Kurzbeschreibung

Was stellt einen Akt des Widerstands dar? Sicherlich kann man auf die Beispiele offener Auflehnung gegen das NS-Regime durch Organisationen wie den Kreisauer Kreis oder die Flugblätter der Weißen Rose an der Ludwig-Maximilians-Universität in München verweisen. Aber was ist mit kleineren Widerstandshandlungen, die man als passiv bezeichnen könnte, wie Witze über Hitler oder das Schwänzen eines Treffens der örtlichen Hitlerjugend nach der Schule? Stellen diese kleinen Handlungen Widerstand dar?
Im Allgemeinen war der offene und aktive Widerstand gegen Hitlers Regierung minimal und die große Mehrheit der Deutschen akzeptierte die zwölfjährige Herrschaft der Nazis. Das bedeutete jedoch nicht, dass es keine Frustrationen und persönlichen Meinungen über die NSDAP oder die Führer und Aktionen des Regimes gab. Dieses Dokument, ein Erlass gegen die Ausbreitung von Jugendcliquen in Deutschland, zeigt, dass die Auflehnung gegen das Regime nicht unbemerkt blieb. Auch wenn dieser Erlass aus dem Jahr 1944 stammt, spiegelt er ein Problem wider, das während der gesamten Zeit der NS-Herrschaft bestand. Einige Jugendliche lehnten die disziplinierten und martialischen Aktivitäten der Hitlerjugend ab und drückten sich vor außerschulischen Programmen, um stattdessen informelle Klubs zu besuchen, in denen Jazz und Swing gehört wurde. Himmler führt diese Aktivitäten jedoch auf den Zerfall einer klaren Familienstruktur während des Krieges zurück, da die Väter an der Front kämpften. Die Schwierigkeit für Historiker/innen besteht hier darin, zu beurteilen, inwieweit diese Aktivitäten, von denen einige leicht als rebellisches Verhalten von Jugendlichen interpretiert werden könnten, eine aktive Auflehnung gegen das Regime und seine rassistischen Ziele darstellten.

Heinrich Himmler, Erlass zur Bekämpfung jugendlicher Cliquen (25. Oktober 1944)

Quelle

Der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei

Berlin, den 25. Oktober 1944.

S VA 3 Nr. 2530/44

Streng vertraulich!

An die Sicherheitspolizei und den SD - Verteiler E.
An die Ämter III und IV des Reichssicherheitshauptamts.
An die Befehlshaber der Ordnungspolizei.

Nachrichtlich:
An die Partei-Kanzlei.
An den Jugendführer des Deutschen Reichs.
An den Herrn Reichsminister der Justiz.
An den Herrn Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung.
An das Oberkommando der Wehrmacht.
An das Hauptamt Ordnungspolizei.
An Abteilung B im Reichsministerium des Innern.
An die Gau(Landes)jugendämter.
An die Höheren SS- und Polizeiführer.

Betrifft: Bekämpfung jugendlicher Cliquen

In allen Teilen des Reiches, insbesondere in größeren Städten, haben sich seit einigen Jahren – und in letzter Zeit in verstärktem Maße Zusammenschlüsse Jugendlicher (Cliquen) gebildet. Diese zeigen zum Teil kriminell-asoziale oder politisch-oppositionelle Bestrebungen und bedürfen deshalb, vor allem im Hinblick auf die kriegsbedingte Abwesenheit vieler Väter, Hitler-Jugend-Führer und Erzieher, einer verstärkten Überwachung.

Allen Zusammenschlüssen Jugendlicher ist daher in Zukunft besondere Aufmerksamkeit zu schenken und gegen sie nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen – soweit erforderlich im Einvernehmen mit den Dienststellen der Hitler-Jugend, der öffentlichen und parteiamtlichen Jugendhilfe (Jugendamt und NSV-Jugendhilfe) und der Justiz vorzugehen.

Bei der Durchführung nachstehender Anordnungen ist stets zu beachten, daß derartige Erscheinungen in der Jugend nicht nur mit polizeilichen Zwangsmitteln und gerichtlichen Strafen bekämpft werden können, sondern daß durch vorbeugende erzieherische Maßnahmen vor allem eine Besserung der Grundhaltung der Jugendlichen angestrebt werden muß.

I. Art und Auftreten der Cliquen

Cliquen sind Zusammenschlüsse Jugendlicher außerhalb der Hitler-Jugend, die nach bestimmten mit der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht zu vereinbarenden Grundsätzen ein Sonderleben führen. Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung oder Interesselosigkeit gegenüber den Pflichten innerhalb der Volksgemeinschaft oder der Hitler-Jugend, insbesondere der mangelnde Wille, sich den Erfordernissen des Krieges anzupassen.

Die Cliquen treten unter den verschiedensten Bezeichnungen auf (Clique, Mob, Blase, Meute, Platte, Schlurf, Edelweißpiraten usw.). Eine feste Organisation ist im allgemeinen nicht vorhanden, der äußere Zusammenschluß ist oft nur lose und ungeregelt. Gelegentlich werden besondere Erkennungszeichen getragen (z. B. Edelweißabzeichen, Totenkopfringe, farbige Nadeln usw.). Mitgliederbeiträge werden meist nicht erhoben, in Einzelfällen dagegen Ausweise ausgestellt. Die Cliquen haben mehr oder weniger feste Treffpunkte und Wirkungsbereiche; sie gehen oft gemeinsam auf Fahrt. Zwischen den einzelnen Cliquen bestehen gelegentlich Querverbindungen, die sowohl freundschaftlicher als auch feindlicher Art sein können.

Den Cliquen gehören vorwiegend junge Burschen, mitunter aber auch Mädchen an.

