Kurzbeschreibung

Horst Wessel (1907-1930) war ein frühes NS-Parteimitglied und SA-Schläger. Im Jahr 1930 wurde er tot aufgefunden, wobei die genauen Ursachen seines Todes ein Rätsel blieben. Nach der Machtübernahme der Nazis wurde Wessel als Märtyrer der Bewegung verehrt, Schulen und Straßen wurden nach ihm benannt. Dieser Auszug aus dem Schulratsprotokoll der Horst-Wessel-Schule in Kassel zeigt, wie die Nazi-Ideologie das deutsche Schulsystem infizierte. Ab 1933 zeigen die Protokolle die allmähliche Einführung von Rassenkunde, paramilitärischen außerschulischen Aktivitäten, den Ausschluss jüdischer Schüler von verschiedenen Schulprogrammen, sowie den wachsenden Einfluss der Hitlerjugend-Führer auf die Schulverwaltung. Während die Schule neue Programme einführte und hervorhob, wurden ältere Programme eingestellt. Bestimmte Materialien wurden verboten, die Literatur wurde nazifiziert und die meisten ausländischen Texte wurden aus den Bibliotheksregalen entfernt. Nach 1939 rücken die Auswirkungen des Krieges in den Mittelpunkt. Die Bombardierung Kassels durch die Alliierten nach 1942 zwang die Schule, den Unterricht vorzeitig zu beenden und ihren Unterricht zu verlagern.

Konferenzprotokolle der Horst Wessel Schule (1933–1945)

Quelle

2. Mai 1933. In den Schulen können neben den Bildern des Reichspräsidenten auch Bilder des Reichskanzlers angebracht werden. Besonders würdige Schüler erhalten das Buch „Heer und Flotte“.

12. August 1933. Einführung des deutschen Grußes an unserer Schule. Jüdische Schüler nehmen samstags nicht am Unterricht teil. Pflichtfilm für alle Schüler: „Sport und Soldaten“. Der Reichsluftschutzbund wirbt um Mitglieder und bietet eine Vortragsreihe an.

21. September 1933. Pflege der Beziehungen zur Hitlerju­gend; ein Vertrauensmann für die HJ an unserer Schule wird benannt. Vererbungslehre und Rassenkunde sind zu fördern. Es wird an den Geburtstag Horst Wessels erinnert.

1. Dezember 1933. Jeder Schüler muß in Zukunft einen Beitrag zahlen für den Verein für das Deutschtum im Ausland. Sexuelle Aufklärung in den Klassen wird durch Ministerialerlaß verboten.

18. Dezember 1933. Die Familienforschung soll mehr gefördert werden.

1. Februar 1934. Mehr vaterländisches Schrifttum in die Schulbüchereien!

15. März 1934. Die übermäßige Beanspruchung der Schuljugend durch außerschulische Veranstaltungen wird beklagt. Eine Lichtbildreihe zur Rassen- und Erbkunde steht zur Verfügung.

8. August 1934. Alle Lehrer tragen zum Gedenken an unseren verstorbenen Reichspräsidenten 14 Tage einen Trauerflor am linken Unterarm.

20. September 1934. Die Anschaffung von Filmapparaten wird durch einen Pflichtbeitrag der Schüler finanziert. Bei jeder Filmvorführung wird außerdem eine Gebühr erhoben. Übergriffe der HJ in Schulangelegenheiten kommen zur Sprache.

19. Oktober 1934. Die Schülerzahl ist auf 1060 gestiegen; Mittelschulrektor G. tritt in den Ruhestand. Die HJ, Bann 83, bedankt sich bei der Schule für die Unterstützung bei dem Verkauf der Schrift „Wille und Macht“. Die Turnhalle steht der SA Montag und Freitag abends zur Verfügung. Nichtarische Schüler nehmen nicht an besonderen Schulveranstaltungen teil. Herr B. gibt Anweisungen für den nächsten Fliegeralarm am 25. Oktober 1934!

