Quelle
[…]
Englands Außenpolitik wird von seiner unveränderlichen geografischen Lage als Inselstaat an der Meeresflanke Europas und von seinen gigantischen überseeischen Kolonien und
Schutzgebieten bestimmt, deren Existenz und Überleben als unabhängige Gemeinschaft
untrennbar mit Englands Vormachtstellung auf den Meeren verbunden ist. Der enorme Einfluss dieser Vorherrschaft wurde in der zum Klassiker gewordenen Arbeit von Kapitän Mahan
beschrieben. Niemand stellt sie in Frage. Eine Seemacht verfügt über mehr Macht als eine Landmacht, da sie ebenso durchdringend wirkt wie das Element, in dem sie sich bewegt und dem sie ihre Vormachtstellung verdankt. Ihr Respekt gebietendes Wesen rührt daher, dass ein maritimer Staat buchstäblich der Nachbar jedes vom Meer aus zugänglichen Landes ist. Es wäre folglich nur natürlich, wenn die Macht eines die Meere beherrschenden Staates überall Neid und Furcht erregte und sich folglich ständig in Gefahr befände, durch einen
Zusammenschluss der ganzen Welt gestürzt zu werden. Einem solchen Zusammenschluss könnte keine einzelne Nation langfristig standhalten, am allerwenigsten ein kleines
Inselkönigreich, das nicht über das Potenzial eines militärisch geschulten Volkes verfügt und bei seiner Nahrungsmittelversorgung vom Handel mit Übersee abhängig ist. Die Gefahr kann in der Praxis nur dann abgewendet werden – und die Geschichte zeigt, dass dies auch gelungen ist – wenn die nationale Politik des Insel- und Maritimstaates sich an den Bedürfnissen und Idealen der gesamten Menschheit orientiert und die primären und vitalen Interessen einer Mehrheit oder so vieler Nationen wie möglich vertritt. Nun, das primäre Interesse eines jeden Landes ist die Wahrung seiner nationalen Unabhängigkeit. Mehr als jede andere nichtinsulare Macht hat
England ein direktes und positives Interesse an der Erhaltung der Unabhängigkeit anderer Staaten und muss folglich der natürliche Feind jedes Landes, das die Unabhängigkeit anderer bedroht, und der natürliche Beschützer schwächerer Gemeinschaften sein.
Direkt nach dem Ideal der Unabhängigkeit haben die Nationen immer das Recht auf freien
Verkehr und Handel auf den Weltmärkten hochgehalten, und da England stets für das Prinzip größtmöglicher Freiheit des Handels eingetreten ist, stärkt es zweifellos die Erhaltung der Freundschaft zwischen den Nationen, zumindest insofern als die maritime Vorherrschaft eines auf Freihandel eingeschworenen England sie weniger bedroht als die Vormachtstellung einer protektionistischen Macht. Dies ist ein Aspekt des freien Handels, der gern übersehen wird. Es besteht keine Frage, dass jedes Land, hätte es die Wahl, es natürlich vorziehen würde, selbst Herrscher über die Meere zu sein, da diese Möglichkeit aber ausgeschlossen ist, sieht man lieber England in dieser Rolle als irgend einen anderen Staat.
Die Geschichte zeigt, dass eine Bedrohung der Unabhängigkeit dieser oder jener Nation sich zumindest teilweise aus der Vormachtstellung eines Nachbarstaats ergibt, der sowohl
militärisch mächtig und wirtschaftlich leistungsfähig ist als auch eine Ausdehnung seiner
Grenzen oder seines Einflusses anstrebt, wobei die Gefahr proportional zu seiner Macht und Leistungsfähigkeit ebenso wie zur Spontaneität oder „Unvermeidbarkeit“ seines Ehrgeizes
ansteigt. Den einzigen Schutz vor dem Missbrauch einer solchen sich aus dieser Position
ergebenden politischen Dominanz sichert seit jeher ein in gleicher Weise Respekt gebietender Gegner oder ein Zusammenschluss mehrerer Länder zu einem Verteidigungsbündnis. Die durch eine solche Bündelung hergestellte Balance gilt technisch als Gleichgewicht der Mächte, und es ist bereits ein historischer Gemeinplatz, die säkulare Politik Englands mit der Wahrung dieses Gleichgewichts in eins zu setzen, wobei es sein Gewicht mal in diese und mal in jene Waagschale wirft, aber in jedem Fall gegen die politische Diktatur des stärksten Einzelstaates oder der stärksten Staatengruppe eintritt.
