Quelle
Oberst Gamal Abd el-Nasser kämpft heute den gefährlichsten Kampf seines Lebens. Seit sich der junge Offizier der Politik verschrieb, hat er alle zwei Jahre um die Macht gespielt. 1952 verjagte er den königlichen Kapaun Faruk, 1954 pensionierte er den General-Präsidenten Mohammed Nagib, 1956 überlebte er die anglo-französische Aggression.
Seit am Suez-Kanal die Waffen ruhen und die Uno-Polizei eintrifft, ist die militärische Gefahr für Ägypten und die Welt gebannt. Für den kleinen Pharao im Land der Pyramiden aber hat die zurückflutende Kriegswelle eine größere Drohung bloßgewaschen: die Gefahr eines neuen Staatsstreichs.
Das ist das Geheimnis, dessen Veröffentlichung die strikte ägyptische Staatszensur bisher verhindert hat: Zwischen Oberst Nasser und einer mächtigen Gruppe ehemaliger Revolutionskameraden ist ein Kampf bis aufs Messer entbrannt. Diesmal spielt der Oberst nicht nur um die Macht, sondern auch um seinen Kopf.
Ob sich Ägypten nach Washington oder Moskau orientieren wird, hängt davon ab, wie diese Auseinandersetzung ausgeht. Schemenhaft zeigten sich die Konturen dieses Kampfes während des Abschiedsempfangs für Polens roten Parteichef Gomulka in Moskau, als Nikita Chruschtschews Zunge wieder einmal davonlief:
„Die Westmächte versuchen Nasser zu verfemen, obgleich Nasser kein Kommunist ist. Politisch steht er jenen Mächten näher, die gegen ihn Krieg führen, und er hat sogar Kommunisten ins Gefängnis geworfen.“
Das Staatsoberhaupt der Sowjet-Union, Klementi Woroschilow, versuchte den Redner zu unterbrechen: „Er mußte es.“ Verärgert wandte sich Chruschtschew zu seinem Präsidenten: „Versuch nicht, mir zu helfen, Klementi.“
Die verhafteten Kommunisten, von denen Chruschtschew sprach, werden heute in der Oase El Charge, 200 Kilometer westlich des Niltals auf der Höhe von Luxor, zu Hunderten von Nassers Militärpolizei gefangen gehalten. Gemeinsam mit ihnen sind in der Oase etwa ebenso viele Moslem-Brüder interniert.
In jener Einheitsfront von links bis rechts, deren kleine Funktionäre dort gemeinsam in Haft sitzen, sieht sich Nasser auch in seiner Hauptstadt, unter seinen ehemaligen Mit-Revolutionären, unter seinen Offiziers-Kameraden und in seinem eigenen Kabinett gegenüber.
Seine gefährlichsten Gegenspieler aus diesen verschiedenen Lagern sind:
— Major Chalid Muheddin, einst Mitglied des Revolutionsrates, heute Chef eines staatseigenen Zeitungskonzerns und überzeugter Kommunist.
— Major Salah Salem, einst Mitglied des Revolutionsrates und Propaganda-Minister Nassers, heute Herausgeber einer staatseigenen Tageszeitung mit kommunistischen Tendenzen, und im „Suez“-Sektor Chef der „Befreiungs-Armee“, des ägyptischen „Volkssturms“.
— Ex-Erziehungsminister Gamal el-Din Hussein, einst fanatischer Moslem-Bruder und heute Oberbefehlshaber der gesamten „Befreiungs-Armee“.
— Eine Gruppe von etwa 60 Offizieren der Luftwaffe und der Kavallerie. Diese Offiziere sitzen im Gefängnis oder haben Hausarrest und werden von dem Oberkommandierenden der Luftwaffe angeführt – falls er noch am Leben ist, denn das weiß niemand genau.
Während Oberst Nassers geschlagene Armee am Suez-Kanal den englisch-französischen Invasionseinheiten noch auf Sichtweite gegenüberliegt, nur durch einen dünnen Schleier der Uno-Polizei getrennt, sucht der Staatschef zu verhindern, daß die pro-sowjetische Clique in Kairo die Macht ergreift.