20. November 1934: Konferenz in der Waldschule. Erläuternde Worte des Herrn H. weisen auf Sinn und Zweck der Waldschule hin. Es kommt beim Schulgeländesport nicht so sehr auf Fertigkeiten, sondern auf Fähigkeiten, nicht auf unsere Disziplin, sondern auf unsere Zucht an. Allgemein vorliegende Grundlagen wie freiwillige Unterordnung, Selbstbeherrschung, Ordnung, Mut und Selbstvertrauen, Opferfreudigkeit, Kameradschaft und Vaterlandsliebe sollen in die Schüler hineingelegt werden. Gelände- und Orientierungsgefühl, Information, ruhige Nerven, blitzschnelles Erkennen einer Lage, schnelles wortloses Handeln sind wichtiger als Geländebeschreibungen. Ein Rundgang durch das Grundstück und Beobachtung der einzelnen Gruppen schließt sich an. Es folgen Wehrdisziplinübungen, Geländeausnutzung, Hörübungen. Tagesplan in der Waldschule: 6.00 Uhr Wecken, Körperschule, Waldlauf, Bettenbauen, Schuhputz, Stubendienst; 8.00 Uhr Frühstück, dann Gartenarbeit; ab 10.45 Uhr Geländedienst; 13.00 Uhr Mittagessen und Freizeit; 14.30 Uhr Appell, dann Unterricht; 15.30 Uhr Schießen; 16.30 Uhr Kaffee; Freizeit bis 19.00 Uhr, Abendessen, dann Putz- und Flickstunde; 21.30 Uhr Zapfenstreich.

Das Waldschulleben ist Gemeinschaftsarbeit, losgelöst von Schule und Elternhaus. Der Dienstplan ist dem Schüler oberstes Gesetz. Er erfordert den ganzen Menschen. Der noch schlaftrunkene Körper wird in frischer Waldluft gestärkt, die Lungen gereinigt. Frisch und munter genießt er sein erstes Morgenbrot. Mit Hacke und Spaten bearbeitet mancher zum ersten Mal den Heimatboden. Körper- und Geistesschulung wechseln ständig ab. Mit ruhiger Hand und festem Willen erprobt er die Schießkunst; stolz errechnet der Hingegebene seine Leistungen im Handgranaten-Weit- und -Zielwurf. Der Geländedienst stellt an Körper und Geist die höchsten Anforderungen. Mit ganzer Seele ist er dabei. Die Lesestoffe des Großen Krieges werden in die Tat umgesetzt. Auch ein Nachtalarm vermag das Interesse für Geländedienst nicht zu ersticken. Hervorragende Schulungsmöglichkeiten für Mannschaft und Unterführer. Äußere und innere Abhärtung aller Jungen, so wie die Zeit sie erfordert, wird erreicht. Geländesportlich bedeutet es eine Ergänzung und Entfaltung des Stoffes, der in der HJ zur Zeit aus Mangel an erfahrenen Führern noch nicht an die Jungen gebracht werden kann, wie er es sollte.

14. Dezember 1934. Erlaß betreffend Flaggenehrung bei Schulbeginn und Schulschluß. Die der Schule überwiesenen Schriften (zum Beispiel Hindenburgs Testament) sollen im Unterricht zweckmäßig verwendet werden.

11. März 1935. Beurlaubung von Schülern zu HJ-Lehrgängen läßt sich während der Schulzeit nicht ganz vermeiden. Der Reichssportführer kann dem Turnunterricht an allen Schulen beiwohnen. Die Eltern sind verpflichtet, Beiträge für die Filme zu zahlen, gegebenenfalls sind Zwangsmaßnahmen anzuwenden. Allgemein kann gesagt werden, daß an der Horst-Wessel-Schule schwere Arbeit geleistet wird. Die Räume sind klein, wenig luftig und vollgepfercht.

7. Mai 1935. Dienstbücher der HJ ermöglichen die Kontrolle der Dienstübernahme am Staatsjugendtag durch die Schulen. Dienstversäumnisse sind fortan als Schulversäumnisse zu ahnden. In den kommenden Wochen werden Führer des Jungvolks in den Klassen für den Eintritt in das Jungvolk werben. Bekanntgabe der jüdischen Schuler, die am Staatsjugendtag vom Unterricht befreit sind.

4. September 1935. Ein Lehrplan für Vererbung und Rassenlehre wird zusammengestellt. Vortragsreihe des rassenpolitischen Amtes.

19. August 1936. Das ganze Kollegium führt vom 18. bis 20. September ein weltanschauliches Schulungslager in Bad Sooden-Allendorf durch. Anfang Februar wird ein Schulfest zugunsten des Winterhilfswerks stattfinden, das als großes Schauturnen aller Klassen aufgezogen wird.