Stimmt diese Beurteilung britischer Politik, dann wird der Widerstand, den England
zwangsläufig gegen jedes Land leistet, das eine solche Diktatur anstrebt, fast zu einer Art
Naturrecht, was tatsächlich durch einen herausragenden Experten britischer Nationalpolitik theoretisch demonstriert und historisch untermauert wurde.
Bei der Anwendung dieses allgemeinen Gesetzes auf einen spezifischen Fall wäre der Versuch möglich festzustellen, ob zu einem gegebenen Zeitpunkt ein bestimmter mächtiger und
ehrgeiziger Staat in der Lage ist, ein natürlicher und notwendiger Feind Englands zu werden; und die gegenwärtige Position Deutschlands könnte vielleicht diesem Test unterzogen werden. Jede solche Untersuchung muss von der Frage ausgehen, ob Deutschland tatsächlich die
politische Hegemonie mit dem Ziel anstrebt, ausschließlich deutsche Expansionspläne zu
fördern und eine deutsche Vorherrschaft in der Welt der internationalen Politik auf Kosten und zum Schaden anderer Nationen zu etablieren.
Im Hinblick auf die Außenpolitik kann das moderne Deutsche Reich als Erbe oder Nachfahre Preußens angesehen werden. Das vielleicht außergewöhnlichste Merkmal in der Geschichte Preußens, nach der Aufeinanderfolge talentierter Herrscher und der Energie und Liebe ihrer Untertanen zu ehrlicher Arbeit, ist die innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne
erfolgte solide Herausbildung einer europäischen Großmacht aus der bescheidenen Mark Brandenburg. Es war ein Prozess systematischer in erster Linie mit dem Schwert erkämpfter territorialer Vergrößerung, wobei die wichtigsten und maßgeblichen Eroberungen von
ehrgeizigen Herrschern oder Staatsmännern mit dem expliziten Ziel errungen wurden, den
Zusammenhalt, die Quadratkilometer und die Bevölkerung zu sichern, die erforderlich sind, um aus Preußen einen einflussreichen Staat ersten Ranges zu machen. Alle anderen Länder
haben ebenfalls Eroberungen gemacht, viele von ihnen umfangreicher und blutiger. Es geht hier und heute nicht darum, ihre jeweiligen Verdienste und Rechtfertigungen zu erörtern. Das
gegenwärtige Interesse soll die Aufmerksamkeit auf die spezifischen Umstände lenken, die dem Aufstieg Preußens sein besonderes Gepräge gaben. Es handelte sich weder um den
Eroberungshunger eines Königs noch um die Einverleibung von Regionen, die geografisch oder ethnisch als integraler Bestandteil des nationalen Einflussgebietes galten, und auch nicht um das mehr oder weniger unbewusste Streben eines vor Vitalität überschäumenden Volkes nach Vermehrung von Lebensraum und Bodenschätzen. In diesem Fall war es vielmehr der
Herrscher eines kleinen und schwachen Vasallenstaates, der sagte: „Ich will, dass mein Land unabhängig und mächtig wird. Dies ist innerhalb der gegenwärtigen Grenzen und mit der
gegenwärtigen Bevölkerung nicht möglich. Ich brauche ein größeres Territorium und mehr
Einwohner, und um das zu erreichen, muss ich eine starke Militärstreitmacht aufbauen“.
