauten wir den Kabinensitz aus einem halben Faßdeckel und verschiedenen Brettern, die im Hof herumlagen. Wichtig war, daß das Kabinenstück schön angestrichen wurde, einmal blau, dann wieder rot. Die Farbe bezogen wir aus den Fässern eines Malereigeschäftes, das sich auch im Hof befand.

Praktische Grundlage für diese Flugbegeisterung war die Flugwoche, die in diesem Sommer auf dem Exerzierplatz bei der Schweinauer Kaserne stattfand. Kaum höher als die Hausdächer kamen die leichten Flugmaschinen herein, um über unseren Köpfen hinweg zum Landen anzusetzen. Ein Name ist mir fest im Gedächtnis geblieben: der des Piloten Hirth, der ein Jahr später den Fernflug von München nach Berlin ausführte.

Die Erinnerung an diese Zeit liegt wie in Nebelschwaden versteckt. Nur da und dort, oft nicht an eine feste Zeit gebunden, tauchen Fetzen des Erinnerns im Gedächtnis auf. Es muß auch in diesem Sommer 1910 gewesen sein, daß ich mit meinem Vater auf dem großen Volksfest auf dem Ludwigsfeld war.

Schon von weitem empfing uns der Lärm der Orgeln von Karussell und Schiffschaukel, der Duft von gebratenen Heringen, das Festessen des kleinen Mannes. Vom Eingang her hörten wir das Geschrei des billigen Jakobs, der jedem, der es bezahlen wollte, Einmaliges anbot. Eine goldene oder fast goldene Uhr, zwar ohne das übliche Uhrwerk, aber doch herrlich anzusehen, mit ebenso goldiger Kette; dazu Manschettenknöpfe für den feinen Herrn aus dem gleichen Edelmetall und ein goldiges Kettchen für die Braut – alles zusammen nicht für zehn Mark, nicht für fünf Mark, für eine Mark konnte der glückliche Besitzer den kostbaren Schatz, in feines rosa Fließpapier gewickelt, nach Hause tragen.

Das war aber nur der Beginn der Wunder, bei deren Anblick man Mund und Ohren aufsperren konnte. Da war eine Zeltbude, so groß wie ein ganzes Haus, da konnte man für fünfzig Pfennig, Kinder und Soldaten vom Feldwebel abwärts zahlten die Hälfte, Meerjungfrauen mit Fischschwänzen, siamesische Zwillinge, Riesen und Zwerge sehen. Um die Gaffer hereinzulocken, spielte eine Riesenorgel, die mit beweglichen Figuren besetzt war.

Die Orgel konnte man von außen bewundern. Nach Riesen, Zwergen und Meerjungfrauen mit Schwänzen stand mein Sinn nicht. Eher faszinierte mich ein Mann, der an einer Stange viele blaue, rote, gelbe Luftballons hielt. Ob ich einen solchen Ballon bekommen habe, das weiß ich heute nicht mehr. Aber ich weiß noch, daß Spaßvögel oder Leute, die sich dafür hielten, am Werk waren. Mit einer kleinen Schere bewaffnet, näherten sie sich unauffällig den glücklichen Besitzern eines Luftballons, um im richtigen Moment bei den Unachtsamen den Bindfaden abzuschneiden. Immer wieder sah man einen solchen Ballon dann über den Köpfen der Volksfestbesucher entschweben, in den Himmel aufsteigen und schließlich, in der lauen Luftströmung kleiner und kleiner werdend, auf Nimmerwiedersehen entschwinden.

Quelle: Kurt Karl Doberer, „Der Pfennig war das Mark der Währung“, Rückblick, in Rudolf Pörtner, Hrsg., Kindheit im Kaiserreich: Erinnerungen an vergangene Zeiten. München, 1989, S. 246–49.