25. November 1936. Die Wehrmacht wünscht eine besonders gute Ausbildung auf den Gebieten, die für die Jugend bei ihrer späteren Ausbildung im Heere besonders nötig sind, und die die Arbeit der Wehrmacht hierdurch stark entlasten kann. Der Stoff ist schon zusammengestellt und unverzüglich in die Lehr­pläne einzuarbeiten.

1. September 1937. Durch eine würdige Schulfeier soll der Gedanke an die Auslandsdeutschen besonders gepflegt werden. Auf die Bedeutung des Ahnenpasses für alle Schüler soll hingewiesen werden (eventuelle gemeinsame Aufstellung im Rahmen des Fachunterrichts). Auflösung aller Beamtenvereine wird ver­fügt.

26. Januar 1938. Es wird an die Pflicht des Beamten, der eine Ehe eingehen will, erinnert, die Deutschblütigkeit des künftigen Ehegatten nachzuweisen.

1. März 1938. Der Oberbürgermeister verfügt: Turnhalle und Klassenräume müssen bei Fliegeralarm verlassen werden, da sie nicht abgedunkelt werden können.

21. April 1938. Die Stadtbildstelle überwacht die Vorführungen der Pflichtfilme. Der Regierungspräsident verfügt, lehrplanmäßig die Geschichte des Deutschtums in Österreich fest­zulegen.

6. September 1938. Ministerialerlaß: Aufstellung von Ahnentafeln in den Abschlußklassen. In Fachschaftssitzungen sollen Abänderungen des Lehrplans festgelegt und vermerkt werden, die der Zielsetzung des Dritten Reiches entsprechen. Diese müssen in den Klassenzimmern verfügbar sein.

25. Januar 1939. Ein Vorgesetzter spricht vor dem Kollegium über das deutsche Beamtengesetz. Die Gesetzgebung geht aus vom Berufsbeamtentum als einem Eckpfeiler unseres gesamten

Staates, dessen Ziel die Reinhaltung des deutschen Beamtenkörpers von artfremden, blutfremden Elementen ist. Jede völkische Ordnung bedarf zur Sicherung eines Machtapparates. Das Amt ist etwas unpersönliches, und es bedarf deshalb des Volksgenossen aus Fleisch und Blut, der dieses Amt ausfüllt. Er ist Organ, Vollstreckter des Staates. Die staatsrechtlichen Grundlagen des Dritten Reichs: Wir haben keine Tyrannei, keine Diktatur, sondern den Führerstaat. Adolf Hitler ist Führer des Volkes, des Staates und der Partei. Er ist auch höchster Gesetzgeber. Wir haben keine geschriebene Verfassung, weil der völkische Staat nicht daran denken kann, Gedanken in bestimmte Formen einzuengen, die noch für die nächsten zehn Jahre, nicht aber für die Dauer gültig sind. Doch lassen sich schon jetzt als Grundlage folgende Punkte klar herausstellen: 1. Die Souveränität des Volkes. 2. Der Totalitätsanspruch des Staates. 3. Der Führergedanke. 4. Die Einheit von Partei und Staat. 5. Das Reich als Einheitsstaat. 6. Die völkische Grundordnung (Reinhaltung des deutschen Blutes).

27. November 1939. Verfügung, den Kolonialgedanken in den Unterricht einzubringen. Kolonien sind für ein großes und mächtiges Volk wie das deutsche eine Sache der Ehre und für die Jugend eines solchen Volkes eine Charakterschule.

14. Dezember 1939. Der vorhandene Lehr- und Stoffverteilungsplan ist der wehrgeistigen Erziehung anzupassen. Das ist nicht mehr bloße Erwägung, sondern hat bereits greifbare Formen angenommen. Wehrgeistige Erziehung soll nicht als leere Forderung auf dem Papier stehen, sondern soll für jeden einzelnen Haltungsgrundsatz werden.

3. Mai 1940. Ministerialerlaß: Die Lehrer müssen berichten, wie sie die Luftfahrt im Unterricht fördern: Modellbau von Kriegsflugzeugen im Werken; Fliegerei in der Mathematikstunde, Förderung des Fliegergedankens im Physik- und Chemieunterricht, in Erdkunde und Biologie, Erweckung der Begeisterung fürs Fliegen im fremdsprachlichen Unterricht und die Pflege dieser Begeisterung im Kunstunterricht.