Der größte und klassische Exponent in der modernen Geschichte, der gezielt daran ging, einen kleinen Staat in einen großen zu verwandeln, war Friedrich der Große. Durch seine plötzliche Einnahme von Schlesien in Zeiten tiefen Friedens und durch die erste Teilung Polens
verdoppelte er praktisch sein angestammtes Herrschaftsgebiet. Indem er die effizienteste und mächtigste Armee seiner Zeit unterhielt und sich England in seinem groß angelegten Bestreben nach Wahrung des Gleichgewichts der Kräfte angesichts des Vordringens Frankreichs
anschloss, gelang es ihm, die Stellung seines Landes als eine der europäischen Großmächte zu sichern. Die preußische Politik blieb auch unter seinen Nachfolgern diesen Prinzipien
verpflichtet. Hier genügt die Erwähnung der zweiten und dritten Teilung Polens; der
wiederholten Versuche der Annexion Hannovers im Einverständnis mit Napoleon; der
Zerstückelung Sachsens ebenso wie des Tausches der Rheinprovinzen gegen die Aufgabe polnischer Länder 1815; der Annexion Schleswig-Holsteins 1864; der endgültigen Einverleibung Hannovers und des Hessischen Hinterlandes sowie anderer territorialer Besitznahmen; und schließlich der Rückeroberung von Elsass-Lothringen von Frankreich im Jahre 1871. Es soll hier natürlich nicht behauptet werden, dass alle diese Aneignungen gleichwertig sind. Sie haben nur eines gemeinsam: Sie wurden alle mit dem Ziel der Schaffung eines großen Preußens oder Deutschlands geplant.
Mit den Ereignissen von 1871 ging der Geist Preußens auf das neue Deutschland über. In
keinem anderen Land ist die Überzeugung, dass die Wahrung nationaler Rechte und die
Verwirklichung nationaler Ideale so absolut von der Bereitschaft jedes Staatsbürgers abhängt, sich für die Selbstbehauptung und Verteidigung des Staates einzusetzen, so tief in Leib und Seele aller Bevölkerungsschichten eingewurzelt. Mit „Blut und Eisen“ hatte Preußen seine
Stellung in den Rat der europäischen Großmächte eingeprägt. Durch die Förderung, die jede Form von nationaler Aktivität seitens der neu errungenen Einheit erfuhr, und insbesondere durch den wachsenden Ausbau des Überseehandels, der in immer größerem Ausmaß in den nunmehrigen Reichshäfen der einst „unabhängigen“, aber politisch unbedeutenden
Hansestädte abgewickelt wurde, kam es im Laufe der Zeit dazu, dass sich der Energie des
jungen Reichs eine ganze außereuropäische Welt öffnete, von der es zuvor kaum Gelegenheit hatte, auch nur schemenhaft Kenntnis zu nehmen. Auf ihren Wegen über die Ozeane auf
deutschen Schiffen bekamen deutsche Kaufleute zum ersten Mal eine Ahnung von der wahren Bedeutung von Ländern wie England, den Vereinigten Staaten, Frankreich und den
Niederlanden, deren politischer Einfluss sich auf entlegene Meere und Kontinente erstreckt. Insbesondere die Kolonien und überseeischen Besitztümer Englands wurden als ein Vorteil erkannt, der dem Land einen erkennbaren und beneidenswerten Status verlieh, während die Nennung Deutschlands, wenn es überhaupt erwähnt wurde, kein maßgebliches Interesse
erweckte. Die Wirkung dieser Entdeckung auf die deutsche Seele war eigenartig und lehrreich. Hier gab es einen gigantischen Bereich menschlicher Aktivität, bei der der bloße Titel und Rang einer europäischen Großmacht an sich noch keine besondere Auszeichnung bedeutete. Hier also gab es einen Bereich unheilschweren Ausmaßes, der die Proportionen der europäischen Länder winzig klein erscheinen ließ, einen Bereich, wo sich andere, auf die man vielleicht als vergleichsweise kleine Völkchen eher hinuntergeschaut hatte, zu Hause und geachtet fühlten, während Deutschland bestenfalls als Ehrengast empfangen wurde. Hier gab es ein
ausgeprägtes Ungleichgewicht zugunsten der See- und Kolonialmächte.