Außenpolitisch ist seine erträumte Vormachtstellung in der arabischen Welt erschüttert. Die englandfreundliche Regierung des Irak hat ihn in der Arabischen Liga aufgefordert, die von Kairo gesteuerte und finanzierte „Mobilisierung der Straße“ einzustellen. Saudi-Arabien, das langsam in seinem Öl ertrinkt, weil es nicht abtransportiert werden kann, fordert von ihm den Ausgleich mit dem Westen. Die ägyptische Propaganda von der „stärksten arabischen Armee“ hat sich in nichts aufgelöst. Im Innern hat die Inflation schon begonnen und der wirtschaftliche Zusammenbruch droht.
Angesichts dieser Lage hat Nasser in drei Konferenzen mit US-Botschafter Hare die Möglichkeiten der Rückkehr Ägyptens zu einer pro-amerikanischen Politik abgetastet. Die Wiederaufnahme des Assuan-Projekts würde Nasser zweifellos von dem ärgsten innerpolitischen Druck befreien und möglicherweise auch dem pro-sowjetischen Wirken des Salah Salem den Boden entziehen.
Nach einer stundenlangen Diskussion mit seinen drei engsten Vertrauten, dem Armee-Oberbefehlshaber und Freund aus gemeinsamen Leutnantstagen, General Amir, dem politischen Kabinettschef und inoffiziellen Außenminister Ali Sabri und dem Aufbau-Minister Baghdadi, hat Nasser mit Tränen in den Augen gestanden, er sehe keine andere Möglichkeit mehr, Ägypten zu retten.
Ob der Ägypter allerdings noch einmal das Steuer seines Landes herumwerfen kann, hängt nicht nur davon ab, ob Präsident Eisenhower und seine Regierung bereit sind, den verlorenen Sohn wieder in Gnaden aufzunehmen, sondern auch davon, wie stark der Oberst heute noch innenpolitisch ist.
Sowohl Oberbefehlshaber General Amir als auch Ali Sabri warnten ihren Staatschef davor, den geplanten Kurswechsel allzu brüsk zu vollziehen. Abd el-Hakim Amir: „Das wäre (für Nassers Gegner) ein Signal zum Losschlagen.“
Als erstes Ergebnis dieser Geheimkonferenz wurden die Regierungszensoren angewiesen, in der ägyptischen Presse das Erscheinen antiamerikanischer Artikel künftig zu unterbinden. Ferner wurden regierungstreue Journalisten beauftragt, Tag für Tag die neue pro-amerikanische Politik tropfenweise den Ägyptern einzutrichtern. Sie sollen jedoch äußerst behutsam vorgehen.
Doch Nasser ist nicht mehr Alleinherrscher in Ägypten. Sein Gegner, der Major Muheddin, betreibt in der staatseigenen Abendzeitung „Misa“ massive sowjetische Propaganda.
Er wird unterstützt von zahlreichen Redakteuren des ägyptischen Staatsrundfunks und des Regierungsblattes „Al Gu-murija“, das dem Revolutionsrats-Mitglied Anwar el Sadat untersteht. Auch der ehemalige Major und derzeitige Chef der Kairoer Oper, Ahmed Hamrusch, rührt in seinem Blatt „Al Hadaf“ ständig die russische Trommel.
Aus anderen Gründen, aber mit nicht geringerem Effekt als der Weltverbesserer Chalid Muheddin, ist ein anderes Mitglied des Revolutionsrates in das östliche Lager übergewechselt: Nassers ehemaliger Propagandaminister Salah Salem. Ihn hat sein fanatischer Briten-Haß, der ihn die ganze westliche Welt mit England identifizieren läßt, in die Abhängigkeit von Moskau geführt. Täglich streitet er in seiner Tageszeitung „Al Schaab“ für die ägyptisch-sowjetische Freundschaft.
Bei ihm, dem ehrgeizigsten unter Nassers Gegnern, wurde denn auch in der vorletzten Woche besonders klar augenscheinlich, welchen gefährlichen Grad die Putsch-Stimmung in Kairo bereits erreicht hat. Als die ägyptischen Zeitungen von den Regierungszensoren angewiesen wurden, eine Rede des amtierenden britischen Regierungschefs Butler aus außenpolitischen Gründen möglichst klein und einspaltig zu erwähnen, setzte sich Salah Salem über dieses Verbot hinweg und ließ sein Blatt mit der Schlagzeile erscheinen „Butler droht Ägypten“. Die Vorhaltungen seines Zensors wischte Salah Salem in echter Revoluzzer-Manier vom Tisch: „Wenn es Gamal (Abd el-Nasser) nicht paßt, dann soll er mich festnehmen lassen.“
Seit ein paar Wochen trägt Chefredakteur Salah Salem wieder Uniform. In Zeiten der nationalen Not wurde er von Nasser zum Befehlshaber des „Suez“- Sektors der sogenannten „Befreiungs- Armee“ ernannt.