23. Januar 1942. Die Taten der Ritterkreuzträger sollen auf Wunsch des Führers im Unterricht behandelt werden.

18. März 1942. Schulbücherei: Übersetzungen aus der amerikanischen, englischen und französischen Literatur sollen nicht ausgeliehen werden. Das Verbot russischer Literatur bleibt bestehen.

10. November 1942. Ein Erlaß über Mischlinge bestimmt, daß solche ersten Grades grundsätzlich vom Besuch öffentlicher Lehranstalten auszuschließen sind. Lieder, die unbedingt im Unterricht zu behandeln sind: 1. „Siehst Du im Osten das Morgenrot“. 2. „Auf, hebt unsere Fahnen“. 3. „Nur der Freiheit gehört unser Leben“. 4. „Vorwärts nach Osten“.

14. Dezember 1942. In einem vertraulichen Schreiben macht der Schulrat allen Lehrern zur Pflicht, die Schüler in der ersten Woche eines Monats zu ermahnen, Kriegsgefangenen keine Gefälligkeit zu erweisen. Gegenteilige Beobachtungen, besonders politischer Natur, sind sofort zu melden.

5. März 1943. Es ist Aufgabe und Pflicht jedes einzelnen Erziehers, den Willen zum Durchhalten und die Überzeugung vom Endsieg in den Schülern zu wecken und zu festigen.

9. August 1944. Es wird von allen restloser Einsatz im Sinne einer totalen Kriegsführung gefordert.

15. September 1944. Eine Konferenz muß nur zu einem Tagesordnungspunkt einberufen werden. Die Schulaufsicht teilt mit, daß Stundenplanabweichungen infolge kriegsbedingter Notwendigkeit (Fliegeralarm usw.) der Genehmigung durch die Schulaufsichtsbehörde bedürfen.

24. November 1944. Konrektor Z. berichtet über die Verhandlungen mit Schulrat B. über die Verlegung unserer Schule von Gersfeld [wohin die Horst-Wessel-Schule nach dem Bombenangriff auf Kassel verlegt worden war; Anm. der Hrsg.] nach Großenlüder. Der Antrag der Schulleitung auf Nicht-Verlegung nach Großenlüder wegen Gefährdung der Schüler durch Fliegerangriffe ist abgelehnt worden. In einer Besprechung mit Parteivertretern ist verfügt worden, daß diese Ablehnung im Hinblick auf die allgemeine Gesamtlage erfolgt. Zur Zeit ist in den Lagern nicht mehr der Schutz der Jugend das Wichtigste, sondern ihre Beschulung! Den Lehrern wird zur Pflicht gemacht, weder bei den Jungen noch deren Eltern gegen die Verlegung zu arbeiten.

27. März 1945 (noch in Gersfeld). Mittelschullehrer K. verliest eine Anordnung des Bannführers in Fulda, nach der das Lager Gersfeld sofort in das Barackenlager Waldkappel zu verlegen ist. Die Schule wird sich dieser sinnlosen Anordnung nicht fügen, denn: 1. Bei der bedrohlichen Lage ist es unmöglich, die Voraussetzungen für eine Unterbringung der Schüler in Waldkappel zu überprüfen. Auch ist wohl anzunehmen, daß der Feind in die Nähe Waldkappels Vordringen wird, noch ehe der Transport dort eintreffen wird. 2. Der Schulleiter weist darauf hin, daß er die Verantwortung den Eltern gegenüber bei der großen Gefährdung des Transports durch Fliegerangriffe nicht übernehmen kann. Es wird daher beschlossen, die Schüler am folgenden Tag nach der dritten Unterrichtsstunde in ihre Heimat zu entlassen. Mittelschüler W. und H. begleiten die Schüler.

Quelle: Schule im Dritten Reich – Erziehung zum Tod? Eine Dokumentation, herausgegeben von Geert Platner und Schülern der Gerhart-Hauptmann-Schule in Kassel. München: Deutsche Taschenbuch Verlag, 1983, S. 197–203.

Preussisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, „Notwendige Reformen im höheren Schulwesen“ (August 1933), veröffentlicht in German History Intersections, https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-150

Konferenzprotokolle der Horst Wessel Schule (1933–1945), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/deutschland-nationalsozialismus-1933-1945/ghdi:document-5125> [06.11.2024].