Ein solcher Stand der Dinge war dem deutschen Nationalstolz abträglich. Deutschland hatte seinen Platz als eine der führenden Mächte, wenn nicht sogar der ersten Macht auf dem
europäischen Kontinent errungen. Doch jenseits der europäischen Großmächte schien es noch die „Weltmächte“ zu geben. Es wurde unumwunden festgestellt, dass Deutschland eine
„Weltmacht“ werden musste. Die Entwicklung dieser Idee und ihre Übersetzung in praktische Politik folgten mit erstaunlicher Konsequenz den gedanklichen Leitlinien, welche die
preußischen Könige bei ihrem Bemühen um die Vergrößerung Preußens inspiriert hatten. „Soll Preußen“, sagte Friedrich der Große, „im Ratschlag der europäischen Völker etwas zählen, muss es eine Großmacht werden“. Und das Echo: „Der Ozean ist unentbehrlich für Deutschlands Größe. Will Deutschland in den Angelegenheiten einer größeren ozeanischen Welt mitreden, muss es eine Weltmacht werden“. „Ich will mehr Territorium“, sagte Preußen. „Deutschland braucht Kolonien“, sagt die neue Weltpolitik. Und so wurden Kolonien in Gegenden eingerichtet, denen sich noch niemand bemächtigt hatte, oder aus denen andere mit der kraftvoll vorgetragenen Forderung Deutschlands nach einem „Platz an der Sonne“ hinausgedrängt werden konnten: Damaraland, Kamerun, Togoland, Deutsch-Ostafrika, Neuguinea und andere Inselgruppen im Pazifik. Es nimmt nicht Wunder, dass das deutsche Beispiel Nachahmer fand und sich die Landkarte unbeanspruchter Territorien erstaunlich rasch füllte. Nach der Endabrechnung erschien der tatsächlich von Deutschland erzielte Gewinn auch in deutschen Augen einigermaßen mager. Ein paar frische Besitztümer kamen durch Kauf oder internationalen Vertrag noch dazu: die Karolinen, Samoa, Helgoland. Eine Transaktion im alten preußischen Stil sicherte Kiautschou. Im Großen und Ganzen erwiesen sich die „Kolonien“ jedoch als einigermaßen zweifelhafte Aktivposten.
Derweil hatte sich der Traum eines Kolonialreiches tief in die deutsche Phantasie eingegraben. Der Kaiser, Staatsmänner, Journalisten, Geografen, Ökonomen, Handels- und Speditionsfirmen und die große Masse der gebildeten und ungebildeten öffentlichen Meinung fordern in einem fort unisono: Wir brauchen unbedingt echte Kolonien, wo sich deutsche Auswanderer
niederlassen und den nationalen Gedanken des Vaterlandes verbreiten können, und wir
brauchen unbedingt eine Flotte und Bekohlungsanlagen, um die Kolonien zusammenzuhalten, die wir uns zweifelsohne beschaffen werden. Auf die Frage „Warum unbedingt?“ folgt die
Antwort: „Ein gesunder und mächtiger Staat wie Deutschland mit seinen 60 Millionen
Einwohnern muss expandieren, darf nicht stillstehen, es braucht Territorien, in die seine
überquellende Bevölkerung auswandern kann, ohne ihre Nationalität aufzugeben“. Wenn dem entgegengehalten wird, dass die Welt praktisch unter unabhängigen Staaten aufgeteilt ist und keine Territorien zur Kolonisierung mehr zur Verfügung stehen, ohne sie dem rechtmäßigen Besitzer wegzunehmen, dann lautet die Antwort: „Damit können wir uns nicht abgeben.
Notwendigkeit kennt kein Gesetz. Die Welt gehört dem Starken. Eine kraftvolle Nation kann es nicht zulassen, dass ihr Wachstum durch blindes Einhalten des Status quo behindert wird. Wir haben es nicht auf die Besitztümer anderer Leute abgesehen, aber wo Staaten zu schwach sind, ihr Territorium bestmöglich zu nutzen, ist es die Aufgabe jener, die dazu in der Lage und bereit sind, ihren Platz einzunehmen“.
Keiner, der das deutsche politische Denken kennt und das Vertrauen deutscher Freunde
genießt, die ihre Meinung frei und offen äußern, kann leugnen, dass dies die Gedanken sind, welche die Spatzen von den Dächern pfeifen, und dass die Unfähigkeit, mit ihnen zu
sympathisieren, in Deutschland als typisch für einen mit Vorurteilen behafteten Ausländer gilt, der die wahren Gefühle der Deutschen nicht begreift. Man geht auch keineswegs fehl, in
diesem Zusammenhang auf eine Reihe von Sinnsprüchen mit imperialem Gestus zu verweisen, die von Zeit zu Zeit dazu dienen, die vorherrschende deutsche Gefühlslage
zusammenzufassen, und manche von ihnen verdienen es zitiert zu werden: „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser“, „Der Dreizack gehört in deutsche Faust“, „Deutschland muss sein Erbe als Seemacht zurückerobern, das einst unangefochten in den Händen der alten Hanse lag“, „Ohne Deutschland und ohne den deutschen Kaiser [darf] keine große Entscheidung fallen“, „Der Kaiser des Atlantik grüsst den Kaiser des Pazifik“ und so weiter.