Zur Cliquenbildung kommt es u. a. durch die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Betrieb, einer Schule oder einer Organisation oder durch das Wohnen im gleichen Bezirk. Zunächst können derartige Zusammenschlüsse ganz harmlos sein (Straßengemeinschaften, Eckensteher usw.), später jedoch, je nach den sich durchsetzenden Überzeugungen und Zielen, eine bedrohliche Entwicklung nehmen. Das ist nicht selten auf das Wirken eines einzelnen asozial oder kriminell ausgerichteten Burschen zurückzuführen, der sich die anderen Jugendlichen gefügig zu machen versteht und ihre harmlose Abenteuerlust unversehens in gefährliche Bahnen lenkt.

Im allgemeinen können innerhalb der einzelnen Cliquen drei verschiedene Grundhaltungen festgestellt werden, wobei jedoch beachtet werden muß, daß die wenigsten Cliquen nur eine dieser Grundhaltungen in ausgeprägter Form zeigen. Vielmehr führt die Betätigung auf einem Gebiet meist auch zu einer Betätigung auf dem anderen. Es sind zu unterscheiden:

Cliquen mit kriminell-asozialer Einstellung. Diese äußert sich in der Begehung von leichten bis zu schwersten Straftaten (Unfug, Raufhändel, Übertretungen von Polizeiverordnungen, gemeinsamen Diebstählen, Sittlichkeitsdelikten – insbesondere auf gleichgeschlechtlicher Grundlage - usw.). Sie bewirkt bei den Cliquenangehörigen eine mehr oder weniger weitgehende, allgemeine charakterliche und sittliche Verwahrlosung.

Cliquen mit politisch-oppositioneller Einstellung, jedoch nicht immer mit fest umrissenem gegnerischen Programm. Sie zeigt sich in allgemein staatsfeindlicher Haltung, Ablehnung der Hitler-Jugend und sonstiger Gemeinschaftspflichten, Gleichgültigkeit gegenüber dem Kriegsgeschehen und betätigt sich in Störungen der Jugenddienstpflicht, Überfällen auf Hitler-Jugend-Angehörige, Abhören ausländischer Sender und Verbreitung von Gerüchten, Pflege der verbotenen bündischen oder anderen Gruppen, ihrer Tradition und ihres Liedgutes usw. Derart eingestellte Jugendliche versuchen häufig, zur eigenen Tarnung oder um die Möglichkeit zersetzenden Einwirkens zu gewinnen, in Parteiorganisationen einzudringen.

Cliquen mit liberalistisch-individualistischer Einstellung, Vorliebe für englische Ideale, Sprache, Haltung und Kleidung (englisch-lässig), Pflege von Jazz- und Hottmusik, Swingtanz usw. Die Angehörigen dieser Cliquen stammen größtenteils aus dem „gehobenen Mittelstand“ und wollen lediglich zu ihrem eigenen Vergnügen, sexuellen und sonstigen Ausschweifungen leben. Dadurch kommen sie sehr bald in scharfen Gegensatz zur nationalsozialistischen Weltanschauung. Anforderungen von Hitler-Jugend, Arbeits- und Wehrdienst widerstreben sie und nähern sich insofern der unter b) charakterisierten Grundhaltung.

Die Angehörigen der Cliquen können nach dem Grad ihrer Beteiligung unterschieden werden in Anführer, aktive Teilnehmer und Mitläufer.

Anführer der Cliquen (Rädelsführer) sind – ohne daß immer eine feste Führergewalt besteht – eine oder mehrere Personen, oft auch Erwachsene oder Ausländer, die durch besondere Intelligenz, Initiative oder Rohheit hervortreten. Sie sind teils in krimineller Hinsicht vorbelastet, teils entstammen sie den früher bündischen oder anderen politisch-oppositionellen Kreisen. Der Hitler-Jugend gehören sie nur selten an. Sind sie aber in der Hitler-Jugend, so versehen sie ihren Dienst dort nicht oder nur unlustig oder sind bereits wegen irgendwelcher Verfehlungen oder Interesselosigkeit aus der Hitlerjugend ausgeschieden worden. Es sind jedoch auch Fälle bekannt, in denen der Hitler-Jugend-Dienst tadellos abgeleistet wurde, um nach außen hin keinen Verdacht zu erregen.

Auch die aktiven Teilnehmer und Mitläufer der Cliquen sind zum Teil kriminell vorbelastet oder entstammen ungeordneten Familienverhältnissen und asozialen Sippen. Andere kommen aber auch aus ordentlichen Familien und sind im Grunde selbst noch ordentlich. Sie sind in vielen Fällen durch ein Mitverschulden der Eltern (Vernachlässigung der Aufsichts- und Erziehungspflichten) oder durch fehlgeleitete Abenteuerlust, romantische Vorstellungen oder andere pubertätsbedingte Gründe zur Teilnahme bewogen worden.

Die Angehörigen einer Clique zeigen häufig einen übereinstimmenden Stil in Kleidung, Haartracht und Benehmen und führen oft Spitznamen, die sie ihrer Vorstellungswelt oder dem von ihnen bejahten Gedankengut entnehmen.

Infolge des Krieges sind viele Jugendliche sich weitgehend selbst überlassen. Die Cliquen üben daher eine starke Anziehungskraft auf sie aus, und zwar auch auf an sich noch ordentliche junge Menschen.

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Quelle: „Bekämpfung jugendlicher Cliquen“. Erlass des Reichsführers SS und Chef der deutschen Polizei vom 25. Oktober 1944, BA, R 22/1177. Abgedruckt in: Detlev Peukert, Die Edelweisspiraten. Protestbewegungen jugendlicher Arbeiter im Dritten Reich. Köln: Bund-Verlag, 1983, S. 123-126.