Mit der Aufstellung dieser volkssturm-ähnlichen Armee wollte Nasser nicht nur sein militärisches Potential verstärken: Er ließ in die „Befreiungsarmee“ auch alle jene unsicheren Elemente einrücken, die in Krisenzeiten Unruhe ins Land bringen konnten. So hatte er den Mob der Großstädte unter Kontrolle.
Ein deutscher Diplomat, dem ein befreundeter ägyptischer Offizier der regulären Armee die „Befreiungs-Einheiten“ vorführte, die er auszubilden hatte, meinte erschreckt: „Aber die sehen ja aus wie Verbrecher.“ Der ägyptische Major lachte: „Die sehen nicht nur so aus, das sind auch Verbrecher. Umgeben von normalen Truppeneinheiten, werden sie am Holzgewehr ausgebildet, und wenn einmal Scharfschießen ist, stehen meine Sergeanten mit geladener Pistole dabei.“
Kommandeur des zweiten Sektors dieser einmaligen Armee ist der ehemalige Erziehungsminister Gamal el-Din Hussein. Als streng religiöser Moslem ist er alles andere als ein Kommunist. Doch als ehemaliger Anhänger der von Nassers Militärpolizei verbotenen und gejagten Moslem-Bruderschaft möchte auch er lieber mit dem Osten als mit dem Westen paktieren. Ähnlich wie in Europa schließt sich so in Ägypten der politische Kreis von links und rechts.
Kontrollieren Chalid Muheddin, Salah Salem und ihre Freunde durch ihre Zeitungen schon einen großen Teil der öffentlichen Meinung, so befindet sich durch die Führung der „Befreiungsarmee“ auch ein beträchtlicher Machtfaktor in pro-sowjetischen Händen.
Darüber hinaus haben diese Kräfte jedoch auch in der regulären Armee festen Fuß gefaßt. Zunächst einmal hat die Ausstattung der Armee mit sowjetischen Waffen ihre Wirkung auf das Offizierskorps nicht verfehlt. Man ist beeindruckt und außerdem auf sowjetischen Nachschub angewiesen.
Eine massive Gruppe von Nasser-Gegnern besteht vor allem in den beiden entscheidenden Wehrmachtsteilen, der Luftwaffe und der Kavallerie, der die Panzer unterstehen. Die Haltung der Panzerwaffe ist vor allem dem Einfluß Chalid Muheddins zuzuschreiben, der dieser Waffengattung entstammt, die Feindseligkeit gegen den Staatschef in der Luftwaffe hat dagegen militärische Gründe.
Nach der verheerenden Niederlage, die Ägypten im Kampf gegen Israel und die anglo-französischen Invasions-Einheiten erlitt, suchte Nasser nach Schuldigen und glaubte sie in der nachlässigen Luftwaffen-Führung gefunden zu haben. Während er öffentlich behauptete, der Feind habe vornehmlich Holzattrappen vernichet, und in aller Eile ein hölzernes Flugzeug-Modell anfertigen ließ, das er in den Zeitungen abbilden lassen konnte, wurden insgesamt 27 höhere Luftwaffenoffiziere von einem Kriegsgericht zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt, weil sie nicht verhindert hatten, daß fast sämtliche ägyptischen Kriegsmaschinen am Boden vernichtet wurden. Ihr Oberbefehlshaber soll erschossen worden sein — tatsächlich ist er für ausländische Korrespondenten weder zu sprechen noch zu sehen.
In derselben Woche, da Oberst Nasser den amerikanischen Botschafter empfing, fand eine Konferenz von Armee- und Luftwaffen-Offizieren mit Moslem-Brüdern und Kommunisten in Kairos Garden-City statt. Dabei wurden die Möglichkeiten einer „Regierungsumbildung“ erörtert. Ein Mitglied des ehemaligen Revolutionsrates und ein Minister nahmen daran teil. Ihre Namen sind unbekannt.
Unverkennbar ist, daß damit Nassers gefährlichster Kampf begonnen hat.
Quelle: „Signale einer Revolte“, Der Spiegel, 5. Dezember 1956, S. 42-44. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43064774.html