Man kann die Bedeutung dieser vereinzelten Äußerungen leicht übertreiben.
Zusammengenommen unterstreichen sie aber den Eindruck, dass Deutschland die klare
Absicht verfolgt, auf der politischen Bühne der Welt eine viel größere und mächtigere Rolle zu spielen als jene, die dem Land unter der gegenwärtigen Verteilung der materiellen Macht
zugestanden wird. Es hieße die politische Kritik zu eng zu fassen, diese Theorie nationaler Selbstbehauptung nur als eine Frage der Moral anzusehen, die mit kasuistischer Anwendung jener Prinzipien zu lösen sei, die das private Verhalten in modernen Gesellschaften regulieren. Die Geschichte neigt dazu, die Handlungen von Staaten von ihrem Ergebnis her zu beurteilen, wobei der ethische Charakter der angewendeten Mittel nur allzu oft wenig Beachtung findet. Den rücksichtslosen Eroberungen der Römischen Republik und des Römischen Reiches wird heute attestiert, eine Bündelung der besten Energien der Welt herbeigeführt zu haben, die
wegen des spezifischen und nachhaltigen Einflusses auf die Kulturen der Antike die
Unredlichkeit der politischen Moral der Eroberer bei weitem kompensieren. Peter der Große und Katharina II sind zu Recht Helden in den Augen Russlands, das seine Existenz als eine
mächtige und einige Nation ihrer skrupellosen und gewieften Politik verdankt. Die
selbstherrliche Besitzergreifung von Schlesien durch Friedrich den Großen, die niedrigen
Intrigen, durch welche die erste Teilung Polens herbeigeführt wurde, die gewundenen Manöver, mittels derer Bismarck Schleswig-Holstein Preußen einverleibte, sie alle sind vergessen und vergeben angesichts eines mächtigen Deutschland, das diesen und allen seinen anderen
Territorien eine aufgeklärtere Regierung, einen breiteren nationalen Horizont und einen
größeren Anteil an der ruhmreichen nationalen Tradition gebracht hat als es unter anderen
Umständen ihr Los gewesen wäre. Es wäre in den Augen der Deutschen schließlich nur
logisch, wenn sie ohne zu zögern an ihre gegenwärtige Politik den Maßstab anlegten, der zu solchen historischen Urteilen führt, und wenn sie bereit wären, die Bürde der Rechtfertigung von Gewaltanwendung im Dienste der Ausbreitung deutscher Herrschaft über gegenwärtig unwillige Völker der Nachwelt zu überlassen. Kein moderner Deutscher würde sich einer puren
Eroberungslust um des Eroberns willen schuldig bekennen. Aber die vagen und undefinierten Pläne teutonischer Expansion („die Ausbreitung des deutschen Volkstums“[1]) sind nur der
Ausdruck eines tief verwurzelten Gefühls, dass sich Deutschland dank der Kraft und Reinheit seiner nationalen Ziele, der Inbrunst seines Patriotismus, der Tiefe seines religiösen Glaubens, dem hohen Niveau seiner Kompetenz, der eindeutigen Ehrlichkeit seiner Verwaltung, dem
erfolgreichen Streben jeglicher öffentlicher und wissenschaftlicher Aktivität und des hohen
Anspruchs von Philosophie, Kunst und Ethik das Recht verdient hat, die Vorrangstellung der deutschen nationalen Ideale einzufordern. Und da es ein Axiom seiner politischen Überzeugung ist, Recht müsse, um sich durchzusetzen, durch Gewalt unterstützt werden, ist es nur ein Schritt bis zur Überzeugung, dass das in patriotischen Reden eine so große Rolle spielende „gute deutsche Schwert“ dazu da sei, jegliche Schwierigkeit, welche die Festigung der Herrschaft dieser Ideale in einer germanisierten Welt behindern könnte, aus dem Weg zu räumen.
[…]
Anmerkungen
Quelle: Eyre Crowe, Memorandum on the Present State of British Relations with France and Germany (1. Januar 1907), in G.P. Gooch und H. Temperly, Hrsg., British Documents on the Origins of the War, 1898-1914. 11 Bände. London, 1926–1938, Bd. 3, S. 402-06 (Anhang A).